Vorlesung: Die Literatur des 20. Jahrhunderts (WS 2016/17)
Prof. Dr. Albert Meier

Die Literatur des 20. Jahrhunderts – Gottfried Benn: Morgue

Der literarische Expressionismus ist im deutschen Sprachraum auf die 1910er Jahre zu datieren; als Leitgattung kann dabei die Lyrik gelten. Ein wichtiges Merkmal des Expressionismus lässt sich darin sehen, dass der Ekel – eine der intensivsten sinnlichen Empfindungen – künstlerisch eingesetzt wird, indem ästhetische Reize gerade dem Hässlichen abgewonnen werden.

Als richtungsweisend stellt sich in diesem Zusammenhang die Dichtung Arthur Rimbauds (1854-1891) dar: Besonders sein (formal mustergültiges) Sonett Vénus anadyomène (1870) setzt die Ästhetik der Hässlichkeit in drastischer Form um, indem die traditionell mit reiner Schönheit assoziierte Venus in derber Sprache ausgesprochen abstoßend dargestellt wird: Am Ende des Gedichts gipfelt die Provokation des gutbürgerlichen Geschmacks im Reim von ›Venus‹ und ›Anus‹.

Verwendung von Metonymien

Jakob van Hoddis’ (1887-1942) Gedicht Weltende (1911) kann als Beginn der deutschen expressionistischen Lyrik verstanden werden, da es in der Folge vielfach nachgeahmt wird. Auffällig ist das bewusste Abweichen von der gängigen Ausdruckskonvention – besonders in Form einer Unangemessenheit der Redeweise (etwa in den Formulierungen »Dachdecker […] gehn entzwei« und »Meere hupfen«). Ähnlich verfährt Alfred Lichtensteins (1889-1914) Die Dämmerung, wo Kinderwagen ›schreien‹ und Hunde ›fluchen‹. (Gedichte siehe unten.)

Zusammenfassen lassen sich diese Merkwürdigkeiten unter dem Stichwort der Metonymie. Anders als die Metapher, die immer schon Element der Literatur war, gehört die Metonymie nicht zu den genuin poetischen Stilmitteln, da sie als Verschiebung des eigentlich Gemeinten vielmehr typischerweise in der Alltagskommunikation auftritt. Erst der Expressionismus nutzt die Metonymie als poetische Strategie.

Gottfried Benn

Ein zentrales Werk des deutschen Expressionismus ist Gottfried Benns (1886-1956) Gedichtsammlung Morgue und andere Gedichte (1912). Hierin findet sich auch das Gedicht Kleine Aster, welches das – durch Shakespeare begründete – Motiv der ›schönen‹, daher weiblichen Wasserleiche aufgreift. Benn verdreht das Motiv allerdings parodistisch ins Gegenteil, indem seine Leiche weder schön noch weiblich, sondern ein Bierfahrer ist. Auch in Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke wird die Ästhetik nicht durch die Bearbeitung eines schönen Stoffs erzeugt: Ein ›Mann‹ spricht mit ›Brust‹ und ›Schoß‹ die von Krankheit zerstörten Geschlechtsorgane von Frauen an. Benn greift damit auf das Vanitas-Motiv der petrarkistischen Barocklyrik zurück, das Erotik und Tod verknüpft.

Hoddis, Jakob van: Weltende. In: Weltende. Gesammelte Dichtungen. Herausgegeben von Paul Pörtner. Zürich 1958, S. 28.


Lichtenstein, Alfred: Die Dämmerung. In: Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Dichtung. Herausgegeben von Kurt Pinthus. Berlin 1920, S. 11.

Hesiod: Theogonie

»Doch des Uranos Scham, getrennt vom Leib durch das Eisen,
abwärts geworfen vom Land in die laut aufbrandende Meerflut,
trieb übers Wasser lange dahin, bis schließlich ein weißer
Ring von Schaum sich hob um das göttliche Fleisch: Da entwuchs ihm
alsbald die Jungfrau. Zunächst zur heiligen Insel Kythera
wandte sie sich und kam dann zum meerumflossenen Kypros.
Hier, wo der Flut entstiegen die ehrfurchtgebietende, schöne
Himmlische, bettete Gras ihren leichten Tritt. Aphrodite,
schaumentsprossene Göttin, bekränzt mit den Blüten Kytheras,
heißt sie bei Göttern und Menschen, sie, die aus Aphros, dem Schaume,
wuchs. Kythereia jedoch, weil der Insel Kythera sie nahte,
ferner Kyprogenea, der Brandung bei Kypros entstiegen,
Göttin der Zeugung sodann, dem Glied der Zeugung erstanden.«

[Hesiod: Theogonie / Werke und Tage. Griechisch-deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Albert von Schirnding. Mit einer Einführung und einem Register von Ernst Günther Schmidt. Düsseldorf 4/2007, S. 21 (v. 188-200).]


Arthur Rimbaud: Vénus anadyomène

»Comme d’un cercueil vert en fer blanc, une tête
De femme à cheveux bruns fortement pommadés
D’une vieille baignoire émerge, lente et bête,
Avec des déficits assez mal ravaudés;
Puis le col gras et gris, les larges omoplates
Qui saillent; le dos court qui rentre et qui ressort;
Puis les rondeurs des reins semblent prendre l’essor;
La graisse sous la peau paraît en feuilles plates;
L’échine est un peu rouge, et le tout sent un goût
Horrible étrangement; on remarque surtout
Des singularités qu’il faut voir à la loupe…
Les reins portent deux mots gravés: Clara Venus;
─ Et tout ce corps remue et tend sa large croupe
Belle hideusement d’un ulcère à l’anus.«

[Rimbaud, Arthur: Vénus anadyomène. In: Rimbaud, Arthur: Œuvres complètes. Édition établie, présentée et annotée par Antoine Adam. Paris 1972, S. 22.]


»Venus anadyomene

Wie aus ‘nem Weißblechsarg erscheint ein Frauenkopf,
Die braunen Haare dick pomadisiert,
Aus alter Badewanne, träge, dumpf, es tropft,
Die Defizite sind nur mäßig renoviert.
Dann – feist und grau – der Hals, weit klaffen Schulterblätter,
Der kurze Rücken hebt sich, beugt sich wieder vor;
Dann schwingen Lendenwülste sich wie zum Flug empor;
Das Fett unter der Haut erscheint wie flachgeplättet;
Das Rückgrat ist leicht rot, vom Ganzen schwelt ein Duft
Befremdend fürchterlich; doch man bemerkt mit Lust
Die Einzelheiten dort, die nur die Lupe findet …
Und CLARA VENUS ist den Lenden eingraviert;
– Der ganze Leib bewegt sich, spannt den breiten Hintern
Und scheußlich schön erscheint am After ein Geschwür.«

[Übersetzung: Eric Boerner (http://home.arcor.de/berick/illeguan/rimbaud1.htm)]


Hugo von Hofmannsthal: Poesie und Leben

»Es führt von der Poesie kein direkter Weg ins Leben, aus dem Leben keiner in die Poesie. Das Wort als Träger eines Lebensinhaltes und das traumhafte Bruderwort, welches in einem Gedicht stehen kann, streben auseinander und schweben fremd aneinander vorüber, wie die beiden Eimer eines Brunnens.«

[Hofmannsthal, Hugo von: Poesie und Leben. In: Hofmannsthal, Hugo von: Der Brief des Lord Chandos. Schriften zur Literatur, Kunst und Geschichte. Herausgegeben von Mathias Mayer. Stuttgart 2000, S. 36-44, hier S. 39.]


Georg Trakl: Hohenburg

»Leer und erstorben des Vaters Haus,
Dunkle Stunde
Und Erwachen im dämmernden Garten.
Immer denkst du an das weiße Antlitz des Menschen,
Fern dem Getümmel der Zeit.
Über ein Träumendes neigt sich gerne grünes Gezweig;
Kreuz und Abend,
Umfängt den Tönenden mit purpurnen Armen sein Stern
Und das Läuten bläulicher Blumen«

[Trakl, Georg: Hohenburg. In: Trakl, Georg: Sämtliche Werke und Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe mit Faksimiles der handschriftlichen Texte Trakls. Herausgegeben von Eberhard Sauermann und Hermann Zwerschina. 3. Bd. Dichtungen Sommer 1913 bis Herbst 1913.Frankfurt a.M./Basel 1998, S. 294ff.]


Alfred Lichtenstein: Die Dämmerung

»Ein dicker Junge spielt mit einem Teich.
Der Wind hat sich in einem Baum gefangen.
Der Himmel sieht verbummelt aus und bleich,
Als wäre ihm die Schminke ausgegangen.
Auf lange Krücken schief herabgebückt
Und schwatzend kriechen auf dem Feld zwei Lahme.
Ein blonder Dichter wird vielleicht verrückt.
Ein Pferdchen stolpert über eine Dame.
An einem Fenster klebt ein fetter Mann.
Ein Jüngling will ein weiches Weib besuchen.
Ein grauer Clown zieht sich die Stiefel an.
Ein Kinderwagen schreit und Hunde fluchen.«

[Lichtenstein, Alfred: Die Dämmerung. In: Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Dichtung. Herausgegeben von Kurt Pinthus. Berlin 1920, S. 11.]


Wulf Segebrecht

»[Lichtenstein] hat […] die Reihe der kleinen und großen Katastrophen, die auf das ‚Weltende‘ hindeuten, auf eine Grundbefindlichkeit der expressionistischen Generation kurz vor dem Ersten Weltkrieg zurückgeführt: auf die Erfahrung, in einer verrückt gewordenen Welt zu leben.«

[Segebrecht, Wulf: Verrückte Welt. In: Frankfurter Anthologie. 34. Bd. Gedichte und Interpretationen. Herausgegeben von Marcel Reich-Ranicki. Frankfurt a.M. 2011, S. 107-111, hier S. 110f.]


Gottfried Benn: Kleine Aster

»Kleine Aster

Ein ersoffener Bierfahrer wurde auf den Tisch gestemmt.
Irgendeiner hatte ihm eine dunkelhellila Aster
zwischen die Zähne geklemmt.
Als ich von der Brust aus
unter der Haut
mit einem langen Messer
Zunge und Gaumen herausschnitt,
muß ich sie angestoßen haben, denn sie glitt
in das nebenliegende Gehirn.
Ich packte sie ihm in die Brusthöhle
zwischen die Holzwolle,
als man zunähte.
Trinke dich satt in deiner Vase!
Ruhe sanft,
kleine Aster!«

[Benn, Gottfried: Gedichte. Auswahl und Nachwort von Christoph Perels. Stuttgart 1988 (rub 8480), S. 9.]


Filippo Tommaso Marinetti: Manifeste du Futurisme

»[…] une automobile rugissante, qui a l’air de courir sur de la mitraille est plus belle que la Victoire de Samothrace.
[… ein röhrendes Automobil, das auf Schrott zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake.]
Nous voulons glorifier la guerre, – seule hygiène du monde, – le militarisme, le patriotisme, le geste destructeur des anarchistes, les belles Idées qui tuent, et le mépris de la femme.
[Wir wollen den Krieg – alleinige Reinigung der Welt – verherrlichen, den Militarismus, den Patriotismus, die Zerstörungstat der Anarchisten, die schönen, tödlichen Ideen, und die Verachtung der Frau.]
Nous voulons démolir les musées, les bibliothèques, combattre le moralisme, le féminisme et toutes les lâchetés opportunistes et utilitaires.
[Wir wollen die Museen und Bibliotheken demolieren, den Moralismus bekämpfen, den Feminismus und all die opportunistischen und zweckbestimmten Gemeinheiten.]
Car l’art ne peut être que violence, cruauté et injustice.
[Denn die Kunst kann nichts sein als Gewalt, Grausamkeit und Ungerechtigkeit.]«

[Marinetti, Filippo Tommaso: Manifeste du Futurisme. In: Le Figaro, 20. 2. 1909, S. 1.]


Jakob van Hoddis: Weltende

»Weltende.

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei,
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.

Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.«

[Hoddis, Jakob van: Weltende. In: Weltende. Gesammelte Dichtungen. Herausgegeben von Paul Pörtner. Zürich 1958, S. 28.]


William Shakespeare: Hamlet

»LAERTES

Too much of water hast thou, poor Ophelia,
And therefore I forbid my tears. […]«

[Shakespeare, William: Hamlet. Edited by Harold Jenkins. London – New York [1989], S. 375 [Akt IV, Szene 7, v. 184f.].]


Gottfried Benn: Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke

»Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke

Der Mann:

Hier diese Reihe sind zerfallene Schöße
und diese Reihe ist zerfallene Brust.
Bett stinkt bei Bett. Die Schwestern wechseln stündlich.

Komm, hebe ruhig diese Decke auf.
Sieh, dieser Klumpen Fett und faule Säfte,
das war einst irgendeinem Mann groß
und hieß auch Rausch und Heimat.

Komm, sieh auf diese Narbe an der Brust.
Fühlst du den Rosenkranz von weichen Knoten?
Fühl ruhig hin. Das Fleisch ist weich und schmerzt nicht.

Hier diese blutet wie aus dreißig Leibern.
Kein Mensch hat so viel Blut.
Hier dieser schnitt man
erst noch ein Kind aus dem verkrebsten Schoß.

Man läßt sie schlafen. Tag und Nacht. – Den Neuen
sagt man: Hier schläft man sich gesund. – Nur Sonntags
für den Besuch läßt man sie etwas wacher.

Nahrung wird wenig noch verzehrt. Die Rücken
sind wund. Du siehst die Fliegen. Manchmal
wäscht sie die Schwester. Wie man Bänke wäscht.

Hier schwillt der Acker schon um jedes Bett.
Fleisch ebnet sich zu Land. Glut gibt sich fort.
Saft schickt sich an zu rinnen. Erde ruft.«

[Benn, Gottfried: Gedichte. Auswahl und Nachwort von Christoph Perels. Stuttgart 1988 (rub 8480), S. 13f.]


Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau: Vergänglichkeit der Schönheit

»Vergänglichkeit der schönheit. Sonnet

ES wird der bleiche todt mit seiner kalten hand
Dir endlich mit der zeit umb deine brüste streichen/
Der liebliche corall der lippen wird verbleichen;
Der schultern warmer schnee wird werden kalter sand/
Der augen süsser blitz/ die kräffte deiner hand/
Für welchen solches fällt/ die werden zeitlich weichen/
Das haar/ das itzund kan des goldes glantz erreichen/
Tilgt endlich tag und jahr als ein gemeines band.
Der wohlgesetzte fuß/ die lieblichen gebärden/
Die werden theils zu staub/ theils nichts und nichtig werden/
Denn opfert keiner mehr der gottheit deiner pracht.
Diß und noch mehr diß muß endlich untergehen/
Dein hertze kan allein zu aller zeit bestehen/
Dieweil es die natur aus diamant gemacht.«

[Hoffmannswaldau, Christian Hoffmann von: Vergänglichkeit der Schönheit. In: Gedichte des Barock. Herausgegeben von Ulrich Maché und Volker Meid. Stuttgart 1980 (rub 9975), S. 274.]