Vorlesung: Die Literatur des 20. Jahrhunderts (WS 2016/17)
Prof. Dr. Albert Meier

Die Literatur des 20. Jahrhunderts – Heiner Müller: Die Hamletmaschine

Heiner Müller (1929-1995) ist neben Christa Wolf (1929-2011) der einzige DDR-Autor von Weltgeltung gewesen. Er hat sich als Marxist bezeichnet, diese Selbstcharakterisierung aber nur in Relation zu anderen Weltauffassungen (namentlich dem Christentum) gelten lassen. Hierin zeigt sich seine dialektische Argumentationsweise, die ihn mit Bertolt Brecht (1898-1956) – als dessen legitimer Nachfolger Müller bezeichnet werden kann – verbindet. Müller, der vor allem als Dramatiker hervorgetreten ist, führt in seinem Schreiben Brechts Konzept der Entdramatisierung des Dramas zum einen fort, geht zum anderen in Reaktion auf Samuel Beckett (1906-1989) aber weit darüber hinaus.

Becketts Schreiben ist deutlich radikaler als Brechts: Die Stücke des Iren weisen keine realistischen Protagonisten und damit auch keine Handlung mehr auf, sondern leben primär von Wortspielen und grotesken Situationen. Müller greift dies auf und gestaltet seine Theaterstücke im Sinne eines ›postdramatischen‹ (nicht länger auf ›Handlung‹ basierenden) Theaters als drastische Radikalisierung des Epischen Theaters à la Brecht.

Collage-Technik

Müllers Schreiben zeichnet sich durch eine strikte Collage-Technik aus. Das Material wird dabei in seiner Heterogenität präsentiert, um das Publikum ästhetische Erfahrungen in größtmöglicher Intensität machen zu lassen, indem allzu vordergründige Sinnzusammenhänge zerstört werden. In diesem Sinne distanziert sich Müller auch vom Konzept des Lehrstücks: Es sollen keinesfalls Wahrheiten angeboten, sondern eingeschliffene Denk-, Wahrnehmungs- und Reaktionsweisen vielmehr problematisiert werden.

Die Kunst hat demzufolge die Aufgabe, Muster des Denkens kritisch zu hinterfragen, und muss daher wehtun bzw. unangenehm sein. Entsprechend steht immer die Form, d. h. die Art und Weise der Vermittlung, im Zentrum.

Die Hamletmaschine

Das radikalste und rätselhafteste Stück Müllers ist Die Hamletmaschine (entstanden 1977). Es umfasst nur wenige Seiten Text, der nur aus losem Wortmaterial besteht, das eine Theatergruppe erst auf eigene Weise ausgestalten muss (häufig etwa wird im Text nicht zwischen Regieanweisung und Figurenrede unterschieden). Der Dialog, das entscheidende Element des traditionellen Theaters, ist in Die Hamletmaschine komplett getilgt: Es liegen lediglich ›monologische Blöcke‹ vor, die Sprechern zugeordnet sind, ohne dass diese in der herkömmlichen Weise als ›Personen‹ agieren würden.

Ein Echo der Dramentradition ist allein darin zu sehen, dass es sich um fünf monologische Blöcke handelt, wodurch die konventionelle Fünfaktigkeit gewissermaßen zitiert wird.

Als historischer Hintergrund des Stücks muss die Erfahrung der Gewalt im ›Deutschen Herbst‹ 1977 berücksichtigt werden: Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, Entführung und gewaltsame Befreiung eines Flugzeuges der Lufthansa, Selbstmorde der RAF-Protagonisten im Gefängnis Stuttgart-Stammheim. Zugleich verarbeitet Müller in Die Hamletmaschine auch eine private Tragödie: den Selbstmord seiner Frau Inge.

Die Hamletmaschine reflektiert im Rückgriff auf Shakespeares Drama Hamlet (1602), das selbst wiederum als Bearbeitung des antiken Orest-Stoffes zu verstehen ist (Orestes steht vor dem tragischen Dilemma, seine Mutter töten zu müssen, um seinen Vater rächen zu können), das Grundproblem des ›Intellektuellen‹, handeln zu müssen und dabei zu wissen, dass dieses Handeln notwendig falsch ist.

Das Einmontieren von Vanitas-Motiven und zeitgenössischen Gräueltaten (insbesondere die Ermordung Sharon Tates durch die Manson-Family 1969) macht Die Hamletmaschine einerseits zu einer generellen Auseinandersetzung mit Gewalt, Tod, Verzweiflung und Trauer; andererseits wird mit den im Stalinismus verratenen Versprechungen des Sozialismus abgerechnet (z.B. durch Anspielungen auf den Ungarn-Aufstand 1956). Trotz der düsteren Thematik soll das Stück jedoch als »Komödie« begriffen werden, d. h. der Fokus hat auf der Groteske zu liegen.

Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer 1. Interviews und Gespräche. Frankfurt am Main 3/1996, S. 115.

Heiner Müller: Gespräche:

»›Ich bin Marxist.‹ − »Ich würde das nie von mir aus sagen können, ohne das Gefühl zu haben, ich lüge oder ich mache irgendwas, was mir nicht adäquat ist. Wenn ich gefragt werde, sind Sie Christ oder Marxist, würde ich natürlich sagen, ich bin Marxist. Aber es ist wirklich eine Frage der Alternative. Aber wenn ich gefragt werde, sind Sie Marxist, kann ich nicht sagen Ja. Wenn es eine Alternative gibt, bin ich immer Marxist. Das ist eigentlich, glaube ich, die einzige Antwort, und sie ist, glaube ich, eine marxistische Antwort. Es gibt keine marxistische Position, außer über eine Negation. Und auf diesem Umweg könnte ich dann sagen: Ich bin Marxist. Aber nicht ohne diesen Umweg …«

[Müller, Heiner: Werke 10: Gespräche 1. 1965-1987. Herausgegeben von Frank Hörnigk. Redaktionelle Mitarbeit: Kristin Schulz, Ludwig Haugk, Christian Hippe und Ingo Way. Frankfurt am Main 2008, S. 321.]


Heiner Müller: Gespräche:

»Handke ist sicher wichtig als Anregung. Und ein paar Stücke sind richtig gut. Andererseits wüßte ich nicht, warum man sie bei uns spielen sollte. Ich würde da überhaupt keine Funktion sehen, auch überhaupt keine Möglichkeit von Kommunikation mit einem Publikum bei uns. Für mich ist nur Beckett wichtig, weil er ein Extrem ist. Alles, was die westdeutsche Dramatik macht, bleibt unter Beckett. Und da kann ich schon das Original nehmen; da habe ich mehr davon.«

[Müller, Heiner: Werke 10: Gespräche 1. 1965-1987. Herausgegeben von Frank Hörnigk. Redaktionelle Mitarbeit: Kristin Schulz, Ludwig Haugk, Christian Hippe und Ingo Way. Frankfurt am Main 2008, S. 95.]


Heiner Müller: Eine Autobiographie:

»Er [Brecht] hat nicht verstanden, daß der Protagonist im Kontext DDR verschwunden war, daß es keinen Protagonisten gab in diesem andern Kontext. Er konnte Dramatik ohne Protagonisten nicht denken. Auch sein Fabelbegriff war letztlich gebunden an die Präsenz eines Protagonisten. Die Stücke laufen alle über Protagonisten, insofern war das letztlich noch bürgerliche Dramaturgie.«

[Müller, Heiner: Werke 9: Eine Autobiographie. Herausgegeben von Frank Hörnigk. Redaktionelle Mitarbeit: Christian Hippe, Kristin Schulz, Ludwig Haugk und Ingo Way. Frankfurt am Main 2005, S. 180.]


Heiner Müller: Gespräche:

»[…] ich setze den Brecht immer voraus.«

[Müller, Heiner: Werke 10: Gespräche 1. 1965-1987. Herausgegeben von Frank Hörnigk. Redaktionelle Mitarbeit: Kristin Schulz, Ludwig Haugk, Christian Hippe und Ingo Way. Frankfurt am Main 2008, S. 76.]


Heiner Müller: Gesammelte Irrtümer 1:

»Ich glaube, daß dies wirklich ein Problem ist, daß das Theater von neuen Technologien etwa der Bildenden Kunst noch viel zu wenig übernommen oder verwendet hat. Daß zum Beispiel die Collage als Methode im Theater noch kaum wirklich angewendet wird.«

[Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer 1. Interviews und Gespräche. Frankfurt am Main 3/1996, S. 21.]


Heiner Müller: Schriften:

»Ich werde nicht die Daumen drehn, bis eine (revolutionäre) Situation vorbeikommt. Aber Theorie ohne Basis ist nicht mein Metier, ich bin kein Philosoph, der zum Denken keinen Grund braucht, ein Archäologe bin ich auch nicht, und ich denke, daß wir uns vom LEHRSTÜCK bis zum nächsten Erdbeben verabschieden müssen. Die christliche Endzeit der MASSNAHME ist abgelaufen, die Geschichte hat den Prozeß auf die Straße vertagt, auch die gelernten Chöre singen nicht mehr, der Humanismus kommt nur noch als Terrorismus vor, der Molotowcocktail ist das letzte bürgerliche Bildungserlebnis. Was bleibt: einsame Texte, die auf Geschichte warten. Und das löchrige Gedächtnis, die brüchige Weisheit der Massen, vom Vergessen gleich bedroht. Auf einem Gelände, in dem die LEHRE so tief vergraben und das außerdem vermint ist, muß man gelegentlich den Kopf in den Sand (Schlamm Stein) stecken, um weiterzusehen. Die Maulwürfe oder der konstruktive Defaitismus.«

[Müller, Heiner: Werke. Herausgegeben von Frank Hörnigk. Redaktionelle Mitarbeit: Kristin Schulz und Ludwig Haugk. Band 8: Schriften. Frankfurt am Main 2005, S. 187.]


Heiner Müller: Eine Autobiographie:

»Es gibt keine Lösung, das ist das menschliche Paradox. Aber mit Kunst kannst du dem nicht ausweichen in Moral, jedenfalls nicht in die gängige sozial eingebundene Moral. Kunst ist vielleicht auch ein Versuch der Tierwerdung im Sinne von Deleuzes und Kafkas Buch über Kafka. Ich fürchte, wir müssen es so dunkel lassen. Gegenstand der Kunst ist jedenfalls, was das Bewußtsein nicht mehr aushält, dieses schwer zu ertragende Paradox der menschlichen Existenz, die Unerträglichkeit des Seins. Das erklärt auch die Anfälligkeit von Intellektuellen, gerade in Europa, für Ideologie. Denn Ideologie bietet die Möglichkeit, die Last, die du eigentlich tragen müßtest, abzuwerfen.«

[Müller, Heiner: Werke 9: Eine Autobiographie. Herausgegeben von Frank Hörnigk. Redaktionelle Mitarbeit: Christian Hippe, Kristin Schulz, Ludwig Haugk und Ingo Way. Frankfurt am Main 2005, S. 247.]


Heiner Müller: Gesammelte Irrtümer 2:

»Und was fast nie inszeniert wurde, zumindest nicht in Deutschland, ist die Selbstkritik des Intellektuellen. Das habe ich noch in keiner Inszenierung von HAMLETMASCHINE gesehen.«

[Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer 2. Interviews und Gespräche. Herausgegeben von Gregor Edelmann und Renate Ziemer. Frankfurt am Main 2/1996, S. 103.]


Heiner Müller: Selbstkritik:

»Meine Herausgeber wühlen in alten Texten | Manchmal wenn ich sie lese überläuft es mich kalt Das | Habe ich geschrieben IM BESITZ DER WAHRHEIT | Sechzig Jahre vor meinem mutmaßlichen Tod | Auf dem Bildschirm sehe ich meine Landsleute | Mit Händen und Füßen abstimmen gegen die Wahrheit | Die vor vierzig Jahren mein Besitz war | Welches Grab schützt mich vor meiner Jugend«

[Müller, Heiner: Selbstkritik. In: Müller, Heiner: Werke 1: Die Gedichte. Herausgegeben von Frank Hörnigk. Frankfurt am Main 1998, S. 336.]


Heiner Müller: Schriften:

»Am Verschwinden des Menschen arbeiten viele der besten Gehirne und riesige Industrien. Der Konsum ist die Einübung der Massen in diesen Vorgang, jede Ware eine Waffe, jeder Supermarkt ein Trainingscamp. Das erhellt die Notwendigkeit der Kunst als Mittel, die Wirklichkeit unmöglich zu machen.«

[Müller, Heiner: Werke. Herausgegeben von Frank Hörnigk. Redaktionelle Mitarbeit: Kristin Schulz und Ludwig Haugk. Band 8: Schriften. Frankfurt am Main 2005, S. 218.]


Heiner Müller: Gesammelte Irrtümer 2:

»Alles, was man in Deutschland macht, muß kriegerisch sein, muß als Krieg verstanden werden. Und Theater ist nicht möglich in Deutschland, außer als Krieg gegen das Publikum. Es gibt keine demokratische Tradition, weder bei uns noch in der Bundesrepublik. Das Publikum versteht nur Krieg. Und da gibt es eine schwache Hoffnung, daß man das Publikum genügend angreift, so daß es sich wehrt. Das ist die einzige Hoffnung.«

[Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer 2. Interviews und Gespräche. Herausgegeben von Gregor Edelmann und Renate Ziemer. Frankfurt am Main 2/1996, S. 20.]


Friedrich Schiller an Johann Wolfgang Goethe, 25. 6. 1799:

»Das einzige Verhältniß gegen das Publicum, das einen nicht reuen kann, ist der Krieg, und ich bin sehr dafür, daß auch der Dilettantism mit allen Waffen angegriffen wird.«

[Friedrich Schiller an Johann Wolfgang Goethe, 25. 6. 1799. In: Schiller, Friedrich: Briefwechsel. Schillers Briefe 1794-1795. Herausgegeben von Günter Schulz. Weimar 1958 (Schillers Werke. Nationalausgabe. Siebenundzwanzigster Band), S. 64.]


Heiner Müller: Gesammelte Irrtümer 2:

»Ich glaube, das ist die wesentliche Funktion von Kunst überhaupt, Wert- und Denksysteme in Frage zu stellen, sie unter Umständen auch zu sprengen. Ganz simpel formuliert: Die Funktion von Kunst ist es, die Wirklichkeit unmöglich zu machen. Sicher kann es auch Kunst mit einer Bestätigungsfunktion geben, ich allerdings kann sie nicht machen oder nur mehr übersetzt, und man braucht sehr viel länger, um darin die Bestätigung zu finden.«

[Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer 2. Interviews und Gespräche. Herausgegeben von Gregor Edelmann und Renate Ziemer. Frankfurt am Main 2/1996, S. 24.]


»Natürlich kann man ein Pferd vor ein Taxi spannen oder ein Taxi vor ein Pferd. In beiden Fällen ist das nicht effektiv. Aber genau das wird meistens getan mit politischer Kunst: ein Pferd wird vor ein Auto gespannt. Und dann sind die Leute überrascht, wenn es nicht richtig fährt. Außerdem lebt das Pferd dabei nicht lange.«

[Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer 2. Interviews und Gespräche. Herausgegeben von Gregor Edelmann und Renate Ziemer. Frankfurt am Main 2/1996, S. 97.]


»Wir müssen uns klar werden, was im Zusammenhang mit Kunst politisch ist. Das sind doch nicht einfach die Inhalte. Vielleicht hat das Godard am besten formuliert. Er sagte, die Aufgabe bestehe nicht darin, politische Filme zu machen, sondern Filme politisch zu machen. Also, es geht um die Behandlung des Stoffes, um die Form, nicht um den Inhalt.«

[Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer 2. Interviews und Gespräche. Herausgegeben von Gregor Edelmann und Renate Ziemer. Frankfurt am Main 2/1996, S. 97.]


»Die dümmste Haltung ist ja überhaupt, wenn man was verstehen will. Kein Publikum der Welt versteht ein Stück von Shakespeare im Theater. Ums Verstehen gehts ja gar nicht. Es geht ja darum, daß man was erfährt, oder was erlebt. Und hinterher versteht man vielleicht was.«

[Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer 2. Interviews und Gespräche. Herausgegeben von Gregor Edelmann und Renate Ziemer. Frankfurt am Main 2/1996, S. 170.]


»Wenn ich weiß, was ich sagen will, sage ich es. Dazu muß ich nicht schreiben.«

[Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer 2. Interviews und Gespräche. Herausgegeben von Gregor Edelmann und Renate Ziemer. Frankfurt am Main 2/1996, S. 100.]


Heiner Müller: Gespräche:

»Übrigens entstand der Titel HAMLETMASCHINE ganz zufällig. Es gab den Plan, alles von mir drucken zu lassen, was mit Shakespeare zu tun hatte. Da habe ich verzweifelt einen Titel gesucht, und wir kamen auf ›Shakespeare Factory‹, weil ich das so schick fand. Dann gab es noch dieses Stück, für das ich noch keinen Titel hatte, und weil ich irgendeine Illustration aus einem Band von Duchamp drin haben wollte, ergab sich automatisch der Titel HAMLETMASCHINE. Das wurde dann so interpretiert: HamletMaschine = H. M. = Heiner Müller. Diese Auffassung habe ich mit Sorgfalt verbreitet.«

[Müller, Heiner: Werke 10: Gespräche 1. 1965-1987. Herausgegeben von Frank Hörnigk. Redaktionelle Mitarbeit: Kristin Schulz, Ludwig Haugk, Christian Hippe und Ingo Way. Frankfurt am Main 2008, S. 235.]


Heiner Müller: Eine Autobiographie:

»Und dann entstand sehr schnell dieses Neun-Seiten-Stück HAMLETMASCHINE, wie ein Schrumpfkopf. Was ich schon in Bulgarien gemerkt hatte, war die Unmöglichkeit, mit dem Stoff zu Dialogen zu kommen, den Stoff in die Welt des sogenannten real existierenden Sozialismus- Stalinismus zu transportieren. Es gab da keine Dialoge mehr. Ich habe immer wieder zu Dialogen angesetzt, es ging nicht, es gab keinen Dialog, nur noch monologische Blöcke, und das Ganze schrumpfte dann zu diesem Text. Auch das Thema Budapest 1956 gab keinen Dialog her, und die Geschichte der RAF, auch ein Material für dieses Stück, war ein einziger rasender Monolog. […] Die Zerstörung des bürgerlichen Lebenszusammenhangs, der Ausstieg aus dem bürgerlichen Leben und der Einstieg in die Illegalität. Das hat mich interessiert. Dazu kam die Erinnerung an Charles Manson. Das Schlußsatz ist von Susan Atkins, Mitglied seiner ›family‹, eine der Mörderinnen von Sharon Tate, die berühmt war für ihre ›scaring phonecalls‹. Einer war in ›Life‹ zitiert. Das hatte ich zufällig in Bulgarien gelesen, in Bulgarien war ich auf Zufälle angewiesen, was Lektüre betrifft. Der Satz war: ›Wenn sie mit Fleischermessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen.‹«

[Müller, Heiner: Werke 9: Eine Autobiographie. Herausgegeben von Frank Hörnigk. Redaktionelle Mitarbeit: Christian Hippe, Kristin Schulz, Ludwig Haugk und Ingo Way. Frankfurt am Main 2005, S. 230f.]


Heiner Müller: Gespräche:

»Vom LOHNDRÜCKER bis zur HAMLETMASCHINE ist alles eine Geschichte, ein langsamer Prozeß von Reduktion. Mit meinem letzten Stück HAMLETMASCHINE hat das ein Ende gefunden. Es besteht keine Substanz für einen Dialog mehr, weil es keine Geschichte mehr gibt. Ich muß eine andere Möglichkeit finden, die Probleme der Restaurationsphase darzustellen.«

[Müller, Heiner: Werke 10: Gespräche 1. 1965-1987. Herausgegeben von Frank Hörnigk. Redaktionelle Mitarbeit: Kristin Schulz, Ludwig Haugk, Christian Hippe und Ingo Way. Frankfurt am Main 2008, S. 133.]


Heiner Müller: Schriften:

»Wer ist Hamlet? Ich habe keine Ahnung. Aber ich erinnere mich an Ferdinand Freiligraths Gedicht aus der Zeit des Vormärz. Da heißt es: Deutschland ist Hamlet. Ich glaube, daß dieser Satz heute wieder aktuell ist. Die Intelligenz ist verunsichert. Die Utopie, die Perspektive ist immer schwerer auszumachen. Die Ausläufer der Bewegung von 1968 sind schon nicht mehr wahrzunehmen. Und nun sucht man nach einer Position zwischen den Zeiten, den Epochen. In einer solchen Lage bietet sich Hamlet immer an als eine Figur, in die man seine Problem projizieren kann. Man weiß einfach nicht, welche Entscheidungen man jetzt treffen soll. In dem, was man nicht will, ist man sich ziemlich einig. Aber eine schlüssige Position gibt es nicht. Und das ist die Situation von Hamlet.«

[Müller, Heiner: Werke. Herausgegeben von Frank Hörnigk. Redaktionelle Mitarbeit: Kristin Schulz und Ludwig Haugk. Band 8: Schriften. Frankfurt am Main 2005, S. 292.]


Heiner Müller: Eine Autobiographie:

»Und wenn auf der Männerebene nichts weitergeht, muß den Frauen etwas einfallen. Und so weiter. Lenin hat immer gesagt, die Bewegung kommt aus den Provinzen, und die Frau ist die Provinz des Mannes.«

[Müller, Heiner: Werke 9: Eine Autobiographie. Herausgegeben von Frank Hörnigk. Redaktionelle Mitarbeit: Christian Hippe, Kristin Schulz, Ludwig Haugk und Ingo Way. Frankfurt am Main 2005, S. 231.]


Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer 1:

»Mein Hauptinteresse beim Stückeschreiben ist es, Dinge zu zerstören. Dreißig Jahre war Hamlet eine Obsession für mich, also schrieb ich einen kurzen Text, HAMLETMASCHINE, mit dem ich versuchte, Hamlet zu zerstören. Die deutsche Geschichte war eine andere Obsession, und ich habe versucht, diese Obsession zu zerstören, diesen ganzen Komplex. Ich glaube, mein stärkster Impuls ist der, Dinge bis auf ihr Skelett zu reduzieren, ihr Fleisch und ihre Oberfläche herunterzureißen. Dann ist man mit ihnen fertig.«

[Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer 1. Interviews und Gespräche. Frankfurt am Main 3/1996, S. 102.]


»Wenn man die HAMLETMASCHINE nicht als Komödie begreift, muß man mit dem Stück scheitern.«

[Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer 1. Interviews und Gespräche. Frankfurt am Main 3/1996, S. 115.]


Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie:

»Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist […]«

[Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Vollständige Neuausgabe. Hg. von Karl-Maria Guth. Berlin 2014, S. 9f.]


Heiner Müller: Schriften:

»Das Wappentier der Befreiung ist der Maulwurf.«

[Müller, Heiner: Werke. Herausgegeben von Frank Hörnigk. Redaktionelle Mitarbeit: Kristin Schulz und Ludwig Haugk. Band 8: Schriften. Frankfurt am Main 2005, S. 289.]


»Die erste Gestalt der Hoffnung ist die Furcht, die erste Erscheinung des Neuen der Schrecken.«

[Müller, Heiner: Werke. Herausgegeben von Frank Hörnigk. Redaktionelle Mitarbeit: Kristin Schulz und Ludwig Haugk. Band 8: Schriften. Frankfurt am Main 2005, S. 212.]


Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte (These IX):

»Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. | Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsamin die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.«

[Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte (These IX). In: Benjamin, Walter: Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe. Band 19: Über den Begriff der Geschichte. Herausgegeben von Gérard Raulet. Berlin 2010, S. 98.]


Heiner Müller: Der glücklose Engel:

»Hinter ihm schwemmt Vergangenheit an, schüttet Geröll auf Flügel und Schultern, mit Lärm wie von begrabnen Trommeln, während vor ihm sich die Zukunft staut, seine Augen eindrückt, die Augäpfel sprengt wie ein Stern, das Wort umdreht zum tönenden Knebel, ihn würgt mit seinemAtem. Eine Zeit lang sieht man noch sein Flügelschlagen, hört in das Rauschen die Steinschläge vor über hinter ihm niedergehn, lauter je heftiger die vergebliche Bewegung, vereinzelt, wenn sie langsamer wird. Dann schließt sich über ihm der Augenblick: auf dem schnell verschütteten Stehplatz kommt der glücklose Engel zur Ruhe, wartend auf Geschichte in der Versteinerung von Flug Blick Atem. Bis das erneute Rauschen mächtiger Flügelschläge sich in Wellen durch den Stein fortpflanzt und seinen Flug anzeigt.«

[Müller, Heiner: Der glücklose Engel. In: Müller, Heiner: Werke. Herausgegeben von Frank Hörnigk. Band 1: Die Gedichte. Frankfurt/M. 1998, S. 53.]


Heiner Müller: Gespräche:

»Oder was Kunst/Literatur unterscheidet von Politik: Politik hat zu tun mit dem Möglichen und Literatur mit dem Unmöglichen. Literatur ist unmöglich.«

[Müller, Heiner: Werke 10: Gespräche 1. 1965-1987. Herausgegeben von Frank Hörnigk. Redaktionelle Mitarbeit: Kristin Schulz, Ludwig Haugk, Christian Hippe und Ingo Way. Frankfurt am Main 2008, S. 485.]