Vorlesung: Die Literatur des 20. Jahrhunderts (WS 2016/17)
Prof. Dr. Albert Meier

Die Literatur der 20. Jahrhunderts – Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras

Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs (bzw. nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs) steht die literarische Entwicklung in der BRD unter grundsätzlich anderen Vorzeichen als in der DDR. In der DDR wird der Literaturbetrieb staatlich gelenkt: Der Schriftsteller gilt als Erzieher, der das Engagement seiner Leser für den Sozialismus stärken soll.

Schreiben in der DDR

Als Leitprinzip der DDR-Literatur fungiert der ›Sozialistische Realismus‹, der sich formal am Standard des 19. Jahrhunderts orientiert und daher jedes ›moderne‹ Schreiben (Montage) als ›formalistisch‹ ablehnt; die auf ›typische‹ Figuren in ›typischen‹ Situationen verpflichtete Literatur des Sozialistischen Realismus hat demgegenüber entschieden ›volkstümlich‹ zu sein, um auch von der breiten Bevölkerung verstanden zu werden. Auf diese Weise soll gewährleistet werden, dass die Literatur einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung einer sozialistischen Gesellschaft leistet, indem sie ›optimistisch‹ an beispielhaften Handlungen vorführt, wie die gesellschaftliche Umgestaltung gelingt. Als Referenztext der DDR- Literatur lässt sich Christa Wolfs (1929-2011) kurzer Roman Der geteilte Himmel (1963) ansehen, der als Parabel auf die Differenz von Ost- und Westdeutschland – konkret als Rechtfertigung des Mauerbaus 1961 – zu lesen ist.

Literatur der BRD

In der marktorientierten BRD suchen die – zumeist schon in der Weimarer Republik aktiven, zwischenzeitlich in der ›Inneren Emigration‹ gewesenen – Autoren hingegen wieder Anschluss an die Moderne der 1920er und 1930er Jahre. Im Vordergrund steht eine pessimistische Grundhaltung, die allerdings nicht nur politisch motiviert war, sondern auch ästhetisch (Melancholie ist per se poetischer als Optimismus).

Die zeitgenössischen Schlagworte für die frühe Nachkriegsliteratur im Westen sind ›Trümmerliteratur‹ und ›Kahlschlag‹. Diese Literatur scheint durch den expliziten Verzicht auf Schönheit in kunstvoller Sprache eine bloße Bestandsaufnahme der tristen Lebensrealität sein zu wollen. Tatsächlich muss die betonte Verweigerung von Poesie jedoch selbst als poetisches Mittel verstanden werden: Günter Eichs (1907-1972) Gedicht Inventur als Inbegriff des ›Kahlschlags‹ verdeutlicht, dass selbst ostentativ schmucklose Sprache einen hohen ästhetischen Anspruch haben kann (zum einen spricht Inventur primär vom Schreiben und ist somit poetologisch ausgerichtet; zum anderen bilden die sieben Strophen mit je vier kurzen Versen ein Sonett, da sich je zwei Verse zu einem Vers in Normallänge zusammenfassen lassen).

Wolfgang Koeppen

Ein wichtiger Vertreter der Nachkriegsliteratur der BRD ist Wolfgang Koeppen (1906-1996). Seine literarischen Wurzeln liegen in der Moderne der Weimarer Republik. Im Vordergrund steht bei ihm die Autonomie des Kunstwerks, dem die aktuelle Lebenswelt zum Material dient. Sein Montage-Roman Tauben im Gras (1951) spielt in der Gegenwart, in der (West-)Deutschland bereits vom ›Wirtschaftswunder‹ geprägt ist (wahrscheinlich 1951). Erzählt wird ein einziger Tag in einer amerikanisch besetzten Großstadt (nach dem Muster Münchens).

Da es keine echten ›Hauptfiguren‹ gibt, weist der Roman auch keine durchgängige Handlung auf, sondern ist in zahllose Erzählfragmente mit vielfach wechselnden Figuren zersplittert (Künstler, Schriftsteller, Ärzte, US-Soldaten, Kinder usw.). Die Fragmente sind allerdings durch Assoziationsstrukturen (Wort- oder Motiv- Wiederholungen) miteinander verknüpft. Auffällig ist zudem, dass vielfach Zeitungsschlagzeilen in den Text einmontiert sind.

Insofern ist Koeppens Roman augenfällig vor allem an zwei prominente Vorbilder angelehnt: Aus James Joyces Ulysses (1922) übernimmt Koeppen den Handlungsrahmen (1 Tag in einer europäischen Großstadt) sowie die Technik des ›stream of consciousness‹; das Einmontieren von Schlagzeilen sowie die Zersplitterung der Textabschnitte ist hingegen John Dos Passos’ Manhattan Transfer (1925) entlehnt. Koeppen kombiniert also die Innovationen von Ulysses und Manhattan Transfer und macht daraus ein eigenständiges neues Werk.

Wolfgang Koeppen: Der geborene Leser, für den ich mich halte:

»So durfte ich jung die Carceri von Piranesi betrachten und bin in diesem bewundernswerten grausamen Labyrinth verirrt geblieben; gefesselt, geängstigt und unbegreiflich entzückt. Es war die Gewalt des Ästhetischen, des Möglichen, des Spiels.«

[Koeppen, Wolfgang: Der geborene Leser, für den ich mich halte. In: Koeppen, Wolfgang: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Dagmar von Briel und Hans-Ulrich Treichel. Band V: Berichte und Skizzen II. Frankfurt am Main 1986, S. 322-329, hier S. 323.]


Walter Ulbricht: Referat auf dem V. Parteitag der SED, Juli 1958:

»[…] in Staat und Wirtschaft ist die Arbeiterklasse bereits Herr. Jetzt muß sie auch die Höhen der Kultur stürmen und von ihnen Besitz ergreifen.«

[Ulbricht, Walter: Referat auf dem V. Parteitag der SED, Juli 1958. In: Dokumente zur Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik der SED. Herausgegeben von Elimar Schubbe. Stuttgart 1972, S. 536.]


Friedrich Engels an Minna Kautsky, 26. 11. 1885:

»Realismus bedeutet, meines Erachtens, außer der Treue des Details die getreue Wiedergabe typischer Charaktere in typischen Umständen.«

[Friedrich Engels an Minna Kautsky, 26. 11. 1885. In: Marx, Karl / Engels, Friedrich: Über Kunst und Literatur. Berlin 1950, S. 105.]


Honecker, Erich: Schlusswort bei der 4. Tagung des Zentralkomitees der SED, Dezember 1971:

»Wenn man von der festen Position des Sozialismus ausgeht, kann es meines Erachtens auf demGebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben. Das betrifft sowohl die Fragen der inhaltlichen Gestaltung als auch des Stils – kurz gesagt: die Fragen dessen, was man die künstlerische Meisterschaft nennt.«

[Honecker, Erich: Schlusswort bei der 4. Tagung des Zentralkomitees der SED, Dezember 1971. In: Rüß, Gisela (Hrsg.): Dokumente zur Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik der SED. Band 2: 1971-1974. Stuttgart 1976, S. 287.]


Christa Wolf: Der geteilte Himmel:

»Wenn er hiergeblieben wäre, und sei es durch Zwang: Heute müßte er ja versuchen, mit allem fertig zu werden.«

[Wolf, Christa: Der geteilte Himmel. Erzählung. Halle/S. 1967, S. 193.]


»›Den Himmel wenigstens können sie nicht zerteilen‹, sagte Manfred spöttisch. | Den Himmel? Dieses ganze Gewölbe von Hoffnung und Sehnsucht, von Liebe und Trauer? ›Doch‹, sagte sie leise. ›Der Himmel teilt sich zuallererst.‹«

[Wolf, Christa: Der geteilte Himmel. Erzählung. Halle/S. 1967, S. 271.]


»Rita macht einen großen Umweg durch die Straßen und blickt in viele Fenster. Sie sieht, wie jeden Abend eine unendliche Menge an Freundlichkeit, die tagsüber verbraucht wurde, immer neu hervorgebracht wird. Sie hat keine Angst, daß sie leer ausgehen könnte beim Verteilen der Freundlichkeit. Sie weiß, daß sie manchmal müde sein wird, manchmal zornig und böse. | Aber sie hat keine Angst. | Das wiegt alles auf: Daß wir uns gewöhnen, ruhig zu schlafen. Daß wir aus dem vollen leben, als gäbe es übergenug von diesem seltsamen Stoff Leben. | Als könnte er nie zu Ende gehen.«

[Wolf, Christa: Der geteilte Himmel. Erzählung. Halle/S. 1967, S. 288f.]


Wolfgang Brussig: Helden wie wir:

»Die Geschichte des Mauerfalls ist die Geschichte meines Pinsels.«

[Brussig, Wolfgang: Helden wie wir. Roman. Berlin 1995, S. 7.]


Heinrich Böll: Bekenntnis zur Trümmerliteratur:

»Wir schrieben also vom Krieg, von der Heimkehr und dem, was wir im Krieg gesehen hatten und bei der Heimkehr vorfanden: von Trümmern; das ergab drei Schlagwörter, die der jungen Literatur angehängt wurden: Kriegs-, Heimkehrer- und Trümmerliteratur.«

[Böll, Heinrich: Bekenntnis zur Trümmerliteratur, In: Böll, Heinrich: Werke. Kölner Ausgabe. Band 6: 1952-1953. Herausgegeben von Árpád Bernáth und Annamária Gyurácz. Köln 2007, S. 58-62, hier S. 58.]


Wolfgang Weyrauch: Nachwort zu Tausend Gramm:

»Die Methode der Bestandsaufnahme. Die Intention der Wahrheit. Beides um den Preis der Poesie.«

[Weyrauch, Wolfgang: Nachwort. In: Weyrauch, Wolfgang (Hg.): Tausend Gramm. Hamburg/Stuttgart 1949, S. 175-183, hier S. 181.]


Eich, Günter: Inventur:

»Dies ist meine Mütze,
dies ist mein Mantel, 
hier mein Rasierzeug
im Beutel aus Leinen.

Konservenbüchse:
Mein Teller, mein Becher,
ich hab in das Weißblech
den Namen geritzt.

Geritzt hier mit diesem
kostbaren Nagel,
den vor begehrlichen
Augen ich berge.

Im Brotbeutel sind
ein Paar wollene Socken
und einiges, was ich
niemand verrate,

so dient es als Kissen
nachts meinem Kopf.
Die Pappe hier liegt
zwischen mir und der Erde.

Die Bleistiftmine
lieb ich am meisten:
Tags schreibt sie mir Verse,
die nachts ich erdacht.

Dies ist mein Notizbuch,
dies meine Zeltbahn,
dies ist mein Handtuch,
dies ist mein Zwirn.«

[Eich, Günter: Inventur. In: Deine Söhne, Europa. Gedichte deutscher Kriegsgefangener. Herausgegeben von Hans Werner Richter. München 1947, S. 17.]


Wolfgang Koeppen: »Einer der schreibt«:

»Ich bin selbstverständlich auch ein Schriftsteller, wenn ich nicht schreibe, ich bin sogar ein Schriftsteller, wenn ich nachts im Bett liege, besonders wenn ich schlaflos liege.«

[Koeppen, Wolfgang: »Einer der schreibt«. Gespräche und Interviews. Herausgegeben von Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt am Main 1995, S. 59.]


Marcel Reich-Ranicki: Wolfgang Koeppen:

»In einer Zeit, in der noch das Kriegserlebnis die Thematik beherrschte, attackierte Koeppen in den Tauben im Gras die bundesrepublikanische Welt, in deren Leben er bereits – man schrieb das Jahr 1951 – jene Kennzeichen entdeckte, die erst mehrere Jahre später deutlich sichtbar werden sollten.«

[Reich-Ranicki, Marcel: Wolfgang Koeppen. Aufsätze und Reden. Frankfurt am Main 1998, S. 17f. (zuerst in DIE ZEIT, 8. 9. 1961).]


Wolfgang Koeppen: Das Treibhaus:

»Die Brücke bebte unter der Fahrt der unwirklich aussehenden Straßenbahnen, und es war Keetenheuve, als bebe der frei schwebende Bogen der Brücke unter der Last seines Körpers, unter demAufsetzen seiner eilenden Schritte. […]. Aus dem ländlichen Garten stieg eine Rakete auf, zerplatzte, fiel, ein sterbender Stern. Keetenheuve faßte das Brückengeländer, und wieder fühlte er das Beben des Steges. […] Der Abgeordnete war gänzlich unnütz, er war sich selbst eine Last, und ein Sprung von dieser Brücke machte ihn frei.«

[Koeppen, Wolfgang: Werke. Herausgegeben von Hans-Ulrich Treichel. Band 5: Das Treibhaus. Herausgegeben von Hans-Ulrich Treichel. Berlin 2010, S. 184.]


Wolfgang Koeppen: Der Tod in Rom:

»Die Zeitungen meldeten noch am Abend Judejahns Tod, der durch die Umstände eine Weltnachricht geworden war, die aber niemand erschütterte.«

[Koeppen, Wolfgang: Werke. Herausgegeben von Hans-Ulrich Treichel. Band VI: Der Tod in Rom. Roman. Berlin 2015, S. 204.]


Thomas Mann: Der Tod in Venedig:

»Und noch desselben Tages empfing eine respektvoll erschütterte Welt die Nachricht von seinem Tode.«

[Mann, Thomas: Der Tod in Venedig. In: Mann, Thomas: Frühe Erzählungen Frankfurt/Main 1981 (Gesammelte Werke in Einzelbänden. Frankfurter Ausgabe. Herausgegeben von Peter de Mendelssohn), S. 559-641, hier S. 641.]


Wolfgang Koeppen: Von Myrons Kuh und des Gelehrten Affen:

»Es ist gleichgültig, ob das Tun im Filmdrama mit dem Tun im Leben sich deckt; es ist gleichgültig, wenn das Geschehen im Film dramaturgisch-künstlerisch richtig sitzt. | Es gibt für den Film keine anderen Gesetze als die ihm gemäßen dramaturgischen und ästhetischen. Das ist eine Regel, der jedes Kunstwerk und jeder Künstler in seiner Weise untertan ist. Das Wort ›Ganz wie im Leben‹ ist und bleibt Dilettantenlob.«

[Koeppen, Wolfgang: Von Myrons Kuh und des Gelehrten Affen. In: Koeppen, Wolfgang: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Dagmar von Briel und Hans-Ulrich Treichel. Band 6: Essays und Rezensionen. Frankfurt/Main 1986, S. 57-60, hier S. 59.]


Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras:

»Die Nachrichten wärmen nicht. SPANNUNG, KONFLIKT, VERSCHÄRFUNG, BEDROHUNG. Am Himmel summen die Flieger. Noch schweigen die Sirenen. Noch rostet ihr Blechmund. Die Luftschutzbunker wurden gesprengt; die Luftschutzbunker werden wieder hergerichtet. Der Tod treibt Manöverspiele. BEDROHUNG, VERSCHÄRFUNG, KONFLIKT, SPANNUNG. Komm-du-nun-sanfter-Schlummer. Doch niemand entflieht seiner Welt. Der Traum ist schwer und unruhig. Deutschland lebt im Spannungsfeld, östliche Welt, westliche Welt, zerbrochene Welt, zwei Welthälften, einander feind und fremd, Deutschland lebt an der Nahtstelle, an der Bruchstelle, die Zeit ist kostbar, sie ist eine Spanne nur, eine karge Spanne, vertan, eine Sekunde zum Atemholen, Atempause auf einem verdammten Schlachtfeld. || ENDE«

[Koeppen, Wolfgang: Tauben im Gras. Roman. Stuttgart – Hamburg 1951, S. 270.]


»Behude konnte in drei Stehausschänke gehen. Von draußen sahen sie alle gleich aus. Es waren die gleichen Behelfsbauten, sie hatten die gleichen Flaschen im Fenster, die gleichen Preise auf der Tafel stehen. Der eine Ausschank gehörte einem Italiener, der andere einem alten Nazi und der dritte einer alten Dirne. Behude wählte den Ausschank des alten Nazis. […] ›Dieser Nazi ist auch schlapp und leer‹, dachte er. Er bestellte noch einen Wodka. ›Nun wird’s bald wieder losgehen‹, sagte der Nazi. ›Was denn?‹ fragte Behude. ›Nun, Tschindradada,‹ sagte der Nazi. Er tat, als ob er eine Pauke schlüge. ›Sie haben wieder Oberwasser‹, dachte Behude, ›was auch geschehen mag, es treibt sie nach oben‹.«

[Koeppen, Wolfgang: Tauben im Gras. Roman. Stuttgart – Hamburg 1951, S. 213.]


Wolfgang Koeppen: Vorwort zur zweiten Auflage von Tauben im Gras:

»Es war die Zeit, in der die neuen Reichen sich noch unsicher fühlten, in der die Schwarzmarktgewinner nach Anlagen suchten und die Sparer den Krieg bezahlten. Die neuen deutschen Geldscheine sahen wie gute Dollars aus, aber man traute doch mehr den sachwerten, und viel Bedarf war nachzuholen, der Bauch war endlich zu füllen, der Kopf war von Hunger und Bombenknall noch etwas wirr, und alle Sinne suchten Lust, bevor vielleicht der dritte Weltkrieg kam. Diese Zeit, den Urgrund unseres Heute, habe ich geschildert, und ich möchte nun annehmen, sie allgemeingültig beschrieben zu haben, denn man glaubte, in dem Roman Tauben im Gras einen Spiegel zu sehen, in dem viele, an die ich beim Schreiben nicht gedacht hatte, sich zu erkennen wähnten, und manche, die ich nie in Verhältnissen und Bedrückungen vermutet hatte, wie dieses Buch sie malt, fühlten sich zu meiner Bestürzung von mir gequält, der ich nur als Schriftsteller gehandelt hatte und nach dem Wort Georges Bernanos’ ›das Leben in meinem Herzen filterte, um die geheime, mit Balsamund Gift erfüllte Essenz herauszuziehen‹.«

[Koeppen, Wolfgang: Vorwort zur zweiten Auflage [von Tauben im Gras]. In: Koeppen, Wolfgang: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Dagmar von Briel und Hans-Ulrich Treichel. Band 2: Romane II. Frankfurt am Main 1986, S. 9.]


Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras:

»ich treibe dunkele süße Onanie, das Selbst, die Existenz und die Philosophie der Existenz, Millionärin, war-mal, es-war-einmal, die Reisen der Großmutter, Wirkliche, Geheime Kommerzienrätin, Onanie dunkele süße, Auers Gasglühlicht summt, wenn-sie-alles-in-Gold-angelegt-hätten, Beginn der Sozialversicherung, ich-sollte-kleben-für-mein-Alter, der junge Kaiser, Billioneninflation, hätten-sie-in-Gold, Soforthilfeabgabe fällig, das war Nizza, Onanie, die Promenade des Anglais, die Reiherhüte, in Kairo Shepheards Hotel, Mena House Hotel vor den Pyramiden, die Nierenkur des Wirklichen Geheimen Kommerzienrates, Austrocknung der Verschlammung, Wüstenklima, Photopostkarte, carte postale, Wilhelm-und-Lieschen auf dem Kamelritt, die Ahnen, Luxor das hundertorige Theben, die Nekropolis, das Totenfeld, die Totenstadt, ich-sterbe-jung, Admet der junge Gide in Biskra l’Immoraliste Liebe ohne Namen, der Wirkliche Geheime starb pompes funèbres, Millionen, Millionen-nicht-in-Gold, die Abwertungshypothek, der Ammontempel, Ramses irgendeiner imSchutt, die Sphinx Cocteau: ich-liebe, wer-liebt-mich?, das Gen der Kern des befruchteten Eis, brauch’ mich nicht vorzusehen-zwölfmal regelmäßig, der Mond, kein Arzt, Behude-ist-neugierig, alle-Ärzte-lüstern, mein Schoß, Körper-gehört-mir, kein Leiden, süße-dunkle-Schuftigkeit –«

[Koeppen, Wolfgang: Tauben im Gras. Roman. Stuttgart – Hamburg 1951, S. 38f.]


»›[…] unfähig, feige, überflüssig bin ich: ein deutscher Schriftsteller.‹«

[Koeppen, Wolfgang: Tauben im Gras. Roman. Stuttgart – Hamburg 1951, S. 65.]


»Philipp kam mit der Zeit nicht zurecht.«

[Koeppen, Wolfgang: Tauben im Gras. Roman. Stuttgart – Hamburg 1951, S. 20.]


»[…] die Bohème war tot, sie war schon gestorben, als das Romanische Café in Berlin von Bomben getroffen brannte, sie war schon tot, als der erste SA-Mann das Café betrat, sie war genaugenommen schon vor Hitler von der Politik erwürgt worden. Der Züricher Bohemien Lenin hatte, als er nach Rußland abreiste, die Tür des Literatencafés für die nächsten Jahrhunderte geschlossen.«

[Koeppen, Wolfgang: Tauben im Gras. Roman. Stuttgart/Hamburg 1951, S. 89.]


»Gertrude Stein und Hemingway waren Edwin gleichermaßen unsympathisch, er hielt sie für Literaten, Boulevardiers, zweitrangige Dichter, und sie wieder gaben ihm seine Nichtachtung reichlich zurück und nannten ihn ihrerseits einen Epigonen und sublimen Nachäffer der großen toten Dichtung der großen und toten Jahrhunderte. Wie Tauben im Gras, sagte Edwin, die Stein zitierend, und so war doch etwas von ihr Geschriebenes bei ihm haften geblieben, doch dachte er weniger an Tauben im Gras, als an Tauben auf dem Markusplatz in Venedig, wie Tauben im Gras betrachteten gewisse Zivilisationsgeister die Menschen, indem sie sich bemühten, das Sinnlose und scheinbar Zufällige der menschlichen Existenz bloßzustellen, den Menschen frei von Gott zu schildern, um ihn dann frei im Nichts flattern zu lassen, sinnlos, wertlos, frei und von Schlingen bedroht, dem Metzger preisgegeben, aber stolz auf die eingebildete, zu nichts als Elend führende Freiheit von Gott und göttlicher Herkunft. Und dabei, sagte Edwin, kenne doch schon jede Taube ihren Schlag und sei jeder Vogel in Gottes Hand. Die Priester spitzten die Ohren. Bearbeitete Edwin ihren Acker? War er nichts als ein Laienprediger? […] Philipp dachte ›jetzt wendet er sich Goethe zu, es ist fast deutsch, wie Edwin sich jetzt auf Goethe beruft, auf das Gesetz-nach-dem-wir-angetreten, und er sucht wie Goethe die Freiheit in diesem Gesetz: er hat sie nicht gefunden.‹ Edwin hatte sein letztes Wort gesprochen. Die Lautsprecher knirschten und knackten. Sie knirschten und knackten weiter, als Edwin geendet hatte, und das wortlose Knirschen und Knacken in ihren Zahnlosen Mündern rieß die Zuhörer aus Schlaf, Traum und abwegigem Denken.«

[Koeppen, Wolfgang: Tauben im Gras. Roman. Stuttgart – Hamburg 1951, S. 254f.]


»Susanne, die Kirke und die Sirenen und vielleicht auch Nausikaa war, hielt Odysseus umschlungen. Zur Hot-Weise des Musikmeisters glitten sie wie ein Leib im Tanz über das Parkett, wie eine vierfüßige sich windende Schlange. […] Die Schlange mit den vier Beinen, die so geschmeidig sich windende Schlange wurde von allen bewundert. Nie würden sie sich aus dieser Umschlingung lösen. Die Schlange hatte vier Beine und zwei Köpfe, ein weißes und ein schwarzes Gesicht, aber nie würden die Köpfe sich gegeneinander wenden, nie die Zungen gegeneinander geifern: sie würden sich nie verraten, die Schlange war ein Wesen gegen die Welt.«

[Koeppen, Wolfgang: Tauben im Gras. Roman. Stuttgart – Hamburg 1951, S. 240f.]


Gertrude Stein: Four Saints in Three Acts:

»Pigeons on the grass alas.«

[Stein, Gertrude: Four Saints in Three Acts. In: Stein, Gertrude: Selected Writings. Herausgegeben von Carl van Vechten. New York 1946, S. 509-540, hier S. 533.]


Wolfgang Koeppen: Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises:

»Ich gehöre zu einem Stand, der vor allen Anderen berufen ist und sich nicht scheuen darf, wenn es sein muss, ein Ärgernis zu geben.«

[Koeppen, Wolfgang: Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises. In: Koeppen, Wolfgang: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Dagmar von Briel und Hans-Ulrich Treichel. Band V: Berichte und Skizzen II. Frankfurt am Main 1986, S. 253-261, hier S. 257. ]


Wolfgang Koeppen: Er schreibt über mich, also bin ich:

»Der Schreibende steht als Beobachter des Lebens mit seinen wechselnden Gefühlen, seinem ehrlichen Entsetzen, dem mannigfaltigen Mitleiden, dem hilflosen Zorn, der bösen Verzweiflung an einem archimedischen Punkt außerhalb des Sozialgefüges. Er ist verführt, die Welt aus den Angeln zu heben, und sich der Aussichtslosigkeit bewusst.«

[Koeppen, Wolfgang: Er schreibt über mich, also bin ich. In: Koeppen, Wolfgang: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Dagmar von Briel und Hans-Ulrich Treichel. Band V: Berichte und Skizzen II. Frankfurt am Main 1986, S. 349-351, hier S. 349.]