Vorlesung: Die Literatur des 20. Jahrhunderts (WS 2016/17)
Prof. Dr. Albert Meier

Die Literatur des 20. Jahrhunderts – Einführung

In literarischer Hinsicht beginnt das 20. Jahrhundert bereits 1873, als Arthur Rimbaud (1854-1891) in seinen Prosagedichten Une saison en enfer die Formel »Il faut être absolument moderne« aufstellt und damit das Leitprinzip der ›Moderne‹ im 20. Jahrhundert auf den Punkt bringt. Dieses Prinzip impliziert die Forderung, dass ein Kunstwerk stets innovativ sein, seine Vorgänger jeweils überbieten und unbedingt original (d.h. etwas Neues, noch nicht Dagewesenes) sein müsse.

Problematisierung des Mimesis

Die entscheidende ästhetische Tendenz, die sich um 1900 in allen Künsten beobachten lässt, ist die Problematisierung der Mimesis. Über Jahrhunderte hinweg war es selbstverständlich, dass Kunst als ›Nachahmung‹ funktioniert, d. h. die Realität der Lebenswelt abzubilden hat. Schon bei Aristoteles und Platon ist dieses Kunstverständnis zum Ausdruck gekommen. Im 20. Jahrhundert dagegen wird unter dem Stichwort der Abstraktion die Eigengesetzlichkeit der Kunst in den Fokus gerückt: Das Kunstwerk verweist nicht länger auf sein Vorbild in der Realität, sondern ist eigenständig bzw. selbstbezüglich.

Damit diese autonome Kunst möglich wird, muss von der Zeichenfunktion ihrer Materialien abstrahiert werden. In der Literatur ist dies deutlich schwieriger zu realisieren als in anderen Künsten, da das Material der Literatur die Alltagssprache ist und somit aus Wörtern besteht, die wiederum als ›Zeichen‹ semantisch besetzt sind.

Nach Alfred Döblin (1878-1957) muss ein Autor daher die anspruchsvolle Aufgabe erfüllen, das Sprachmaterial poetisch so zu verwenden, dass die jeweilige Dichtung nicht auf einen realen Sinn außerhalb des Textes verweist.

Beispielhaft für die praktische Umsetzung dieser Forderung ist die Dichtung des Dada-Künstlers Kurt Schwitters (1887-1948), die syntaktisch wie semantisch planvoll von der Normalsprache abweicht (etwa in Anna Blume) oder gar durch eine musikalisch motivierte Reihung bedeutungsloser Laute (z.B. Ursonate) mit einer „entsemantisierten“ Sprache arbeitet und so bewusst macht, dass die Gedichte für sich selbst stehen und keine Verweisfunktion haben.

Der Chandos-Brief

Hugo von Hofmannsthal (1874-1929) bringt den Anspruch der Autoren des 20. Jahrhunderts mit seiner Forderung »Man lasse uns Künstler in Worten sein« auf den Punkt: In der Literatur seien Wörter fundamental anders zu verstehen als im Alltagsgebrauch – nicht als Zeichen für Dinge, sondern selbst als Gegenstand/Material.

Dies reflektiert Hofmannsthal auch im Chandos-Brief (1902). Der fiktive Schriftsteller Lord Chandos berichtet darin von seinem Problem, plötzlich nicht mehr schreiben zu können, da ihm das Vertrauen abhanden gekommen sei, dass Sprache eine Einheit zwischen dem Sprecher und dem Gemeinten stiftet.

Trotzdem ist der Chandos-Brief nicht als pessimistische Sprachskepsis zu verstehen, da Hofmannsthal am Beispiel von Chandos eine alternative Dichtung ins Auge fasst: Während Chandos gerade die abstrakten Begriffe (z. B. ›Seele‹) nicht mehr verwenden kann und die Sprache somit nicht mehr als trennendes Medium zwischen ihm und der Welt steht, wird es möglich, auf außersprachlichem Wege augenblicksweise eine Einheit zwischen sich und den Dingen zu erfahren.

Hofmannsthal versucht am Beispiel von Lord Chandos eine Literatur zu begründen, die genau diese Erfahrung des Einheitsgefühls möglich machen soll: durch Verwendung einer nicht-begrifflichen Sprache, die nicht rationale Bedeutungen, sondern eine sinnliche Qualität vermitteln soll. Erst wenn die Sprache gegen den Strich verwendet wird, kann sie in diesem Sinne ein Mittel sein, um an die Dinge selbst heranzukommen.

Ein praktisches Beispiel hierfür ist Gertrude Steins (1874-1946) Satz »Rose is a rose is a rose is a rose«. Durch die nicht-alltägliche Wiederholung, ein Spiel mit dem Sprachmaterial, wird in diesem Beispiel die konventionelle Zeichenfunktion der Sprache gekappt und es entsteht so ein umso intensiverer sinnlicher Eindruck.

Rimbaud, Arthur: Une saison en enfer. Bruxelles 1873, S. 52.


Hofmannsthal, Hugo von: Poesie und Leben. In: Hofmannsthal, Hugo von: Der Brief des Lord Chandos. Schriften zur Literatur, Kunst und Geschichte. Herausgegeben von Mathias Mayer. Stuttgart 2000, S. 36-44, hier S. 41.

Gertrude Stein: Sacred Emily:

»Rose is a rose is a rose is a rose.«

[Stein, Gertrude: Sacred Emily. In: Stein, Gertrude: Geography and Plays. Boston 1922, S. 178-188, hier S. 187.]


Gertrude Stein: Four in America:

»Now listen! I’m no fool. I know that in daily life we don’t go around saying ‘is a … is a … is a …’ Yes, I’m no fool; but I think that in that line the rose is red for the first time in English poetry for a hundred years.«

[Stein, Gertrude: Four in America. Introduction by Thornton Wilder. New Haven 1947, S. Vf.]


Wassily Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst, insbesondere in der Malerei:

»Nur die gewohnten Gegenstände wirken bei einem mittelmäßig empfindlichen Menschen ganz oberflächlich. Die aber, die uns zum erstenmal begegnen, üben sofort einen seelischen Eindruck auf uns aus.«


»Ein ganz anderer Fall endlich ist ein rotes Pferd. Schon der Klang dieser Worte versetzt uns in eine andere Atmosphäre. Die naturelle Unmöglichkeit eines roten Pferdes verlangt unbedingt ein ebenso unnaturelles Milieu, in welches dieses Pferd gestellt wird. Andernfalls kann die Gesamtwirkung entweder als Kuriosität wirken (also nur oberflächliche und ganz unkünstlerische Wirkung), oder als ein ungeschickt aufgefaßtes Märchen (also als begründete Kuriosität mit unkünstlerischer Wirkung). Eine gewöhnliche, naturalistische Landschaft, modellierte, anatomisch gezeichnete Figuren würden mit diesem Pferd einen solchen Mißklang bilden, welchem kein Gefühl folgen würde und was in Eins zu verbinden es keine Möglichkeit geben würde.«

[Kandinsky [, Wassily]: Über das Geistige in der Kunst, insbesondere in der Malerei. Mit acht Tafeln und zehn Originalholzschnitten. Dritte Auflage. München 1912, S. 44. 7 Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, insbesondere in der Malerei (Anm. 6), S. 102f.]


»Der Zuschauer ist auch zu sehr gewöhnt, […] einen ›Sinn‹, d.h. einen äußerlichen Zusammenhang der Teile des Bildes, zu suchen. Wieder hat dieselbe materialistische Periode im ganzen Leben und also auch in der Kunst einen Zuschauer ausgebildet, welcher sich dem Bilde nicht einfach gegenüberstellen kann (besonders ein ›Kunstkenner‹) und im Bilde alles mögliche sucht (Naturnachahmung, Natur durch das Temperament des Künstlers – also dieses Temperament, direkte Stimmung, ›Malerei‹, Anatomie, Perspektive, äußerliche Stimmung usw. usw.), nur sucht er nicht, das innere Leben des Bildes selbst zu fühlen, das Bild auf sich direkt wirken zu lassen. Durch die äußeren Mittel geblendet, sucht sein geistiges Auge nicht, was durch diese Mittel lebt.«

[Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, insbesondere in der Malerei (Anm. 6), S. 103f.]


Arthur Rimbaud: Une saison en enfer:

»Il faut être absolument moderne.«

[Rimbaud, Arthur: Une saison en enfer. Bruxelles 1873, S. 52.]


Friedrich Schlegel: Fragmente zur Poesie und Literatur:

»Man muß die ganze Π [Poesie] kennen, um die deutsche zu verstehen.«

[Schlegel, Friedrich: Fragmente zur Poesie und Literatur. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Herausgegeben von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Sechzehnter Band. Erster Teil. Mit Einleitung und Kommentar herausgegeben von Hans Eichner. München – Paderborn –Wien – Zürich 1981, S. 161.]


Aristoteles: Poetik:

»Die Epik und die tragische Dichtung, ferner die Komödie und die Dithyrambendichtung sowie – größtenteils – das Flöten- und Zitherspiel: sie alle sind, als Ganzes betrachtet, Nachahmungen.«

[Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982 (rub 7828), S. 5.]


»Aus dem Gesagten ergibt sich auch, daß es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d.h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche.«

[Aristoteles, Poetik (Anm. 11), S. 29.]


»Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit.«

[Aristoteles, Poetik (Anm. 11), S. 29.]


Platon: ΠΟΛΙΤΕΙΑ / Der Staat:

»Wiewohl auf gewisse Weise macht auch der Maler ein Bettgestell. Oder nicht?
Ja, sagte er, ein scheinbares auch er.«

[Platon: ΠΟΛΙΤΕΙΑ / Der Staat. Bearbeitet von Dietrich Kurz. Griechischer Text von Émile Chambry. Deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher. In: Platon: Werke in acht Bänden. Griechisch und deutsch. Darmstadt 1971, S. 797 [596e].]


»Auf welches von beiden geht die Malerei bei jedem? Das Seiende nachzubilden, wie es sich verhält, oder das Erscheinende, wie es erscheint als eine Nachbildnerei der Erscheinung oder der Wahrheit? | Der Erscheinung, sagte er. | Gar weit also von der Wahrheit ist die Nachbildnerei […].«

[Platon, ΠΟΛΙΤΕΙΑ / Der Staat (Anm. 14), S. 803 [598b].]


Jorge Luis Borges:

»Der Text Cervantes’ und der Text Menards sind Wort für Wort identisch; doch ist der zweite nahezu unerschöpflich reicher. […] | […] Auch zwischen den Stilarten besteht ein lebhafter Kontrast. Der archaisierende Stil – immerhin eines Ausländers – leidet an einer gewissen Affektiertheit. Nicht so der des Vorläufers, der das seiner Zeit geläufige Spanisch unbefangen schreibt.«

[Borges, Jorge Luis: Gesammelte Werke. München – Wien 1980-84. Band 3/I, S. 121f.]


El texto de Cervantes y el de Menard son verbalmente idénticos, pero el segundo es casi infinitamente más rico. […] | […] También es vívido el contraste de los estilos. El estilo arcaizante de Menard – extranjero al fin – adolece de alguna afectación. No así el del precursor, que maneja con desenfado el español corriente de su época.«

[Borges, Jorge Luis: Obras completas. I-IV. Band I. Sant Adrià del Besós, Barcelona 2001, S. 449.]


Arnold Schönberg: Komposition mit zwölf Tönen:

»Diese Methode besteht […] aus der ständigen und ausschließlichen Verwendung einer Reihe von zwölf verschiedenen Tönen. Das bedeutet natürlich, daß kein Ton innerhalb der Serie wiederholt wird und daß sie alle zwölf Töne der chromatischen Skala benutzt, obwohl in anderer Reihenfolge.«

[Schönberg, Arnold: Komposition mit zwölf Tönen [1935]. In: Schönberg, Arnold: Gesammelte Schriften I: Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik. Herausgegeben von Ivan Vojtěch. Nördlingen 1976, S. 72-96, hier S. 75.]


Alfred Döblin: Schriftstellerei und Dichtung:

»Ich will sprechen von dem epischen Wortkunstwerk und seinen Merkmalen. | Die Wortkunst hat es überaus viel schwerer als etwa die Malerei und Musik, um zur Kunst zu kommen. Das Ausgangsmaterial der Musik und der Malerei ist schon selbst hinreichend wirklichkeitsfremd. Auf Wirklichkeitsfremdheit, kraß: auf Unnatur kommt es ja an; es hat keinen Sinn und ist unmöglich, das Vorhandene zu wiederholen; etwas Neues, Menscheneigentümliches soll hervorgebracht werden. Besonders die Töne der Musik, ihre Herstellung, ihre Hervorbringung auf besonders konstruierten Instrumenten, ihre Aneinanderreihung nach künstlichen, vom Menschen gemachten Gesetzen, Tonleitern und so weiter sind glückliche und fruchtbare Bedingungen zur Erzeugung einer Kunst. Mit dem Wort aber steht es anders. Das Wort ist direkter Gebrauchsartikel. Wir sprechen und schreiben für Tagesbedürfnisse mit denselben Worten, mit denen wir zum Kunstwerk gelangen sollen. Wir sind also hier in einer besonders schwierigen Situation. Die Geburt einer Kunst aus dem Rohmaterial Wort ist offenbar schwerer als die aus dem Ton und aus der Farbe.«

[Döblin, Alfred: Schriftstellerei und Dichtung [Redefassung]. In: Döblin, Alfred: Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur. Herausgegeben von Erich Kleinschmidt. Olten und Freiburg im Breisgau 1989, S. 199-209, hier S. 202f.]


Kurt Schwitters: Anna Blume und andere:

»An Anna Blume
Merzgedicht 1

O du, Geliebte meiner siebenundzwanzig Sinne, ich
liebe dir! Du deiner dich dir, ich dir, du mir.
– Wir?
Das gehört (beiläufig) nicht hierher.
Wer bist du, ungezähltes Frauenzimmer? Du bist
– bist du? – Die Leute sagen, du wärest. – Laß
sie sagen, sie wissen nicht, wie der Kirchturm steht.
Du trägst den Hut auf deinen Füßen und wanderst
auf die Hände, auf den Händen wanderst du.
Hallo, deine roten Kleider, in weiße Falten zersägt,
Rot liebe ich Anna Blume, rot liebe ich dir. – Du
deiner dich dir, ich dir, du mir. – Wir?
Das gehört (beiläufig) in die kalte Glut.
Rote Blume, rote Anna Blume, wie sagen die Leute?
Preisfrage: 1.) Anna Blume hat ein Vogel,
2.) Anna Blume ist rot.
3.) Welche Farbe hat der Vogel.
Blau ist die Farbe deines gelben Haares,
Rot ist das Girren deines grünen Vogels.
Du schlichtes Mädchen im Alltagskleid, du liebes
grünes Tier, ich liebe Dir! – Du deiner dich dir, ich
dir, du mir, – Wir?
Das gehört (beiläufig) in die Glutenkiste.
Anna Blume, Anna, a-n-n-a, ich träufle deinen Namen.
Dein Name tropft wie weiches Rindertalg.
Weißt du es, Anna, weißt du es schon?
Man kann dich auch von hinten lesen, und du, du
Herrlichste von allen, du bist von hinten wie von
vorne: »a-n-n-a«.
Rindertalg träufelt streicheln über meinen Rücken.
Anna Blume, du tropfes Tier, ich liebe dir!«

[Schwitters, Kurt: Anna Blume und andere. Literatur und Grafik. Herausgegeben von Joachim Schreck. Köln 1986, S. 12.]


Hugo von Hofmannsthal: Poesie und Leben:

»Man lasse uns Künstler in Worten sein […].«

[Hofmannsthal, Hugo von: Poesie und Leben. In: Hofmannsthal, Hugo von: Der Brief des Lord Chandos. Schriften zur Literatur, Kunst und Geschichte. Herausgegeben von Mathias Mayer. Stuttgart 2000, S. 36-44, hier S. 41.]


»Es führt von der Poesie kein direkter Weg ins Leben, aus dem Leben keiner in die Poesie. Das Wort als Träger eines Lebensinhaltes und das traumhafte Bruderwort, welches in einem Gedicht stehen kann, streben auseinander und schweben fremd aneinander vorüber, wie die beiden Eimer eines Brunnens.«

[Hofmannsthal, Poesie und Leben (Anm. 21), S. 39.]


»[…] daß das Material der Poesie die Worte sind, daß ein Gedicht ein gewichtloses Gewebe aus Worten ist, die durch ihre Anordnung, ihren Klang und ihren Inhalt, indem sie die Erinnerung an Sichtbares und die Erinnerung an Hörbares mit dem Element der Bewegung verbinden, einen genau umschriebenen, traumhaft deutlichen, flüchtigen Seelenzustand hervorrufen, den wir Stimmung nennen.«

[Hofmannsthal, Poesie und Leben (Anm. 21), S. 39.]


Stéphane Mallarmé:

»Ce n’est pas avec des idées, mon cher Degas, que l’on fait des vers. C’est avec des mots.«

[Stéphane Mallarmé, zitiert in Valéry, Paul: Poésie et pensée abstraite. In: Valéry, Paul: Œuvres. Édition établie et annotée par Jean Hytier. Vol. I. Paris 1957 (Bibliothèque de la Pléiade 127, S. 1314-1339, hier S. 1324.]


Stéphane Mallarmé: La Musique et les Lettres:

»[…] oublions la vieille distinction, entre la Musique et les Lettres, n’étant que le partage, voulu, pour sa rencontre ultérieure, du cas premier: l’une évocatoire de prestiges situés à ce point de l’ouïe et presque de la vision abstrait, devenu l’entendement; qui, spacieux, accorde au feuillet d’imprimerie une portée égale.«

[Mallarmé, Stéphane: La Musique et les Lettres. In: Mallarmé: Œuvres complètes II. Édition présentée, établie et annotée par Bertrand Marchant. [Paris] 2003 (Bibliothèque de la Pléiade 497), S. 53-77, hier S. 69.]


Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief:

»Mein Fall ist, in Kürze, dieser: es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen. Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu besprechen und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte ›Geist‹, ›Seele‹ oder ›Körper‹ nur auszusprechen. […] die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgend welches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.«

[Hofmannsthal, Hugo von: Ein Brief. In: Hofmannsthal, Hugo von: Der Brief des Lord Chandos. Schriften zur Literatur, Kunst und Geschichte. Herausgegeben von Mathias Mayer. Stuttgart 2000, S. 46-59, hier S. 50f.]


»[…] mir erschien damals in einer Art von andauernder Trunkenheit das ganze Dasein als eine große Einheit: geistige und körperliche Welt schien mir keinen Gegensatz zu bilden, ebenso wenig höfisches und tierisches Wesen, Kunst und Unkunst, Einsamkeit und Gesellschaft; in allem fühlte ich Natur […].«

[Hofmannsthal, Ein Brief (Anm. 26), S. 49.]


»Mein Geist zwang mich, alle Dinge, die in einem solchen Gespräch vorkamen, in einer unheimlichen Nähe zu sehen: so wie ich einmal in einem Vergrößerungsglas ein Stück von der Haut meines kleinen Fingers gesehen hatte, das einem Blachfeld mit Furchen und Höhlen glich, so ging es mir nun mit den Menschen und ihren Handlungen. Es gelang mir nicht mehr, sie mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen. Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen, die mich anstarrten und in die ich wieder hinstarren muß: Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt.«

[Hofmannsthal, Ein Brief (Anm. 26), S. 52.]


»Seither führe ich ein Dasein, das Sie, fürchte ich, kaum begreifen können, so geistlos, so gedankenlos fließt es dahin; ein Dasein, das sich freilich von dem meiner Nachbarn […] kaum unterscheidet und das nicht ganz ohne freudige und belebende Augenblicke ist.«

[Hofmannsthal, Ein Brief (Anm. 26), S. 53.]


»Eine Gießkanne, eine auf dem Feld verlassene Egge, ein Hund in der Sonne, ein ärmlicher Kirchhof, ein Krüppel, ein kleines Bauernhaus, alles dies kann das Gefäß meiner Offenbarung werden. Jeder dieser Gegenstände und die tausend anderen ähnlichen, über die sonst ein Auge mit selbstverständlicher Gleichgültigkeit hinweggleitet, kann für mich plötzlich in irgend einem Moment, den herbeizuführen auf keine Weise in meiner Gewalt steht, ein erhabenes und rührendes Gepräge annehmen, das auszudrücken mir alle Worte zu arm scheinen. Ja, es kann auch die bestimmte Vorstellung eines abwesenden Gegenstandes sein, der die unbegreifliche Auserwählung zu teil wird, mit jener sanft oder jäh steigenden Flut göttlichen Gefühles bis an den Rand gefüllt zu werden.«

[Hofmannsthal, Ein Brief (Anm. 26), S. 53.]


»In diesen Augenblicken wird eine nichtige Kreatur, ein Hund, eine Ratte, ein Käfer, ein verkrümmter Apfelbaum, ein sich über den Hügel schlängelnder Karrenweg, ein moosbewachsener Stein mir mehr als die schönste, hingebendste Geliebte der glücklichsten Nacht mir je gewesen ist. Diese stummen und manchmal unbelebten Kreaturen heben sich mir mit einer solche Fülle, einer solchen Gegenwart der Liebe entgegen, daß mein beglücktes Auge auch ringsum auf keinen toten Fleck zu fallen vermag.«

[Hofmannsthal, Ein Brief (Anm. 26), S. 55.]


»Es ist mir dann, als bestünde mein Körper aus lauter Chiffern, die mir alles aufschließen. Oder als könnten wir in ein neues, ahnungsvolles Verhältnis zum ganzen Dasein treten, wenn wir anfingen, mit dem Herzen zu denken. Fällt aber diese sonderbare Bezauberung von mir ab, so weiß ich nichts darüber auszusagen […].«

[Hofmannsthal, Ein Brief (Anm. 26), S. 56.]


[Chandos wird in keiner Sprache mehr schreiben,] »nämlich weil die Sprache, in welcher nicht nur zu schreiben, sondern auch zu denken mir vielleicht gegeben wäre, weder die lateinische noch die englische noch die italienische oder spanische ist, sondern eine Sprache, von deren Worten mir auch nicht eines bekannt ist, eine Sprache, in welcher die stummen Dinge zu mir sprechen, und in welcher ich vielleicht einst im Grabe vor einem unbekannten Richter mich verantworten werde.«

[Hofmannsthal, Ein Brief (Anm. 26), S. 59.]