Vorlesung: Die Literatur des 20. Jahrhunderts (WS 2016/17)
Prof. Dr. Albert Meier

Die Literatur des 20. Jahrhunderts – Peter Handke: Die Lehre der Sainte-Victoire

Bei Peter Handke (geboren 1942) lässt sich am Ende der 1970er Jahre die Wende hin zu einem klassischen, ›schönen‹ Schreiben beobachten. In bewusster Abkehr vom Mainstream ›moderner‹ Autoren wie zum Beispiel Franz Kafka bemüht Handke sich, in Anlehnung an das 19. Jahrhundert (namentlich Goethe, Adalbert Stifter und Franz Grillparzer) um das Herausarbeiten poetischer Schönheit.

Das Frühwerk

Bekanntheit hat er zuvor durch das Drama Publikumsbeschimpfung (1966) erlangt. Dieses handlungsfreie Sprechstück widersprach den damaligen Theaterkonventionen und kann als Angriff auf den konventionellen Publikumsgeschmack gelten.

Eine frühe Ehrung erfuhr er, als er für seinen Erstlingsroman Die Hornissen (1966) eine Einladung zur Tagung der Gruppe 47 in Princeton erhielt, wo er mit seiner Attacke auf die etablierte ›Beschreibungsliteratur‹ einen dauerhaften Skandal auslöste.

Der junge Autor unterscheidet bereits – ähnlich wie Hugo von Hofmannsthal im ›Chandos-Brief‹ (1902) die ›Alltagssprache‹ von der ›literarischen Sprache‹. Auf diesem Grundgedanken beruht u. a. das ›Gedicht‹ Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 25. 1. 1968 (1969 in Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt erschienen), wo die Verweisungsfunktion des originalen Textes auf Realität durch seine Transposition in einen Gedichtband gekappt ist; die Sprache wird auf diesem Weg entfunktionalisiert, da der Realität Informationen entnommen und in einen neuen, literarischen Kontext gesetzt werden (= ›ready-made‹ als Prinzip der pop art).

Stellungnahme während der Jugoslawienkriege

In den 90er Jahren mischt sich Handke entschieden in die öffentlich-politische Diskussion der Jugoslawienkriege ein und setzt dem journalistischen Schreiben in Schwarz/Weiß-Kontrasten den poetischen Anspruch auf Versöhnung entgegen (›Gerechtigkeit für Serbien‹!).

Die Lehre der Sainte-Victoire

Inspiriert von den Gemälden Paul Cézannes (1839-1906), veröffentlicht Peter Handke eines seiner bedeutendsten Werke als zweiten Teil der Tetralogie Langsame Heimkehr: Die Lehre der Sainte-Victoire (1980). Bei Die Lehre der Sainte-Victoire handelt es sich um eine in vieler Hinsicht autobiographische Ich-Erzählung, die zudem theoretische Reflexionen und essayistische Abschnitte enthält.

Angesichts des Gebirgszuges Sainte-Victoire bei Aix-en-Provence, den Paul Cézanne vielfach gemalt hat (Link zu einem der Gemälde), erfährt Handke die Lehre eines ästhetisch vermittelten ›Seins in Frieden‹: Der Künstler ist verpflichtet, durch Schönheit ausgelöste Glücksmomente weiterzugeben. Die Erfahrung der Sainte-Victoire ermöglicht es dann sogar, die an sich nicht unbedingt ›schöne‹ Moderne in Analogie zu natürlichen Landschaften wahrzunehmen, sodass selbst das KaDeWe in Berlin inmitten eines schönen ›Talgrunds‹ erscheinen kann.

Handke, Peter: Die Lehre der Sainte-Victoire. Frankfurt am Main 1980, S. 21


»[…] für ein paar Tage wehten die Fahnen am >Kaufhaus des Westens< in einem Talgrund«. [In: Handke: Lehre der Sainte-Victoire. S. 95.]


Bildquelle (Link):

https://philamuseum.org/collection/object/102997

Peter Handke: Rede zur Verleihung des Franz-Kafka-Preises

»Das Wort sei gewagt: Ich bin, mich bemühend um die Formen für meine Wahrheit, auf Schönheit aus – auf die erschütternde Schönheit, auf Erschütterung durch Schönheit; ja, auf Klassisches, Universales, das, nach der Praxis-Lehre der großen Maler, erst in der steten Natur-Betrachtung und – Versenkung Form gewinnt.«

[Handke, Peter: Rede zur Verleihung des Franz-Kafka-Preises [1979]. In: Handke, Handke: Das Ende des Flanierens. Frankfurt am Main 1980, S. 156-159, hier S. 157f.]


Peter Handke: Brief an Siegfried Unseld (22. 3. 1980)

»Seit ein paar Wochen arbeite ich an einer Erzählung und habe oft große Freude daran. Sie heißt »Die Lehre der Sainte-Victoire« und ist auch ein Essay und ein Manifest, aber das merkt man wohl nicht: als ganzes ist es pure Erzählung.«

[Peter Handke an Siegfried Unseld, 22. 3. 1980. In: Handke, Peter / Unseld, Siegfried: Der Briefwechsel. Herausgegeben von Raimund Fellinger und Katharina Pektor. Berlin 2012, S. 392.]


Peter Handke: Am Felsfenster morgens

»Franz Kafka, die schönste aller Sumpfblüten vom Anfang des 20. Jahrhunderts − aber eine Sumpfblüte. Knüpft endlich woanders an«

[Handke, Peter: Am Felsfenster morgens (und andere Ortszeiten 1982-1987). Salzburg und Wien 1998, S. 216.]


»Franz Kafka hat für mich gesagt, daß ich im Elend bin. Also brauche ich selber es nicht mehr zu sagen. Also soll ich etwas anderes sagen, oder schweigen«

[Handke: Felsenfester (Anm. 5), hier S. 336.]


Peter Handke: Eine winterliche Reise

»Wohlgemerkt: hier geht es ganz und gar nicht um ein ›Ich klage an‹. Es drängt mich nur nach Gerechtigkeit. Oder vielleicht überhaupt bloß nach Bedenklichkeit, Zu-bedenken-Geben.«

[Handke, Peter: Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien. Frankfurt am Main 1996, S. 124.]


»Die bösen Fakten festhalten, schon recht. Für einen Frieden jedoch braucht es noch anderes, was nicht weniger ist als die Fakten. | Kommst du jetzt mit dem Poetischen? Ja, wenn dieses als das gerade Gegenteil verstanden wird vom Nebulösen. Oder sag statt ›das Poetische‹ besser das Verbindende, das Umfassende – den Anstoß zum gemeinsamen Erinnern, als der einzigen Versöhnungsmöglichkeit, für die zweite, die gemeinsame Kindheit.«

[Handke: Eine winterliche Reise (Anm. 7), hier S. 133.]


Peter Handke: Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise

»[…] eine Geschichte ohne menschheitsfeindliche Bösewichte, ohne ein Feind-Bild […]«

[Handke, Peter: Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise. Frankfurt am Main 1996, S. 91.]


Peter Handke: Die Motive meiner Reise nach Poarevac, Serbien – an Milosevics Grab

»Auf den Tod von Slobodan Milosevic habe ich, anders als die sogenannte Allgemeinheit, an deren Allgemeinheit ich nicht recht glaube, nicht „mit Genugtuung reagiert“, zumal das Tribunal den seit 5 Jahren in einem angeblichen „5-Sterne-Gefängnis“ („Libération“) Verwahrten erwiesenermaßen hat sterben lassen. Unterlassene Hilfeleistung: ist das nicht ein Verbrechen? Ich „gestehe“, etwas wie Kummer empfunden zu haben, der am Abend nach der Todesnachricht beim Gehen in den Seitenstraßen zu der Vorstellung führte, irgendwo für den Toten eine Kerze anzuzünden. | Und dabei sollte es bleiben. Ich hatte nicht vor, zum Begräbnis, pogreb, sahrana, nach Poarevac zu reisen. Ein paar Tage später erreichte mich die Einladung, nicht etwa von der Partei, sondern von der Familie (die übrigens an der Beerdigungsstunde dann, anders als verlautet, zum Großteil anwesend war). Freilich bewog mich weniger das zu der Reise. Mehr waren es die Reaktionen der durchweg feindlichen, nach dem Tod noch verstärkt feindlichen Westmedien, und darüber hinaus der Sprecher des Tribunals und auch des einen oder anderen „Historikers“. Es war deren aller Sprache, die mich auf den Weg brachte. Nein, Sl. M. war kein „Diktator“. Nein, Sl. M. hat nicht „vier Kriege auf dem Balkan angezettelt“. Nein, Sl. M. hat nicht als „Schlächter von Belgrad“ bezeichnet zu werden. Nein, Sl. M. war kein „Apparatschik“, kein „Opportunist“. Nein, Sl. M. war nicht „zweifellos“ schuldig. Nein, Sl. M. war kein „Autist“ (Wann übrigens werden die schmerzhaftest kranken Autisten sich wehren, dass ihr Kranksein als Schmähwort gebraucht wird?). Nein, Sl. M. hat mit seinem Sterben in der Zelle von Scheveningen „uns“ (dem Tribunal) keinen „bösen Streich gespielt“ (Carla del P.). Nein, Sl. M. hat „uns“ mit seinem Tod nicht „den Teppich unter den Füßen weggezogen, uns das Licht ausgeschaltet“ (dieselbe). Nein, Sl. M. hat sich nicht „vor dem Schuldspruch, ohne Zweifel LEBENSLÄNGLICH, weggestohlen“. | Sl. M. wird „dafür aber dem Urteil der Historiker nicht entkommen“ (ein „Historiker“): abermals nicht bloß unwahre, sondern schamlose Sprache. Solche Sprache war es, die mich veranlasste zu meiner Mini-Rede in Poarevac – in erster und letzter Linie solche Sprache. Es hat mich gedrängt, eine, nein, die andere Sprache vernehmen zu lassen, nicht etwa aus Loyalität zu Slobodan Milosevic, sondern aus Loyalität eben zu jener anderen, der nicht journalistischen, der nicht herrschenden Sprache. | Beim Anhören des einen oder anderen der Vorredner in Poarevac dann allerdings der Impuls: nein, nicht sprechen nach dem schneidigen General da, dem nach Rache schreienden Parteipolitiker da, die beide die Menge anheizen wollten, welche sich freilich, bis auf ein paar vereinzelte Mitschreier, keinmal zu einer Hass- oder Zornantwort kollektiv hinreißen ließ: denn es war eine Menge aus Trauernden, still und tief Bekümmerten, so mein nachhaltigster Eindruck. | Und für diese Bekümmerten, gegen die markigen, starken Sprüche, machte ich dann doch den Mund auf wie bekannt – als ein Teil der Kummergemeinde. Reaktion darauf: P. H., der „Claqueur“ (FAZ) – gibt es eine verwahrlostere Sprache als diese? Ein „Claqueur“, was ist das: Einer, der für Geld Beifall klatscht. Und wo ist der Beifall? (Nie habe ich auch geäußert, wieder laut FAZ, „glücklich“ zu sein nahe dem Toten.) Und wo ist das Geld? (Flug und Hotel selbst bezahlt.) | Mein Hauptbedürfnis jedenfalls für die Grabreise: Zeuge sein. Zeuge weder im Sinn der Anklage noch im Sinn der Verteidigung. Heißt denn inzwischen, Zeuge nicht im Sinn der Anklage sein zu wollen, für den Angeklagten zu sein? „Zweifellos“, gemäß einem der Hauptschlagworte der herrschenden Sprache? | Ich hätte gewünscht, hier als Schriftsteller in Poarevac nicht allein zu sein, sondern an der Seite eines anderen Schriftstellers, etwa Harold Pinter. Er hätte kräftige Worte gebraucht. Ich brauche schwache Worte. Aber das Schwache soll heute, hier recht sein. Es ist ein Tag nicht nur für starke, sondern auch für schwache Worte. [Ab hier sprach ich serbokroatisch – allein verfasst! –, im Nachhinein rückübersetzt:] Die Welt, die sogenannte Welt, weiß alles über Jugoslawien, Serbien. Die Welt, die sogenannte Welt, weiß alles über Slobodan Milosevic. Die sogenannte Welt weiß die Wahrheit. Deswegen ist die sogenannte Welt heute abwesend, und nicht bloß heute, und nicht bloß hier. Die sogenannte Welt ist nicht die Welt. Ich weiß, dass ich nicht weiß. Ich weiß die Wahrheit nicht. Aber ich schaue. Ich höre. Ich fühle. Ich erinnere mich. Ich frage. Deswegen bin ich heute anwesend, nah an Jugoslawien, nah an Serbien, nah an Slobodan Milosevic.«

[Handke, Peter: Die Motive meiner Reise nach Poarevac, Serbien – an Milosevics Grab. In: Focus 13/2006, S. 70-72 (http://www.focus.de/kultur/medien/zeitgeschichte-ich-wollte-zeuge-sein_aid_218700.html).]


Peter Handke: Die Literatur ist romantisch

»Die Literatur macht alles Wirkliche, auch das Engagement, zu Stil. Alle Wörter macht sie unbrauchbar und verdirbt sie, mehr oder weniger. Sie überspielt alles; Wörter, die als Handeln gemeint waren, werden zu Spiel: sie macht die Wirklichkeit, die sprachliche, die sie zitiert, und die außersprachliche, die sie benennt, zu Spiel. Die Literatur ist unwirklich, unrealistisch. Auch die sogenannte engagierte Literatur, obwohl gerade sie sich als realistisch bezeichnet, ist unrealistisch, romantisch.«

[Handke, Peter: Die Literatur ist romantisch. In: Handke, Peter: Meine Ortstafeln. Meine Zeittafeln. 1967-2007. Frankfurt am Main 2007, S. 53-63, hier S. 62f.]


Peter Handke: Brief an Siegfried Unseld (22. 3. 1980)

»Es ist eine ganz andre Prosa, ziemlich straight, eine richtige Handlung, eins nach dem andern. Nach den Erfahrungen, die ich bis jetzt mit Sätzen gemacht habe, glaube ich, so durchsichtig schreiben zu können, daß ich auch wieder eine richtige Geschichte schreiben kann und daß man trotzdem merkt, daß das alles Sätze sind.«

[Handke: Briefwechsel (Anm. 4), hier S. 111.]


Peter Handke: Wunschloses Unglück

»Ich vergleiche also den allgemeinen Formelvorrat für die Biographie eines Frauenlebens satzweise mit dem besonderen Leben meiner Mutter; aus den Übereinstimmungen und Widersprüchlichkeiten ergibt sich dann die eigentliche Schreibtätigkeit.«

[Handke, Peter: Wunschloses Unglück. Erzählung. Salzburg 1972, S. 43.]


»Es begann also damit, daß meine Mutter vor über fünfzig Jahren im gleichen Ort geboren wurde, in dem sie dann auch gestorben ist.«

[Handke: Unglück (Anm. 13), hier S. 12.]


»Selten wunschlos und irgendwie glücklich, meistens wunschlos und ein bißchen unglücklich.«

[Handke: Unglück (Anm. 13), hier S. 18.]


»Sie bekam ein Auftreten, verlor die letzte Berührungsangst: ein verrutschtes Hütchen, weil ein Bursche ihren Kopf an den seinen drückte, während sie nur selbstvergnügt in die Kamera lachte.«

[Handke: Unglück (Anm. 13), hier S. 24.]


Peter Handke: Wunschloses Unglück

»Als Frau in diese Umstände geboren zu werden, ist von vornherein schon tödlich gewesen. Man kann es aber auch beruhigend nennen: jedenfalls keine Zukunftsangst. Die Wahrsagerinnen auf den Kirchtagen lasen nur den Burschen ernsthaft die Zukunft aus den Händen; bei den Frauen war diese Zukunft ohnehin nichts als ein Witz.«

[Handke: Unglück (Anm. 13), hier S. 16.]


Peter Handke: Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen

»Also der Sinn überhaupt zu schreiben und ob ich noch weiterschreiben sollte oder könnte, der war zu der Zeit, als ich durch die Provence ging, mir nicht grade entschwunden, aber er stand richtig auf dem Spiel. Und dann die Wiederholung dieser Maulbeerfarben, die für mich, ohne daß ichs wußte, seit jeher Freude, also das Einverständnis mit dem Auf-der-Welt-Sein, bedeutet haben, hat mich sozusagen ganz sagen ganz wieder in mich einrasten lassen. Ich konnte mir vorstellen − gewiß konnte ich ja nie sein −, weiterzutun mit dem Spiel, mit dem ich angefangen habe, das heißt, mit dem Schreiben.«

[Handke, Peter: Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen. Ein Gespräch, geführt von Herbert Gamper. Zürich 1987, S. 255.]


Peter Handke: Langsame Heimkehr

» »Der Zusammenhang ist möglich«, schrieb er unter die Zeichnung. »Jeder einzelne Augenblick meines Lebens geht mit jedem anderen zusammen – ohne Hilfsglieder. Es existiert eine unmittelbare Verbindung; ich muß sie nur frei phantasieren«.«

[Handke, Peter: Langsame Heimkehr. Erzählung. Frankfurt/M. 1979, S. 112f.]


»Sprache, die Friedensstifterin: sie wirkte als der ideale Humor, der den Betrachter mit den äußeren Dingen beseelte.«

[Handke: Heimkehr (Anm. 19), hier S. 100.]


Peter Handke: Die Lehre der Sainte-Victoire

»Ein Zusammenhang ist da, nicht erklärbar, doch zu erzählen.«

[Handke, Peter: Die Lehre der Sainte-Victoire. Frankfurt/M. 1980, S. 69.]


»Nach Europa zurückgekehrt, brauchte ich die tägliche Schrift und las vieles neu.«

[Handke: Lehre der Sainte-Victoire (Anm. 21), hier S. 9.]


»Zu Hause das Augenpaar?«

[Handke: Lehre der Sainte-Victoire (Anm. 21), hier S. 139.]


»Einmal bin ich dann in den Farben zu Hause gewesen. Büsche, Bäume, Wolken des Himmels, selbst der Asphalt der Straße zeigten einen Schimmer, der weder vom Licht jenes Tages noch von der Jahreszeit kam. Naturwelt und Menschenwerk, eins durch das andere, bereiteten mir einen Beseligungsmoment, den ich aus den Halbschlafbildern kenne (doch ohne deren das Äußerste und das Letzte ankündigende Bedrohlichkeit), und der Nunc stans genannt worden ist: Augenblick der Ewigkeit. – Das Gebüsch war gelber Ginster, die Bäume waren vereinzelte braune Föhren, die Wolken erschienen durch den Erddunst bläulich, der Himmel (wie Stifter in seinen Erzählungen noch so ruhig hinsetzen konnte) war blau. Ich war stehengeblieben auf einer Hügelkuppe der Route Paul Cézanne, die von Aix-en-Provence ostwärts zum Dorf Le Tholonet führt.«

[Handke: Lehre der Sainte-Victoire (Anm. 21), hier S. 9.]


»Ja, dem Maler Paul Cézanne verdanke ich es, daß ich an jener freien Stelle zwischen Aix-enProvence und dem Dorf Le Tholonet in den Farben stand und sogar die asphaltierte Straße mir als Farbsubstanz erschien.«

[Handke: Lehre der Sainte-Victoire (Anm. 21), hier S. 16.]


»Die Sainte-Victoire ist nicht die höchste Erhebung der Provence, aber, wie man sagt, die jäheste. Sie besteht nicht aus einem einzigen Gipfel, sondern aus einer langen Kette, deren Kamm in der fast gleichmäßigen Höhe von tausend Metern über dem Meer annähernd eine Gerade beschreibt. Als der jähe Gipfelberg erscheint sie nur unten aus dem Bassin von Aix, das, einen halben Tagesgang entfernt, ziemlich genau im Westen liegt: was von dort aus die endgültige Bergspitze ist, bedeutet erst den Anfang des Höhenkamms, der dann einen zweiten Halbtag lang weiter in die Ostrichtung streicht. Diese von Norden sanft ansteigende und nach Süden fast senkrecht in eine Hochebene abfallende Kette ist eine mächtige Kalkschollenauffaltung, und der Grat ist deren obere Längsachse. Zusätzlich dramatisch wirkt die westliche Ansicht des Dreispitzes, weil sie gleichsam einen Querschnitt des gesamten Massivs mit seinen verschiedenen Faltenschichten darstellt, so daß auch jemand, der nichts von dem Berg weiß, unwillkürlich eine Ahnung von dessen Entstehung kriegt und ihn als etwas Besonderes sieht«

[Handke: Lehre der Sainte-Victoire (Anm. 21), hier S. 38f.]


»Und so sehe ich jetzt auch Cézannes »Verwirklichungen« (nur daß ich mich davor aufrichte, statt niederzuknien): Verwandlung und Bergung der Dinge in Gefahr – nicht in einer religiösen Zeremonie, sondern in der Glaubensform, die des Malers Geheimnis war.«

[Handke: Lehre der Sainte-Victoire (Anm. 21), hier S. 84.]


»Nicht »erfinden« sollte ich ja, gemäß der Lehre, sondern »realisieren« (wozu im einzelnen immer wieder die Erfindung gehörte); und auch meine persönliche Gewißheit war ja die vom »guten Ich« Goethes als dem inneren Licht der Erzählung; als dem Hellen und Erhebenden, das beim Lesen erst den Geist des Vertrauens gibt. Nichts anderes ist lesenswert.«

[Handke: Lehre der Sainte-Victoire (Anm. 21), hier S. 102.]


»Die Dichter lügen, steht bei einem der ersten Philosophen. Es herrscht also vielleicht schon seit jeher die Meinung, das Wirkliche, das seien die schlechten Zustände und die unguten Ereignisse; und die Künstler seien dann wirklichkeitstreu, wenn ihr Haupt- und Leitgegenstand das Böse ist, oder die mehr oder weniger komische Verzweiflung darüber. Doch warum kann ich von all dem nichts mehr hören; nichts sehen; nichts lesen? Warum wird mir, so wie ich selber auch nur einen einzigen mich beklagenden, mich oder andere beschuldigenden oder bloßstellenden Satz hinschreibe – es sei denn, es ist der Heilige Zorn dabei! –, buchstäblich schwarz vor den Augen? Und werde andrerseits nie vom Glück schreiben, geboren zu sein, oder vom Trost in einem besseren Jenseits […].«

[Handke: Lehre der Sainte-Victoire (Anm. 21), hier S. 20f.]


Peter Handke: Die Lehre der Sainte-Victoire

» »Ja: dieser dämmernde Seitenweg gehörte jetzt mir und wurde nennbar. Mit den Maulbeerenflecken im Staub vereinte der Augenblick der Phantasie (indem allein ich ganz und mir wirklich bin und die Wahrheit weiß) nicht bloß die eigenen Lebensbruchstücke in Unschuld, sondern eröffnete mir auch neu meine Verwandtschaft mit anderen, unbekannten Leben, und wirkte so als unbestimmte Liebe, mit der Lust, diese, in einer treustiftenden Form!, weiterzugeben, als berechtigten Vorschlag für den Zusammenhalt meines nie bestimmbaren, verborgenen Volkes, als unsere gemeinsame Daseinsform: erleichternder, erheiternder, verwegener Sollensmoment des Schreibens; bei dem ich ruhig wurde wie »bei der Idee eines Schiffs«.«

[Handke: Lehre der Sainte-Victoire (Anm. 21), hier S. 72f.]


»Cézanne hat ja anfangs Schreckensbilder, wie die Versuchung des Heiligen Antonius, gemalt. Aber mit der Zeit wurde sein einziges Problem die Verwirklichung (»réalisation«) des reinen, schuldlosen Irdischen: des Apfels, des Felsens, eines menschlichen Gesichts. Das Wirkliche war dann die erreichte Form; die nicht das Vergehen in den Wechselfällen der Geschichte beklagt, sondern ein Sein im Frieden weitergibt. – Es geht in der Kunst um nichts anders. Doch was dem Leben erst sein Gefühl gibt, wird beim Weitergeben dann das Problem.«

[Handke: Lehre der Sainte-Victoire (Anm. 21), hier S. 21.]


»Der Staat ist die »Summe seiner Normen« genannt worden. Ich dagegen weiß mich verpflichtet dem Reich der Formen, als einer anderen Rechtsordnung, in der die »wahren Ideen«, wie der Philosoph gesagt hat, »mit ihren Gegenständen übereinstimmen«, und jede Form machtvoll ist als Beispiel (wenn auch die Künstler selber in den neueren Staaten »halbe Schatten und jetzt, in der Gegenwart, fast vollständig wesenlos« sind).«

[Handke: Lehre der Sainte-Victoire (Anm. 21), hier S. 26f.]


»Dennoch hörte ich dann ein metallisches Klirren, wie von einem Laufenden mit gezogener Waffe. Ein Grollen kam dazu, eher ein fernes Raunen im Luftraum, und fast zugleich empfand ich hautnah ein Gebrüll: den bösesten aller Laute, Todes- und Kriegsschrei zugleich, ohne Ansatz das Herz anspringend, das sich in der Phantasie kurz als Katze buckelte. Ende der Farben und Formen in der
Landschaft: Nur noch ein Gebissweiß, und dahinter bläuliches Fleischpurpur.«

[Handke: Lehre der Sainte-Victoire (Anm. 21), hier S. 55.]


»Sprachlos vor Haß verließ ich das Terrain; und zugleich schuldbewusst: »Für das, was ich vorhabe, darf ich nicht hassen.« Vergessen die Dankbarkeit über den bisherigen Weg; die Schönheit des Berges wurde nicht; nur noch das Böse war wirklich.«

[Handke: Lehre der Sainte-Victoire (Anm. 21), hier S. 60f.]


»Ich würde den Coup wagen und aufs Ganze gehen! – Und ich sah das Reich der Wörter mir offen – mit dem Großen Geist der Form; […] An keinen »Leser« dachte ich da mehr; blickte nur, in wilder Dankbarkeit, zu Boden. – Schwarzweißes Steinchenmosaik. Über der Stiege, die in den ersten Stock der Auberge hinaufführte, schwebte, am Geländer festgebunden, ein blauer Luftballon. Auf einem Tisch im Freien stand ein hellroter Emailkrug. Fern über der Hochebene des Philosophen war die Luft von jenem besonders frischen Blau, mit dem Cézanne den Bereich so oft gemalt hat. Über die Bergwand selbst flogen die Wolkenschatten, als würden da immerzu Vorhänge gezogen; und endlich (früher Sonnenuntergang der Dezembermitte) stand das ganze Massiv ruhig im Gelbglanz, wie gläsern, ohne doch wie ein anderer Berg, die Heimkehr zu verwehren. –Und ich spürte die Struktur all dieser Dinge in mir, als mein Rüstzeug. TRIUMPH! dachte ich – als sei das Ganze schon glücklich geschrieben. Und ich lachte.«

[Handke: Lehre der Sainte-Victoire (Anm. 21), hier S. 115f.]


»Bis dahin war mir zudem nie aufgefallen, daß Berlin in einem breiten Urstromtal liegt (und es hätte mich vorher wohl auch kaum interessiert); die Häuser schienen immer nur wie zufällig in einem steppenähnlichen Flachland verstreut. Jetzt bekam ich heraus, daß einige Straßenzüge entfernt eine der wenigen Stellen der Stadt war, wo einst das schmelzende Eiswasser einen deutlichen Hang gebildet hatte.«

[Handke: Lehre der Sainte-Victoire (Anm. 21), hier S. 94.]


»Am Abend leuchtete die Graphitspitze am Bleistift und für ein paar Tage wehten die Fahnen am »Kaufhaus des Westens« in einem Talgrund.«

[Handke: Lehre der Sainte-Victoire (Anm. 21), hier S. 95.]


»Am Abend sah ich dann von einer Straßenbrücke am Stadtrand auf die Peripherie-Autobahn hinunter, die sich in beweglichen Goldfarben zeigte, und es kommt mir auch hier noch vernünftig vor, was ich damals dachte: daß jemand wie Goethe mich beneiden müßte, weil ich jetzt, am Ende des 20. Jahrhunderts, lebte.«

[Handke: Lehre der Sainte-Victoire (Anm. 21), hier S. 86f.]