Vorlesung: Die Literatur des 20. Jahrhunderts (WS 2016/17)
Prof. Dr. Albert Meier

Die Literatur des 20. Jahrhunderts – Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz

Alfred Döblin (1878-1957) verfasste mehrere bedeutende Prosa-Werke wie Wallenstein (1920), November 1918 (1949/1950) und Hamlet oder die lange Nacht nimmt ein Ende (1956). Sein bekanntestes Werk ist Berlin Alexanderplatz (1929).

Literaturgeschichtlich wird Berlin Alexanderplatz als erster deutscher Großstadtroman zumeist der ›Neuen Sachlichkeit‹ zugeordnet, was jedoch nicht in jeder Hinsicht plausibel ist: Die beiden Hauptmerkmale der Neuen Sachlichkeit bestehen in der klaren Erfassung der Gegenwart sowie im Anspruch auf moralische Neutralität; obwohl Döblin in Berlin Alexanderplatz durchaus auf moralische Bewertungen verzichtet, widerspricht es in seiner narrativen Unübersichtlichkeit dem neusachlichen Prinzip darstellerischer Strenge. Döblins Erfolgsroman lässt sich besser als ›kubistisch‹ verstehen, d. h. als literarische Variante einer Maltechnik, die zuerst Picassos Les Demoiselles d´Avignon (1907) (externer Link) praktiziert hat:

›Entmimetisierung‹

Analog zur kubistischen (= gewissermaßen dreidimensionalen, geometrisch inspirierten) Malerei legt auch Döblin den Fokus auf ›Entmimetisierung‹, d. h. auf die Abgrenzung des künstlerischen Werks gegen die Lebensrealität, indem er die Konstruiertheit des Dargestellten offenlegt. So wie sich Picasso am ›Material‹ einer Bordell-Szene bedient, nutzt Döblin das Berlin der späten 20er Jahre als Sprachmaterial für seine Wortkunst (wenn Picasso die Frauenfigur rechts unten gleichzeitig von vorne wie von hinten zeigt und so die traditionelle Zentralperspektive verweigert, erzählt Döblin z. B. gegen die Chronologie, indem er Franz Biberkopfs Unfall aus unterschiedlicher Perspektive bei desorientierenden Zeitsprüngen schildert).

Alfred Döblin hat in poetologischen Stellungnahmen betont, dass das »Literarische und die Realität Widersprüche in sich sind« und sein müssen, damit die Wortkunst bestehen kann. Literatur hat daher ›wirklichkeitsfremd‹ zu sein, um sich wie Musik und Bildende Künste in ihrer ästhetischen Autonomie zu manifestieren. Döblin realisiert dies durch vielfältige Strategien poetischer Verfremdung: Einsatz mythologischer Versatzstücke, selbstreferenzielle Einschübe, Ironisierung usw.

›Montage‹ und ›Collage‹

Charakteristisch für Berlin Alexanderplatz ist die konsequente ›Montage‹, die dieses Leitprinzip aller modernen Kunst narrativ umsetzt. Ganz konkret arbeitet Döblin auch mit dem Prinzip der ›Collage‹, indem er z. B. Zeitungsausschnitte (Wetterbericht) in das Manuskript einklebt. Diese Collage-Technik ist jedoch nur am Manuskript evident, während sie sich im Druckbild kaum mehr bemerken lässt (ähnlich wie bei der Fotografie einer echten Collage).

» ›Literarisch‹ und ›Realität‹ sind Widersprüche in sich (..)«

[Döblin, Alfred: Schriftstellerei und Dichtung [Redefassung]. In: Döblin, Alfred: Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur. Herausgegeben von Erich Kleinschmidt. Olten und Freiburg im Breisgau 1989, S. 199-209, hier S. 203.]


Bildquelle:

https://en.wikipedia.org/wiki/Les_Demoiselles_d%27Avignon

Döblin, Alfred: An Romanautoren:

»Man lerne von der Psychiatrie, der einzigen Wissenschaft, die sich mit dem seelischen ganzen Menschen befaßt; sie hat das Naive der Psychologie längst erkannt, beschränkt sich auf die Notierung der Abläufe, Bewegungen, – mit einem Kopfschütteln, Achselzucken für das Weitere und das ›Warum‹ und das ›Wie‹.«

[Döblin, Alfred: An Romanautoren und ihre Kritiker. Berliner Programm. In: Döblin, Alfred: Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur. Herausgegeben von Erich Kleinschmidt. Olten und Freiburg im Breisgau 1989, S. 119-123, hier S. 120f.]


Döblin, Alfred: Schriftstellerei und Dichtung:

»Wenn einige sagen oder gesagt haben, man habe im Literarischen möglichst Realitäten abzuspiegeln oder meinetwegen Realitäten in konzentrierter Form zu geben, so irren sie, weil es keine literarische Realität gibt. ›Literarisch‹ und ›Realität‹ sind Widersprüche in sich. Die Literatur tut etwas zur Realität, die unser tägliches Wortmaterial gibt, hinzu, die Daten der Realität werden benutzt, um zu zeigen, daß man zusetzt und wo man zusetzt und was man zusetzt. Ich will, wie man sieht, hier das unangenehme Wort schöpferisch vermeiden, es handelt sich hier um die Charakterisierung des ›Schöpferischen‹, für unsere Zwecke genügt da der einfache Ausdruck: Zusatz zur Realität.«

[Döblin, Alfred: Schriftstellerei und Dichtung [Redefassung]. In: Döblin, Alfred: Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur. Herausgegeben von Erich Kleinschmidt. Olten und Freiburg im Breisgau 1989, S. 199-209, hier S. 203.]


»Jedenfalls beginnt jede Produktion dichterischer Art mit dem Willen zur Entfernung von der Realität. Erst dann kann folgen, was man die Bearbeitung des Stoffes nennt, – denn dieses unser ›Wortmaterial‹ ist der eigentliche ›Stoff‹ der Dichtung.«

[Döblin: Schriftstellerei und Dichtung (Anm. 2), S. 203f.]


»Die Wortkunst hat es überaus viel schwerer als etwa die Malerei und Musik, um zur Kunst zu kommen. Das Ausgangsmaterial der Musik und der Malerei ist schon selbst hinreichend wirklichkeitsfremd. Auf Wirklichkeitsfremdheit, kraß: auf Unnatur kommt es ja an; es hat keinen Sinn und ist unmöglich, das Vorhandene zu wiederholen; etwas Neues, Menscheneigentümliches soll hervorgebracht werden. Besonders die Töne der Musik, ihre Herstellung, ihre Hervorbringung auf besonders konstruierten Instrumenten, ihre Aneinanderreihung nach künstlichen, vom Menschen gemachten Gesetzen, Tonleitern und so weiter sind glückliche und fruchtbare Bedingungen zur Erzeugung einer Kunst. Mit dem Wort aber steht es anders. Das Wort ist direkter Gebrauchsartikel. Wir sprechen und schreiben für Tagesbedürfnisse mit denselben Worten, mit denen wir zum Kunstwerk gelangen sollen. Wir sind also hier in einer besonders schwierigen Situation. Die Geburt einer Kunst aus dem Rohmaterial Wort ist offenbar schwerer als die aus dem Ton und der Farbe.«

[Döblin: Schriftstellerei und Dichtung (Anm. 2), S. 202f.]


Döblin, Alfred: Krise des Romans? :

»Der Roman ist im Begriff, flötenzugehen. Die Autoren hauen aber gänzlich vorbei. Es ist schon etwas am Roman, nur sehen sie es nicht. Das Entscheidende nämlich ist: der Roman ist eine Kunstgattung. […] Der Roman muß nicht zur Philosophie, sondern zur Kunstform gebracht werden.«

[Döblin, Alfred: Krise des Romans? In: Döblin, Alfred: Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur. Herausgegeben von Erich Kleinschmidt. Olten/Freiburg im Breisgau 1989 (Ausgewählte Werke in Einzelbänden), S. 274-276, hier S. 275.]


Döblin, Alfred: An Romanautoren:

»Der Psychologismus, der Erotismus muß fortgeschwemmt werden; Entselbstung, Entäußerung des Autors, Depersonation. Die Erde muß wieder dampfen. Los vom Menschen! Mut zur kinetischen Phantasie und zum Erkennen der unglaublichen realen Konturen! Tatsachenphantasie! Der Roman muß seine Wiedergeburt erleben als Kunstwer[k] und modernes Epos.«

[Döblin: An Romanautoren (Anm. 1), S. 123.]


Döblin, Alfred: Berlin Alexanderplatz:

»Da marschiert Franz Biberkopf durch die Straßen, mit festem Schritt, links rechts, links rechts, keine Müdigkeit vorschützen, keine Kneipe, nichts saufen, wir wollen sehen, eine Kugel kam geflogen, das wollen wir sehen, krieg ich sie, liege ich, links rechts, links rechts. Trommelgerassel und Bataillone. Endlich atmet er auf.

Es geht durch Berlin. Wenn die Soldaten durch die Stadt marschieren, eiwarum, eidarum, ei bloß wegen dem Tschingdarada bumdara, ei bloß wegen dem Tschingdarada, dada.

Die Häuser stehen still, der Wind weht wo er will. Eiwarum, eidarum, ei bloß wegen dem Tschingdarada.«

[Döblin, Alfred: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf. Herausgegeben von Werner Stauffacher. Zürich und Düsseldorf 1996, S. 291f.]


Döblin, Alfred: An Romanautoren und ihre Kritiker:

»Die Darstellung erfodert bei der ungeheuren Menge des Geformten einen Kinostil. In höchster Gedrängtheit und Präzision hat ›die Fülle der Gesichte[‹] vorbeizuziehen. Der Sprache das Äußerste der Plastik und Lebendigkeit abzuringen. Der Erzählerschlendrian hat im Roman keinen Platz; man erzählt nicht, sondern baut. Der Erzähler hat eine bäurische Vertraulichkeit. Knappheit, Sparsamkeit der Worte ist nötig; frische Wendungen.«

[Döblin: An Romanautoren (Anm. 1), S. 121f.]


Döblin, Alfred: Bemerkungen zum Roman:

»Der Tagesroman wird sich nicht eher erholen, als der Grundsatz zum Durchbruch kommt: mulier taceat, zu deutsch: die Liebe hat ein Ende. Der geschmähte Räuberroman, Karl May, die Schundliteratur ist besser. Sie quillt stärker, breiter, auch aus stärkeren, reicheren und reineren Instinkten.«

[Döblin, Alfred: Bemerkungen zum Roman. In: Döblin, Alfred: Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur. Herausgegeben von Erich Kleinschmidt. Olten und Freiburg im Breisgau 1989, S. 123-127, hier S. 127.]


Döblin, Alfred: Berlin Alexanderplatz:

»Franz war schon draußen auf der Straße im Regen. Wat machen wir? Ick bin frei. Ick muß ein Weib haben. Ein Weib muß ick haben. […] / Das schwammige Weib lachte aus vollem Hals. Sie knöpfte sich oben die Bluse auf. Es waren zwei Königskinder, die hatten einander so lieb. Wenn der Hund mit der Wurst übern Rinnstein springt. Sie griff ihn, drückte ihn an sich. Putt, putt, putt, mein Hühnchen, putt, putt, putt, mein Hahn.«

[Döblin: Berlin Alexanderplatz (Anm. 7), S. 33f.]


»Er fiel ab ins Bett, grunzte, stöhnte. Sie rieb sich den Hals: ›Ich lach mir schief. Bleib man ruhig liegen. Mir störste nich.‹ Sie lachte, hob ihre fetten Arme, steckte die Füße mit Strümpfen aus dem Bett: ›Ick kann nischt dafür.‹ / Raus auf die Straße! Luft! Regnet noch immer. Was ist nur los? Ich muß mir ne andre nehmen. Erst mal ausschlafen. Franz, wat ist denn mit dir los? / Die sexuelle Potenz kommt zustande durch das Zusammenwirken 1. des innersekretorischen Systems, 2. des Nervensystems und 3. des Geschlechtsapparates. Die an der Potenz beteiligten Drüsen sind: Hirnanhang, Schilddrüse, Nebenniere, Vorsteherdrüse, Samenblase und Nebenhoden. In diesem System überwiegt die Keimdrüse. Durch den von ihr bereiteten Stoff wird der gesamte Sexualapparat von der Hirnrinde bis zum Genitale geladen. Der erotische Eindruck bringt die erotische Spannung der Hirnrinde zur Auslösung, der Strom wandert als erotische Erregung von der Hirnrinde zum Schaltzentrum im Zwischenhirn. Dann rollt die Erregung zum Rückenmark hinab. Nicht ungehemmt, denn ehe sie das Gehirn verläßt, muß sie die Bremsfedern der Hemmungen passieren, jene vorwiegend seelischen Hemmungen, die als Moralbedenken, Mangel an Selbstvertrauen, Angst vor Blamage, Ansteckungs- und Schwängerungsfurcht und dergleichen mehr eine große Rolle spielen.«

[Döblin: Berlin Alexanderplatz (Anm. 7), S. 34f.]


»Und er greift seinen Hut und runter die Treppe, mit der 68 zum Alexanderplatz und brütet im Lokal über einem Glas Helles. / Testifortan, geschütztes Warenzeichen Nr. 365695, Sexualtherapeutikum nach Sanitätsrat Dr. Magnus Hirschfeld und Dr. Bernhard Schapiro, Institut für Sexualwissenschaft, Berlin. Die Hauptursachen der Impotenz sind: A. ungenügende Ladung durch Funktionsstörung der innersekretorischen Drüsen; B. zu großer Widerstand durch überstarke psychische Hemmungen, Erschöpfung des Erektionszentrums. Wann der Impotente die Versuche wieder aufnehmen soll, kann nur individuell aus dem Verlauf des Falls bestimmt werden. Eine Pause ist oft wertvoll.«

[Döblin: Berlin Alexanderplatz (Anm. 7), S. 36f.]


»Gestorben ist in dieser Abendstunde Franz Biberkopf, ehemals Transportarbeiter, Einbrecher, Ludewig, Totschläger. Ein anderer ist in dem Bett gelegen. Der andere hat dieselben Papiere wie Franz, sieht aus wie Franz, aber in einer anderen Welt trägt er einen neuen Namen. | Das also ist der Untergang des Franz Biberkopf gewesen, den ich beschreiben wollte vom Auszug Franzens aus der Strafanstalt Tegel bis zu seinem Ende in der Irrenanstalt Buch im Winter 1928-29. | Jetzt hänge ich noch an einen Bericht von den ersten Stunden und Tagen eines neuen Menschen, der dieselben Papiere hat wie er.«

[Döblin: Berlin Alexanderplatz (Anm. 7), S. 442.]


Döblin, Alfred: Berlin Alexanderplatz:

»Das furchtbare Ding, das sein Leben war, bekommt einen Sinn. Es ist eine Gewaltkur mit Franz Biberkopf vollzogen. Wir sehen am Schluß den Mann wieder am Alexanderplatz stehen, sehr verändert, ramponiert, aber doch zurechtgebogen. | Dies zu betrachten und zu hören wird sich für viele lohnen, die wie Franz Biberkopf in einer Menschenhaut wohnen und denen es passiert wie diesem Franz Biberkopf, nämlich vom Leben mehr zu verlangen als das Butterbrot.«

[Döblin: Berlin Alexanderplatz (Anm. 7), S. 11f.]


»Ein Verbrecher, seinerzeit gottverfluchter Mann (woher weißt du, mein Kind?) am Altar, Orestes, hat Klytämnestra totgeschlagen, kaum auszusprechen der Name, immerhin seine Mutter. (An welchem Altar meinen Sie denn? Bei uns können Sie ne Kirche suchen, die nachts auf ist.) Ich sage, veränderte Zeiten. Hoi ho hatz, schreckliche Bestien, Zottelweiber mit Schlangen, ferner Hunde ohne Maulkorb, eine ganze unsympathische Menagerie, die schnappen nach ihm, kommen aber nicht ran, weil er am Altar steht, das ist eine antike Vorstellung, und dann tanzt das ganze Pack verärgert um ihn, Hunde immer mitten mang. […] | Franz Biberkopf hetzen sie nicht. Sprechen wir es aus, gesegnete Mahlzeit, er trinkt bei Henschke oder woanders, die Binde in der Tasche, eine Molle nach der andern und einen Doornkaat dazwischen, daß ihm das Herz aufgeht. So unterscheidet sich der Möbeltransportör und so weiter, Zeitungshändler Franz Biberkopf aus Berlin NO Ende 1927 von dem berühmten alten Orestes. Wer möchte nicht lieber in wessen Haut stecken.«

[Döblin: Berlin Alexanderplatz (Anm. 7), S. 98.]


»Es war dreiviertel 10. Ein furchtbarer Sonntag. Um diese Zeit lag Franz schon in einer andern Stadtgegend auf dem Boden, den Kopf im Rinnstein, die Beine auf dem Trottoir. || Franz geht die Treppe runter. […]«

[Döblin: Berlin Alexanderplatz (Anm. 7), S. 201.]


»Franz sitzt mit dem Langen in der Prenzlauer Straße in einem schwachbeleuchteten Hausflur; nur zwei Nummern weiter ist das Haus, wo nach cirka 4 Stunden ein Dicker ohne Hut raustreten wird und Cilly anquatschen wird; sie geht weiter, den nächsten wird sie bestimmt nehmen, son Schuft, der Franz, Gemeinheit.«

[Döblin: Berlin Alexanderplatz (Anm. 7), S. 204.]


» […] und Schlag ein Uhr mittags, also 13 Uhr, schmiß Reinhold die überfällige Trude aus seiner Stube, die seßhaft war und nicht wollte. Wie wohl ist mir am Wochenend, tulli tulli, wenn der Ziegenbock zur Ziege rennt, tulli tulli. Ein anderer Erzähler hätte dem Reinhold wahrscheinlich jetzt eine Strafe zugedacht, aber ich kann nichts dafür, die erfolgte nicht.«

[Döblin: Berlin Alexanderplatz (Anm. 7), S. 218.]


»Keiner, der mit Franz geht, bis auf einen, sieht, wie er die Bestie hat gestaucht, daß sie kraucht und raucht und hinter ihm faucht.«

[Döblin: Berlin Alexanderplatz (Anm. 7), S. 357]