Vorlesung: Die Literatur des 20. Jahrhunderts (WS 2016/17)
Prof. Dr. Albert Meier

Die Literatur des 20. Jahrhunderts – Michel Houellebecq: Les particules élémentaires

Michel Houellebecq (*1956) ist einer der weltweit wichtigsten Autoren des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Erste Bekanntheit erlangt er 1991 durch die Veröffentlichung eines Essays über das Schreiben H.P. Lovecrafts (ein Verfasser von Grusel-Erzählungen, der u.a. als Vorläufer von Stephen King gelten kann).

1994 folgt Houellebecqs erster Roman Extension du domaine de la lutte (›Ausweitung der Kampfzone‹), der die – gewöhnlich vorbehaltlos als positive Errungenschaft verstandene – sexuelle Befreiung problematisiert: So wie der wirtschaftliche Liberalismus zu massiver Ungleichheit führt, habe auch der sexuelle Liberalismus einen erbitterten Konkurrenzkampf und daraus resultierende Ungerechtigkeit zur Folge.

2010 wird Hoellebecq für La carte et le territoire (›Karte und Gebiet‹) mit dem Prix Goncourt, dem wichtigsten französischen Literaturpreis, ausgezeichnet

Autorinszenierung

Houellebecq ist nicht nur eine bedeutende Figur der Literaturgeschichte, sondern auch der Zeitgeschichte. Aufsehen hat er besonders 2015 erregt, als er mit Soumission einen Zukunftsroman veröffentlicht, in dem Frankreich seit 2022 von einem islamischen Staatspräsidenten regiert wird (am Tag des Erscheinens (7. 1. 2015) hat das Attentat auf die Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo stattgefunden, deren aktuelle Ausgabe auf dem Titelblatt Houellebecq zeigte).

Houellebecq betreibt eine intensive Inszenierung seiner Autorpersönlichkeit und widerspricht in seinem Verhalten Roland Barthes’ These vom ›Tod des Autors‹: Houellebecq hat in einem Film sich selbst entführen lassen, wird in einem eigenen Roman bestialisch ermordet, ist als Rockstar auf Tournee gegangen, gibt zahlreiche Interviews und bestätigt in seinem Verhalten damit Pierre Bourdieus ›Feld‹-Theorie, nach welcher der Autor auch als reale Person präsent und auffällig sein muss, um sich auf dem ›literarischen Feld‹ gegen die Konkurrenz durchzusetzen.

Les particules élémentaires

Der Roman Les particules élémentaires ist der vielleicht repräsentativste literarische Text am Ende des 20. Jahrhunderts: Die Ende der 1950er Jahre geborenen Michel und Bruno haben unter ihrer Mutter zu leiden, die sich rein auf ihre sexuelle Selbstverwirklichung konzentriert und darüber ihre Söhne vernachlässigt. Die Halbbrüder entwickeln sich in entgegengesetzte Richtungen: Während Michel ein nobelpreisverdächtiger Naturwissenschaftler wird, der sich ganz der Forschung widmet, ist Brunos einziges Ziel die sexuelle Befriedigung. Als der im Grunde asexuelle Michel im Alter vor 30 Jahren erstmals mit seiner Jugendliebe Annabelle zusammen ist, wird diese Lebensperspektive durch Annabelles Selbstmord aufgrund ihrer Krebserkrankung jäh zerstört. Auch für Bruno endet die (körperliche) Liebe trist: Seine Partnerin wird durch einen Sexunfall an den Rollstuhl gefesselt und bringt sich in der Folge um (Bruno geht daraufhin in eine psychiatrische Anstalt und verschwindet aus der Handlung).

Beide Brüder machen also die Erfahrung, dass Liebe und Tod eng verbunden sind. Michel erkennt bei seinen Forschungen die Ursache für alles Leiden der Menschheit in der geschlechtlichen Fortpflanzung. Er hinterlässt Notizen über Klon-Techniken, die eine Überwindung dieses Zustandes und die Erreichung von Unsterblichkeit theoretisch möglich machen. Nach Michels Verschwinden werden diese Ideen von seinem Schüler Hubczejak in die Tat umgesetzt. Zwar gibt es warnende Stimmen, die beklagen, dass durch die Praxis des Klonens alle Individualität verschwindet, doch sieht Hubczejak gerade darin die Chance, Schmerz und Leid zu tilgen. So entsteht eine neue Spezies von Klonen, welche die Sorgen der alten Spezies (Krankheit, Tod) ebenso wenig noch kennt wie den Konkurrenzkampf (es gibt ja keine Individuen mit Individualinteressen mehr). Die Erzählinstanz, welche die Geschichte im Rückblick aus der Perspektive des ausgehenden 21. Jahrhunderts, als die letzten ›Menschen‹ aussterben, beschreibt, bekräftigt den Segen dieser Entwicklung.

Der Roman ist als negative Utopie zu lesen: Der Preis für die Unsterblichkeit ist der Verzicht auf Individualität und damit auf das, was uns als Menschen ausmacht. Außerdem verrät der Satz »Wir kennen nicht ihre Freuden«, dass mit dem Übergang zur neuen Spezies auch ein Verlust der Lebensqualität einhergeht. Houellebecq distanziert sich insofern von der ›postmodernen‹ Ironie und steht mit seinem Werk stattdessen für einen neuen moralistischen Ernst, wie er um 2000 vielfach zu beobachten ist.

Houellebecq, Michel: Elementarteilchen. Übersetzt von Uli Wittmann. 2. Auflage. Köln 1999, S. 335.

Michel Houellebecq: Extension du domaine de la lutte:

»En système économique parfaitement libéral, certains accumulent des fortunes considérables ; d’autres croupissent dans le chômage et la misère. En système sexuel parfaitement libéral, certains ont une vie érotique variée et excitante ; d’autres sont réduits à la masturbation et la solitude. Le libéralisme économique, c’est l’extension du domaine de la lutte, son extension à tous les âges de la vie et à toutes les classes de la société. De même, le libéralisme sexuel, c’est l’extension du domaine de la lutte, son extension à tous les âges et à toutes les classes de la société.«

[Houellebecq, Michel: Extension du domaine de la lutte [1994]. In: Houellebecq, Michel: Houellebecq 1991-2000. [Paris] 2015, S. 255-418, hier S. 357f.]


Michel Houellebecq: Ausweitung der Kampfzone:

»In einem völlig liberalen Wirtschaftssystem häufen einige wenige beträchtliche Reichtümer an; andere verkommen in der Arbeitslosigkeit und im Elend. In einem völlig liberalen Sexualsystem haben einige ein abwechslungsreiches und erregendes Sexualleben; andere sind auf Masturbation und Einsamkeit beschränkt. Der Wirtschaftsliberalismus ist die erweiterte Kampfzone, das heißt, er gilt für alle Altersstufen und Gesellschaftsklassen. Ebenso bedeutet der sexuelle Liberalismus die Ausweitung der Kampfzone, ihre Ausdehnung auf alle Altersstufen und Gesellschaftsklassen.«

[Houellebecq, Michel: Ausweitung der Kampfzone. Übersetzer. Reinbek bei Hamburg 2000, S. 108f.]


Michel Houellebecq: Extension du domaine de la lutte:

»Nous sommes loin des Hauts de Hurlevent, c’est le moins qu’on puisse dire. La forme romanesque n’est pas conçue pour peindre l’indifférence, ni le néant ; il faudrait inventer une articulation plus plate, plus concise et plus morne.«

[Houellebecq, Michel: Extension du domaine de la lutte [1994]. In: Houellebecq, Michel: Houellebecq 1991-2000. [Paris] 2015, S. 255-418, hier S. 297f.]


Michel Houellebecq: Ausweitung der Kampfzone:

»Von den Sturmhöhen haben wir uns weit entfernt, das ist das Mindeste, was man sagen kann. Die Romanform ist nicht geschaffen, um die Indifferenz oder das Nichts zu beschreiben; man müsste eine plattere Ausdrucksweise erfinden, eine knappere, ödere Form.«

[Houellebecq, Michel: Ausweitung der Kampfzone. Übersetzt v. Leopold Federmair. Reinbek bei Hamburg 2000, S. 46f.]


Michel Houellebecq: Les particules élémentaires:

»Le 1er juillet 1998 tombait un mercredi.«

[Houellebecq, Michel: Les particules élémentaires. Roman. Paris 1998, S. 17.]


Michel Houellebecq: Elementarteilchen:

»Der 1. Juli 1998 fiel auf einen Mittwoch.«

[Houellebecq, Michel: Elementarteilchen. Übersetzt von Uli Wittmann. 2. Auflage. Köln 1999, S. 13.]


André Breton: Manifeste du Surréalisme:

»[Paul Valéry] m’assurait qu’en ce qui le concerne, il se refuserait toujours à écrire: La marquise sortit à cinq heures.«

[Breton, André: Manifeste du Surréalisme. Paris 1962, S. 19.]


Michel Houellebecq: Les particules élémentaires:

»Ce livre est avant tout l’histoire d’un homme, qui vécut la plus grande partie de sa vie en Europe occidentale, durant la seconde moitié du XXe siècle. Généralement seul, il fut cependant, de loin en loin, en relation avec d’autres hommes. Il vécut en des temps malheureux et troublés. Le pays qui lui avait donné naissance basculait lentement, mais inéluctablement, dans la zone économique des pays moyen-pauvres ; fréquemment guettés par la misère, les hommes de sa génération passèrent en outre leur vie dans la solitude et l’amertume. Les sentiments d’amour, de tendresse et de fraternité humaine avaient dans une large mesure disparu ; dans leurs rapports mutuels ses contemporains faisaient le plus souvent preuve d’indifférence, voire de cruauté.«

[Houellebecq, Michel: Les particules élémentaires. Roman. Paris 1998, S. 9.]


Michel Houellebecq: Elementarteilchen:

»Dieses Buch ist in erster Linie die Geschichte eines Mannes, der während der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gelebt und den größten Teil seines Lebens in Westeuropa verbracht hat – im allgemeinen allein, wenn auch ab und zu im Kontakt mit anderen Menschen. Er hat in einer unseligen Zeit voller Wirren gelebt. Das Land, in dem er zur Welt kam, glitt langsam aber unvermeidlich in die Wirtschaftszone der halbarmen Länder ab; die Menschen seiner Generation waren häufig vom Elend bedroht und verbrachten darüber hinaus ihr Leben einsam und verbittert. Gefühle wie Liebe, Zärtlichkeit und Brüderlichkeit waren weitgehend verschwunden; in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen erwiesen sich seine Zeitgenossen sehr häufig als gleichgültig oder sogar grausam.«

[Houellebecq, Michel: Elementarteilchen. Übersetzt von Uli Wittmann. 2. Auflage. Köln 1999, S. 7.]


Michel Houellebecq: Les particules élémentaires:

»[…] | Pourtant, nous ne méprisons pas ces hommes ; | Nous savons ce que nous devons à leurs rêves, | […].«

[Houellebecq, Michel: Les particules élémentaires. Roman. Paris 1998, S. 12.]


Michel Houellebecq: Elementarteilchen:

»[…] | Und dennoch verachten wir diese Menschen nicht; | Wir wissen, was wir ihren Träumen verdanken, | […].«

[Houellebecq, Michel: Elementarteilchen. Übersetzt von Uli Wittmann. 2. Auflage. Köln 1999, S. 9.]


Michel Houellebecq: Les particules élémentaires:

»[…] sa bite lui [= Michel Djerzinski] servait à pisser, et c’est tout.«

[Houellebecq, Michel: Les particules élémentaires. Roman. Paris 1998, S. 28.]


Michel Houellebecq: Elementarteilchen:

»Sein Schwanz diente ihm [= Michel Djerzinski] nur zum Pissen, und das war´s.«

[Houellebecq, Michel: Elementarteilchen. Übersetzt von Uli Wittmann. 2. Auflage. Köln 1999, S. 22.]


Michel Houellebecq: Les particules élémentaires:

»L’objectif principal de sa [= Bruno Clément] vie avait été sexuel ; il n’était plus possible d’en changer, il le savait maintenant. En cela, Bruno était représentatif de son époque.«

[Houellebecq, Michel: Les particules élémentaires. Roman. Paris 1998, S. 82.]


Michel Houellebecq: Elementarteilchen:

»Das Hauptziel seines [= Bruno Clément] Lebens war sexueller Art gewesen; sich ein anderes Ziel zu setzen, war nicht mehr möglich, das wußte er jetzt. Darin war Bruno charakteristisch für seine Epoche.«

[Houellebecq, Michel: Elementarteilchen. Übersetzt von Uli Wittmann. 2. Auflage. Köln 1999, S. 71.]


Michel Houellebecq: Les particules élémentaires:

»Au milieu de la grande barbarie naturelle, les êtres humains ont parfois (rarement) pu créer de petites places chaudes irradiées par l’amour. De petits espaces clos, réservés, où régnaient l’intersubjectivité et l’amour.«

[Houellebecq, Michel: Les particules élémentaires. Roman. Paris 1998, S. 112.]


Michel Houellebecq: Elementarteilchen:

»Mitten in der großen natürlichen Barbarei ist es den Menschen manchmal (wenn auch selten) gelungen, kleine, warme, von der Liebe besonnte Plätze zu schaffen. Kleine, abgekapselte reservierte Bereiche, in denen Intersubjektivität und Liebe herrschten.«

[Houellebecq, Michel: Elementarteilchen. Übersetzt von Uli Wittmann. 2. Auflage. Köln 1999, S. 98.]


Michel Houellebecq: Les particules élémentaires:

»En pratique, ces êtres humains étaient généralement des femmes.«

[Houellebecq, Michel: Les particules élémentaires. Roman. Paris 1998, S. 116.]


Michel Houellebecq: Elementarteilchen:

»In der Praxis waren diese Menschen im allgemeinen Frauen.«

[Houellebecq, Michel: Elementarteilchen. Übersetzt von Uli Wittmann. 2. Auflage. Köln 1999, S. 102.]


Michel Houellebecq: Les particules élémentaires:

»En cet été 1976, il était déjà évident que tout cela allait très mal finir. La violence physique, manifestation la plus parfaite de l’individuation, allait réapparaître en Occident à la suite du désir.«

[Houellebecq, Michel: Les particules élémentaires. Roman. Paris 1998, S. 192.]


Michel Houellebecq: Elementarteilchen:

»In jenem Sommer 1976 war es schon völlig klar, daß all das ein schlimmes Ende nehmen würde. Die körperliche Gewalt, die ausgeprägteste Erscheinungsform der Individualisierung, sollte in den westlichen Ländern die sinnliche Begierde ablösen.«

[Houellebecq, Michel: Elementarteilchen. Übersetzt von Uli Wittmann. 2. Auflage. Köln 1999, S. 174.]


Michel Houellebecq: Les particules élémentaires:

»Un des traits de génie de Djerzinski, devait écrire Frédéric Hubczejak bien des années plus tard, fut d’avoir su dépasser sa première intuition selon laquelle la reproduction sexuée était en ellemême une source de mutations délétères. Depuis des milliers d’années, soulignait encore Hubczejak, toutes les cultures humaines étaient empreintes de cette intuition plus ou moins formulée d’une relation indissociable entre le sexe et la mort ; un chercheur qui venait d’établir ce lien par des arguments irréfutables tirés de la biologie moléculaire aurait normalement dû s’arrêter là, considérer sa tâche comme achevée. Djerzinski, pourtant, avait eu l’intuition qu’il fallait dépasser le cadre de la reproduction sexuée pour examiner dans toute leur généralité les conditions topologiques de la division cellulaire.«

[Houellebecq, Michel: Les particules élémentaires. Roman. Paris 1998, S. 204.]


Michel Houellebecq: Elementarteilchen:

»Einer von Djerzinskis genialsten Einfälle, sollte Frédéric Hubczejak viele Jahre später schreiben, bestand darin, daß er sich nicht mit seiner ersten Intuition begnügte, derzufolge die geschlechtliche Fortpflanzung als solche eine Quelle für schädliche Mutationen war. Seit Tausenden von Jahren, hob Hubczejak weiter hervor, waren alle menschlichen Kulturen von der mehr oder weniger deutlich formulierten Annahme geprägt, daß zwischen Geschlecht und Tod eine untrennbare Beziehung bestehe; ein Forscher, der diese Verknüpfung mit unwiderlegbaren Argumenten aus der Molekularbiologie nachgewiesen hatte, hätte normalerweise an dieser Stelle haltmachen und seine Aufgabe als beendet betrachten müssen. Djerzinski jedoch hatte die Intuition gehabt, daß man über den
Rahmen der geschlechtlichen Fortpflanzung hinausgehen müsse, um die topologischen Bedingungen der Zellteilung in ihrer allgemeinsten Form zu untersuchen.«

[Houellebecq, Michel: Elementarteilchen. Übersetzt von Uli Wittmann. 2. Auflage. Köln 1999, S. 185f.]


Michel Houellebecq: Les particules élémentaires:

»Hubczejak note avec justesse que le plus grand mérite de Djerzinski n’est pas d’avoir su dépasser le concept de liberté individuelle (car ce concept était déjà largement / dévalué à son époque, et chacun reconnaissait au moins tacitement qu’il ne pouvait servir de base à aucun progrès humain), mais d’avoir su, par le biais d’interprétations il est vrai un peu hasardeuses des postulats de la mécanique quantique, restaurer les conditions de possibilité de l’amour.«

[Houellebecq, Michel: Les particules élémentaires. Roman. Paris 1998, S. 376f.]


Michel Houellebecq: Elementarteilchen:

»Hubczejak schreibt zu Recht, daß Djerzinskis größtes Verdienst nicht darin besteht, daß er den Begriff der individuellen Freiheit überwunden hat (denn dieser Begriff war bereits zu seiner Zeit weitgehend sinnentleert, und jeder gestand zumindest stillschweigend ein, daß er nicht mehr als Grundlage für irgendeinen menschlichen Fortschritt taugte), sondern daß es ihm gelungen ist, durch eine – wenn auch etwas gewagte – Interpretation der Postulate der Quantenmechanik die Bedingungen zur Möglichkeit der Liebe wiederherzustellen.«

[Houellebecq, Michel: Elementarteilchen. Übersetzt von Uli Wittmann. 2. Auflage. Köln 1999, S. 342.]


Michel Houellebecq: Les particules élémentaires:

»Il fut en tout cas le premier, et pendant des années le seul, à défendre cette proposition radicale issue des travaux de Djerzinski : l’humanité devait disparaître ; l’humanité devait donner naissance à une nouvelle espèce, asexuée et immortelle, ayant dépassé l’individualité, la séparation et le devenir.«

[Houellebecq, Michel: Les particules élémentaires. Roman. Paris 1998, S. 385.]


Michel Houellebecq: Elementarteilchen:

»Er war auf jeden Fall der erste, und jahrelang der einzige, der folgenden, aus Djerzinskis Arbeiten abgeleiteten radikalen Vorschlag vertrat: Die Menschheit müsse verschwinden; die Menschheit müsse einer neuen geschlechtslosen, unsterblichen Spezies das Leben schenken, die die Individualität, die Trennung und das Werden überwunden hat.«

[Houellebecq, Michel: Elementarteilchen. Übersetzt von Uli Wittmann. 2. Auflage. Köln 1999, S. 348.]


Michel Houellebecq: Les particules élémentaires:

»D’autres critiques – probablement les plus profondes – se concentrèrent sur le fait qu’au sein de la nouvelle espèce créée à partir des travaux de Djerzinski, tous les individus seraient porteurs du même code génétique ; un des éléments fondamentaux de la personnalité humaine allait donc disparaître. À cela Hubczejak répondait avec fougue que cette individualité génétique dont nous étions, par un retournement tragique, si ridiculement fiers, était précisement la source de la plus grande partie de nos malheurs.«

[Houellebecq, Michel: Les particules élémentaires. Roman. Paris 1998, S. 389f.]


Michel Houellebecq: Elementarteilchen:

»Andere kritische Äußerungen – vermutlich die schwerwiegendsten – konzentrierten sich darauf, dass innerhalb der neuen Spezies, die auf der Grundlage von Djerzinskis Arbeiten geschaffen würde, alle Individuen denselben genetischen Code besitzen würden; eines der grundlegenden Elemente der menschlichen Persönlichkeit würde folglich verschwinden. Dem hielt Hubczejak vehement entgegen, daß gerade diese genetische Individualität, auf die wir aufgrund eines tragischen Irrtums so lächerlich stolz waren, die Quelle fast all unserer Leiden sei.«

[Houellebecq, Michel: Elementarteilchen. Übersetzt von Uli Wittmann. 2. Auflage. Köln 1999, S. 352f.]


Michel Houellebecq: Les particules élémentaires:

»La création du premier être, premier représentant d’une nouvelle espèce intelligente créée par l’homme ‹ à son image et à sa ressemblance ›, eu lieu le 27 mars 2029, vingt ans pour jour après la disparition de Michel Djerzinski.«

[Houellebecq, Michel: Les particules élémentaires. Roman. Paris 1998, S. 392.]


Michel Houellebecq: Elementarteilchen:

»Die Schaffung des ersten Wesens, des ersten Vertreters einer neuen, intelligenten Spezies, die der Mensch »ihm zum Bilde, zum Bilde des Menschen« schuf, fand am 27. März 2029 statt, auf den Tag genau zwanzig Jahre nach Michel Djerzinskis Verschwinden.«

[Houellebecq, Michel: Elementarteilchen. Übersetzt von Uli Wittmann. 2. Auflage. Köln 1999, S. 355.]


Michel Houellebecq: Les particules élémentaires:

»Aujourd’hui, près de cinquante ans plus tard, la réalité a largement confirmé la teneur prophétique des propos d’Hubczejak – à un point, même, que celui-ci n’aurait probablement pas soupçonné. Il subsiste quelques humains de l’ancienne race […].«

[Houellebecq, Michel: Les particules élémentaires. Roman. Paris 1998, S. 393.]


Michel Houellebecq: Elementarteilchen:

»Heute, gut 50 Jahre später, hat die Realität die prophetische Tragweite von Hubczejaks Worten über alle Maßen bestätigt – bis zu einem Punkt, den er vermutlich nicht geahnt hat. Es existieren noch einige Menschen der alten Rasse […].«

[Houellebecq, Michel: Elementarteilchen. Übersetzt von Uli Wittmann. 2. Auflage. Köln 1999, S. 356.]


Michel Houellebecq: Les particules élémentaires:

»Ayant rompu le lien filial qui nous rattachait à l’humanité, nous vivons. À l’estimation des hommes, nous vivons heureux ; il est vrai que nous avons su dépasser les puissances, insurmontables pour eux, de l’égoïsme, de la cruauté et de la colère ; nous vivons de toute façon une vie différente. La science et l’art existent toujours dans notre société ; mais la poursuite du Vrai et du Beau, moins stimulée par l’aiguillon de la vanité individuelle, a de fait acquis un caractère moins urgent. Aux humains de l’ancienne race, notre monde fait l’effet d’un paradis. Il nous arrive d’ailleurs parfois de nous qualifier nous mêmes – sur un mode, il est vrai, légèrement humoristique – de ce nom de ‹ dieux › qui les avait tant fait rêver.«

[Houellebecq, Michel: Les particules élémentaires. Roman. Paris 1998, S. 393f.]


Michel Houellebecq: Elementarteilchen:

»Dadurch, daß wir das verwandtschaftliche Band, das uns an die Menschheit fesselte, zerrissen haben, leben wir. Dem Urteil der Menschen zufolge leben wir glücklich; allerdings haben wir es auch verstanden, die für sie unüberwindbaren Kräfte des Egoismus, der Grausamkeit und der Wut zu bezwingen; wir führen ohnehin ein anderes Leben. Die Wissenschaft und die Kunst sind weiterhin Bestandteil unserer Gesellschaft; aber die Suche nach dem Wahren und dem Schönen besitzt, da sie nicht mehr so stark durch den Stachel der individuellen Eitelkeit angespornt wird, einen weniger dringlichen Charakter. Auf die Menschen der ehemaligen Rasse wirkt unsere Welt wie ein Paradies. Es kommt im übrigen vor, dass wir uns – wenn auch mit einer Spur von Humor – mit dem Namen »Götter« bezeichnen, der so viele Träume bei ihnen ausgelöst hat.«

[Houellebecq, Michel: Elementarteilchen. Übersetzt von Uli Wittmann. 2. Auflage. Köln 1999, S. 356.]


Michel Houellebecq: Les particules élémentaires:

»L’histoire existe ; elle s’impose, elle domine, son empire est inéluctable. Mais au-delà du strict plan historique, l’ambition ultime de cet ouvrage est de saluer cette espèce infortunée et courageuse qui nous a créés. Cette espèce douloureuse et vile, à peine différente du singe, qui portait cependant en elle tant d’aspirations nobles. Cette espèce torturée, contradictoire, individualiste et querelleuse, d’un égoïsme illimité, parfois capable d’explosions de violences inouïes, mais qui ne cessa jamais pourtant de croire à la bonté et à l’amour. Cette espèce aussi qui, pour la première fois de l’histoire du monde, sut envisager la possibilité de son propre dépassement en pratique. Au moment où ses derniers représentants vont s’éteindre, nous estimons légitime de rendre à l’humanité ce dernier hommage ; hommage qui, lui aussi, finira par s’effacer et se perdre dans les sables du temps ; il est cependant nécessaire que cet hommage, au moins une fois, ait été accompli. Ce livre est dédié à l’homme.«

[Houellebecq, Michel: Les particules élémentaires. Roman. Paris 1998, S. 394.]


Michel Houellebecq: Elementarteilchen:

»Die Geschichte existiert; sie zwingt sich auf, beherrscht die Welt, ihr Reich ist unausweichlich. Aber über die streng historische Intention hinaus besteht das eigentliche Bestreben dieses Buchs darin, jene leidgeprüfte, mutige Spezies, die uns geschaffen hat, zu ehren. Jene schmerzbeladene nichtswürdige Spezies, die sich kaum vom Affen unterschied und dennoch so viel edle Ziele angestrebt hat. Jene gequälte, widersprüchliche, individualistische, streitsüchtige Spezies mit grenzenlosem Egoismus, die manchmal zu Ausbrüchen unerhörter Gewalt fähig war, aber nie aufgehört hat, an die Güte und an die Liebe zu glauben. Und auch jene Spezies, die zum erstenmal in der Geschichte der Welt verstanden hat, die Möglichkeit ihres eigenen Überwindens zu erwägen; und die es einige Jahre später verstanden hat, dieses Überwinden in die Tat umzusetzen. Zu einem Zeitpunkt, da die letzten Vertreter dieser Spezies im Aussterben begriffen sind, halten wir es für legitim, der Menschheit diese letzte Huldigung darzubringen – eine Huldigung, die ihrerseits allmählich verblassen und sich im Treibsand der Zeit verlieren wird; dennoch ist es nötig, daß diese Huldigung wenigstens einmal erfolgt. Dieses Buch ist dem Menschen gewidmet.«

[Houellebecq, Michel: Elementarteilchen. Übersetzt von Uli Wittmann. 2. Auflage. Köln 1999, S. 357.]


Michel Foucault: Les mots et les choses:

»Si ces dispositions venaient à disparaître comme elles sont apparues, si par quelque événement dont nous pouvons tout au plus pressentir la possibilité, mais dont nous ne connaissons pour l’instant encore ni la forme ni la promesse, elles basculaient, comme le fit au tournant du XVIIIe siècle le sol de la pensée classique, – alors on peut bien parier que l’homme s’effacerait, comme à la limite
de la mer un visage de sable.«

[Foucault, Michel: Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines. [Paris] 1966 (Bibliothèque des Sciences Humaines), S. 398.]


Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge:

»Wenn diese Dispositionen verschwänden, so wie sie erschienen sind, wenn durch irgendein Ereignis, dessen Möglichkeit wir höchstens vorausahnen können, aber dessen Form oder Verheißung wir im Augenblick noch nicht kennen, diese Dispositionen ins Wanken gerieten, wie an der Grenze des achtzehnten Jahrhunderts die Grundlage des klassischen Denkens es tat, dann kann man sehr wohl wetten, daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.«

[Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Aus dem Französischen von Ulrich Köppen. Frankfurt am Main 1971, S. 462.]


Michel Houellebecq: Les particules élémentaires:

»De même, nous pouvons aujourd’hui écouter cette histoire de l’ère matérialiste
Comme une vieille histoire humaine.
C’est une histoire triste, et pourtant nous ne serons même pas réellement tristes
Car nous ne ressemblons plus à ces hommes.
Nés de leur chair et de leurs désirs, nous avons rejeté leurs catégories et leurs appartenances
Nous ne connaissons pas leurs joies, nous ne connaissons pas non plus leurs souffrances,
Nous avons écarté
Avec indifférence
Et sans aucun effort
Leur univers de mort.
Ces siècles de douleur qui sont notre héritage,
Nous pouvons aujourd’hui les tirer de l’oubli
Quelque chose a eu lieu comme un second partage,
Et nous avons le droit de vivre notre vie.«

[Houellebecq, Michel: Les particules élémentaires. Roman. Paris 1998, S. 369f.]


Michel Houellebecq: Elementarteilchen:

»So können auch wir uns heute die Geschichte der materialistischen Ära
als eine alte menschliche Geschichte anhören.
Es ist eine traurige Geschichte, und dennoch wird sie uns nicht wirklich traurig stimmen,
denn wir gleichen nicht mehr diesen Menschen.
Hervorgegangen aus ihrem Fleisch und aus ihren Begierden,
haben wir ihre Kategorien und ihre Zugehörigkeiten verworfen.
Wir kennen nicht ihre Freuden, kennen auch nicht mehr ihr Leid.
Gleichgültig
und völlig mühelos
haben wir ihre Welt des Todes
zurückgewiesen.
Heute können wir jene Jahrhunderte des Schmerzes,
die unser Erbe sind, der Vergessenheit entreißen,
es hat etwas wie eine zweite Teilung stattgefunden,
und wir haben das Recht, unser Leben zu führen.«

[Houellebecq, Michel: Elementarteilchen. Übersetzt von Uli Wittmann. 2. Auflage. Köln 1999, S. 335.]


Michel Houellebecq: Rede zur Verleihung des Preises der Frank-Schirrmacher-Stiftung:

»Mitunter werde ich betrachtet wie eine Art Prophet […]. Was diese Illusion erzeugt hat, ist, dass es manchmal seltsame Koinzidenzen gibt zwischen dem Erscheinen meiner Bücher und anderen weitaus dramatischeren Ereignissen. Es stimmt, mein Roman Soumission (Unterwerfung) ist in Frankreich am Tag der Anschläge auf „Charlie Hebdo“ erschienen. Weniger bekannt ist, dass ich der „New York Times“ ein Interview über Plattform gegeben hatte – ein Interview, in dem der Journalist übrigens fand, ich übertriebe wahrscheinlich die islamistische Gefahr. Nun – dieses Interview ist in der „New York Times“ vom 11. September 2001 erschienen. Kurzum, es scheint, dass Gott (oder das Schicksal oder eine andere grausame Gottheit) sich damit amüsiert, unter Benutzung meiner Bücher tragische Koinzidenzen zu erzeugen.«

[Houellebecq, Michel: Rede zur Verleihung des Preises der Frank-Schirrmacher-Stiftung (26. 9. 2016). Link zum Artikel]