Vorlesung: Johann Wolfgang Goethe (SoSe 2017)
Prof. Dr. Albert Meier

Johann Wolfgang Goethe – Wilhelm Meisters Wanderjahre / Novelle

Goethes ›Altersstil‹ lässt sich am besten mit dem Stichwort Gelassenheit beschreiben. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch seine Überzeugung, dass Literatur umso poetischer ist, je weniger sie sich rational/begrifflich erfassen lässt. (Einen entsprechenden Ausspruch Goethes hat Eckermann aufgezeichnet; siehe unten.)

Goethes vierter und letzter Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden, die Fortsetzung von Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96), liegt in zwei Versionen vor: in der fragmentarischen Erstfassung von 1821 sowie in der gründlich umgearbeiteten und erweiterten Zweitfassung von 1829.

Dabei ist die Geschichte Wilhelm Meisters, der sich nach Vorschrift der Turmgesellschaft gemeinsam mit seinem Sohn Felix auf steter Wanderschaft befindet, als roter Faden zu verstehen, den ein ›Redakteur‹ als Rahmenhandlung nutzt, die zahlreiche Novellen sowie zwei Aphorismen-Sammlungen umschließt (all dieses Text-Material ist der Erzählfiktion zufolge ›Makariens Archiv‹ entnommen, zu dem auch Wilhelm Meister Zugang gehabt haben soll).

Auf diese Weise lässt sich der Roman auch als eine Art ›Novellensammlung‹ nach dem Muster von Boccaccios Decameron (um 1350 entstanden) begreifen, die unterschiedlichste Erzählstile zur Geltung bringt und textintern auf hochkomplexe Weise vernetzt ist.

Entscheidend ist dabei die zentrale Schreibstrategie, das Erzählte als ›vergangen‹ zu präsentieren, d. h. in seiner mehrfachen Vermitteltheit als überlieferter ›Text‹ (deutlich z. B. in der einleitenden Begegnung Wilhelms mit einer Familie, die in jeder Hinsicht der neutestamentlichen Episode (›Flucht nach Ägypten‹) um Maria, Joseph und das Jesuskind entspricht; dieses ›Erlebnis‹ erweist sich im Dritten Kapitel als nachträgliche Schilderung des Geschehens in einem Brief Wilhelms an Natalie, den der ›Redakteur‹ in seinen Erzählfluss integriert hat).

[…] ich für meine Person finde es nicht erfreulich; andere sehen es wenigstens zweifelnd an und mögen sich nicht gern darüber äußern.

[Goethe, Johann Wolfgang: An Johann Heinrich Meyer, 15. 9. 1826. In: Briefe von und an Goethe. Desgleichen Aphorismen und Brocardica. Herausgegeben von Dr. Friedrich Wilhelm Riemer. Leipzig 1846. S. 127]


Bedenkt: der Teufel der ist alt, | So werdet alt, ihn zu verstehn!

[Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Der Tragödie zweiter Teil. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Richter, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 18.1: Letzte Jahre. 1827-1832 (1). Herausgegeben von Gisela Henckmann und Dorothea Hölscher-Lohmeyer. München – Wien 1997, S. 103-351, hier S. 176.]


Vielmehr bin ich der Meinung: je inkommensurabeler und für den Verstand unfaßlicher eine poetische Produktion, desto besser.

[Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 19. Herausgegeben von Heinz Schlaffer. München – Wien 1986, S. 572.]


Zusammenhang, Ziel und Zweck liegt innerhalb des Büchleins selbst; ist es nicht aus Einem Stück, so ist es doch aus Einem Sinn.

[Goethe, Johann Wolfgang: An Joseph Stanislaus Zauper, 7. 9. 1821 In: Goethe. Goethes Briefe und Briefe an Goethe Bd. 4: Briefe der Jahre 1821-1832. Herausgegeben von Karl Robert Mandelkow und Bodo Morawe. München 2017. S. 7-10, hier S. 8.]


Dem einsichtigen Leser bleibt Ernst und Sorgfalt nicht verborgen, womit ich diesen zweiten Versuch, so disparate Elemente zu vereinigen, angefaßt und durchgeführt.

[Goethe, Johann Wolfgang: An Sulpiz Boisserée, 2. 9. 1829 In: Goethe. Goethes Briefe und Briefe an Goethe Bd. 4: Briefe der Jahre 1821-1832. Herausgegeben von Karl Robert Mandelkow und Bodo Morawe. München 2017. S. 340f., hier S. 340.]


Unbedingte Tätigkeit, von welcher Art sie sei, macht zuletzt bankerott.

[Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden (1829). In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 17: Wilhelm Meisters Wanderjahre / Maximen und Reflexionen. Herausgegeben von Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann und Johannes John. München – Wien 1991, S. 239-714, hier S. 516.]


Einbildungskraft wird nur durch Kunst, besonders durch Poesie geregelt. Es ist nichts fürchterlicher als Einbildungskraft ohne Geschmack.

[Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden (1829). In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 17: Wilhelm Meisters Wanderjahre / Maximen und Reflexionen. Herausgegeben von Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann und Johannes John. München – Wien 1991, S. 239-714, hier S. 523.]


Um zu begreifen, daß der Himmel überall blau ist, braucht man nicht um die Welt zu reisen.

[Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden (1829). In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 17: Wilhelm Meisters Wanderjahre / Maximen und Reflexionen. Herausgegeben von Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann und Johannes John. München – Wien 1991, S. 239-714, hier S. 532.]


Makarie befindet sich zu unserm Sonnensystem in einem Verhältnis, welches man auszusprechen kaum wagen darf. Im Geiste, der Seele, der Einbildungskraft hegt sie, schaut sie es nicht nur, sondern sie macht gleichsam einen Teil desselben; sie sieht sich in jenen himmlischen Kreisen mit fortgezogen, aber auf eine ganz eigene Art; sie wandelt seit ihrer Kindheit um die Sonne, und zwar, wie nun entdeckt ist, in einer Spirale, sich immer mehr vom Mittelpunkt entfernend und nach den äußeren Regionen hinkreisend.

[Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden (1829). In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 17: Wilhelm Meisters Wanderjahre / Maximen und Reflexionen. Herausgegeben von Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann und Johannes John. München – Wien 1991, S. 239-714, hier S. 676f.]


Zu diesem Punkte aber können wir der Versuchung nicht widerstehen, ein Blatt aus unsern Archiven mitzuteilen welches Makarien betrifft und die besondere Eigenschaft die ihrem Geiste erteilt war. Leider ist dieser Aufsatz erst lange Zeit, nachdem der Inhalt mitgeteilt worden aus dem Gedächtnis geschrieben und nicht, wie es in einem so merkwürdigen Fall wünschenswert wäre, für ganz authentisch anzusehen.

[Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden (1829). In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 17: Wilhelm Meisters Wanderjahre / Maximen und Reflexionen. Herausgegeben von Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann und Johannes John. München – Wien 1991, S. 239-714, hier S. 676.]


Alle Gesetze sind von Alten und Männern gemacht. Junge und Weiber wollen die Ausnahme, Alte die Regel.

[Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden (1829). In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 17: Wilhelm Meisters Wanderjahre / Maximen und Reflexionen. Herausgegeben von Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann und Johannes John. München – Wien 1991, S. 239-714, hier S. 698.]


Einer neuen Wahrheit ist nichts schädlicher als ein alter Irrtum.

[Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden (1829). In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 17: Wilhelm Meisters Wanderjahre / Maximen und Reflexionen. Herausgegeben von Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann und Johannes John. München – Wien 1991, S. 239-714, hier S. 702.]


Wer lange in bedeutenden Verhältnissen lebt, dem begegnet freilich nicht alles was dem Menschen begegnen kann; aber doch das Analoge, und vielleicht einiges was ohne Beispiel war.

[Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden (1829). In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 17: Wilhelm Meisters Wanderjahre / Maximen und Reflexionen. Herausgegeben von Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann und Johannes John. München – Wien 1991, S. 239-714, hier S. 713.]


Der Epiker und Dramatiker sind beide den allgemeinen poetischen Gesetzen unterworfen, besonders dem Gesetze der Einheit und dem Gesetze der Entfaltung; ferner behandeln sie beide ähnliche Gegenstände, und können beide alle Arten von Motiven brauchen; ihr großer wesentlicher Unterschied beruht aber darin, daß der Epiker die Begebenheiten als vollkommen vergangen vorträgt, und der Dramatiker sie als vollkommen gegenwärtig darstellt.

[Goethe, Johann Wolfgang: Über epische und dramatische Dichtung. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 4.2: Wirkungen der Französischen Revolution 1791-1797. Teil 2. Herausgegeben von Klaus H. Kiefer, Hans J. Becker, Gerhard H. Müller, John Neubauer und Peter Schmidt. München – Wien 1986, S. 126-128, hier S. 126.]


Im Schatten eines mächtigen Felsen saß Wilhelm an grauser, bedeutender Stelle […].

[Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden (1829). In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 17: Wilhelm Meisters Wanderjahre / Maximen und Reflexionen. Herausgegeben von Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann und Johannes John. München – Wien 1991, S. 239-714, hier S. 241.]


Schon hatte der Wanderer, seinem Boten auf dem Fuße folgend, steile Felsen hinter und über sich gelassen […].

[Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden (1829). In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 17: Wilhelm Meisters Wanderjahre / Maximen und Reflexionen. Herausgegeben von Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann und Johannes John. München – Wien 1991, S. 239-714, hier S. 247.]


So eben schließe ich eine angenehme, halb wunderbare Geschichte, die ich für dich aus dem Munde eines wackern Mannes aufgeschrieben habe.

[Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden (1829). In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 17: Wilhelm Meisters Wanderjahre / Maximen und Reflexionen. Herausgegeben von Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann und Johannes John. München – Wien 1991, S. 239-714, hier S. 261.]


»So vergingen einige Jahre,« fuhr der Erzähler fort; »ich begriff die Vorteile des Handwerks sehr bald …«

[Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden (1829). In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 17: Wilhelm Meisters Wanderjahre / Maximen und Reflexionen. Herausgegeben von Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann und Johannes John. München – Wien 1991, S. 239-714, hier S. 254.]


Er nannte ihn Montan und du kannst denken, daß ich mich freute, diesen Namen zu hören unter dem einer von unsern besten Freunden reist, dem wir so manches schuldig sind. Indem ich nach Zeit und Umständen fragte, kann ich hoffen, ihn auf meiner Wanderung bald zu treffen. || Die Nachricht, daß Montan sich in der Nähe befinde, hatte Wilhelmen nachdenklich gemacht. Er überlegte […].

[Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden (1829). In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 17: Wilhelm Meisters Wanderjahre / Maximen und Reflexionen. Herausgegeben von Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann und Johannes John. München – Wien 1991, S. 239-714, hier S. 263.]


Ihr heutiger Brief deutet mir eigentlich auf eine Fortsetzung des Werks, wozu ich denn auch wohl Idee und Lust habe, doch davon eben mündlich. Was rückwärts notwendig ist muß getan werden, so wie man vorwärts deuten muß, aber es müssen Verzahnungen stehen bleiben, die, so gut wie der Plan selbst, auf eine weitere Fortsetzung deuten.

[Goethe, Johann Wolfgang: An Friedrich Schiller, 12. 7. 1796. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 8.1 (Text).: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. Herausgegeben von Manfred Beetz. München – Wien 1990, S. 217.]


Morgens um ½7 Uhr angefangen, von Wilhelm Meisters Wanderjahren das erste Capitel zu dictiren.

[Goethe, Johann Wolfgang: Tagebuch, 17. 5. 1807. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 17: Wilhelm Meisters Wanderjahre / Maximen und Reflexionen. Herausgegeben von Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann und Johannes John. München – Wien 1991, S. 1016.]


An kleineren Geschichten, ersonnen, angefangen, fortgesetzt, ausgeführt, war diese Jahrszeit reich; sie sollten alle durch einen romantischen Faden unter dem Titel: Wilhelm Meisters Wanderjahre zusammengeschlungen, ein wunderlich anziehendes Ganze bilden.

[Goethe, Johann Wolfgang: Tag- und Jahres-Hefte (›1807‹). In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 17: Wilhelm Meisters Wanderjahre / Maximen und Reflexionen. Herausgegeben von Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann und Johannes John. München – Wien 1991, S. 1016f.]


Die wunderlichen Schicksale, welche dies Büchlein bei seinem ersten Auftreten erfahren mußte, gaben dem Verfasser guten Humor und Lust genug, dieser Produktion neue, doppelte Aufmerksamkeit zu schenken. Es unterhielt ihn, das Werklein von Grund aus aufzulösen und wieder neu aufzubauen, so daß nun in einem ganz Anderen dasselbe wieder erscheinen wird.

[Goethe, Johann Wolfgang: Anzeige der sämtlichen Werke, 1. 2. 1826. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 17: Wilhelm Meisters Wanderjahre / Maximen und Reflexionen. Herausgegeben von Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann und Johannes John. München – Wien 1991, S. 1021.]


Wir müssen ehrlich sein, und, um dem Dichter nicht unrecht zu tun, die Wanderjahre sogleich, auch in ihrer jetzigen Gestalt noch, für ein unausgearbeitetes Fragment, das nur in einzelnen Partien mehr oder weniger ausgebildet und vollendet erscheint, erklären. Es ist zusammengetragenes Material […].

[Theodor Mundt (1830). In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 17: Wilhelm Meisters Wanderjahre / Maximen und Reflexionen. Herausgegeben von GonthierLouis Fink, Gerhart Baumann und Johannes John. München – Wien 1991, S. 1045.]


Nicht über drei Tage soll ich unter Einem Dache bleiben. Keine Herberge soll ich verlassen, ohne daß ich mich wenigstens eine Meile von ihr entferne.

[Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden (1829). In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 17: Wilhelm Meisters Wanderjahre / Maximen und Reflexionen. Herausgegeben von Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann und Johannes John. München – Wien 1991, S. 239-714, hier S. 246.]


Mag doch der Redakteur dieser Bogen hier selbst gestehen: daß er mit einigem Unwillen diese wunderliche Stelle durchgehen läßt.

[Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden (1829). In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 17: Wilhelm Meisters Wanderjahre / Maximen und Reflexionen. Herausgegeben von Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann und Johannes John. München – Wien 1991, S. 239-714, hier S. 488.]


Wenn wir aber uns bewogen finden diesen werten Mann nicht lesen zu lassen, so werden es unsere Gönner wahrscheinlich geneigt aufnehmen, denn was oben gegen das Verweilen Wilhelms bei dieser Unterhaltung gesagt worden, gilt noch mehr in dem Falle, in welchem wir uns befinden. Unsere Freunde haben einen Roman in die Hand genommen, und wenn dieser hie und da schon mehr als billig didaktisch geworden, so finden wir doch geraten, die Geduld unserer Wohlwollenden nicht noch weiter auf die Probe zu stellen.

[Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden (1829). In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 17: Wilhelm Meisters Wanderjahre / Maximen und Reflexionen. Herausgegeben von Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann und Johannes John. München – Wien 1991, S. 239-714, hier S. 350.]


Und in eben diesem Sinne hält der Sammler und Ordner dieser Papiere mit andern Anordnungen zurück, welche unter der Gesellschaft selbst noch als Probleme zirkulieren und welche zu versuchen man vielleicht an Ort und Stelle nicht rätlich findet; um desto weniger Beifall dürfte man sich versprechen, wenn man derselben hier umständlich erwähnen wollte.

[Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden (1829). In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 17: Wilhelm Meisters Wanderjahre / Maximen und Reflexionen. Herausgegeben von Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann und Johannes John. München – Wien 1991, S. 239-714, hier S. 636.]


Daß ich dir’s mit einem Worte sage, mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch und meine Absicht. […] Ich habe nun einmal gerade zu jener harmonischen Ausbildung meiner Natur, die mir meine Geburt versagt, eine unwiderstehliche Neigung.

[Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman. Herausgegeben von Hans-Jürgen Schings. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 5. München – Wien 1988, S. 288.]


Vielseitigkeit bereitet eigentlich nur das Element vor, worin der Einseitige wirken kann, dem eben jetzt genug Raum gegeben ist. Ja, es ist jetzo die Zeit der Einseitigkeiten; wohl dem, der es begreift, für sich und andere in diesem Sinne wirkt. […] Sich auf ein Handwerk zu beschränken, ist das Beste. Für den geringsten Kopf wird es immer ein Handwerk, für den besseren eine Kunst, und der beste, wenn er eins tut, tut er alles, oder, um weniger paradox zu sein, in dem einen, was er recht tut, sieht er das Gleichnis von allem, was recht getan wird.

[Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden (1829). In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 17: Wilhelm Meisters Wanderjahre / Maximen und Reflexionen. Herausgegeben von Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann und Johannes John. München – Wien 1991, S. 239-714, hier S. 270.]


Im Athemholen sind zweyerley Gnaden: | Die Luft einziehn, sich ihrer entladen. | Jenes bedrängt, dieses erfrischt; | So wunderbar ist das Leben gemischt. | Du dancke Gott wenn er dich preßt, | Und danck ihm wenn er dich wieder entläßt.

[Goethe, Johann Wolfgang: Im Athemholen. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 11.1.1: Divan-Jahre 1814-1819 I. Hrsg. von Karl Richter und Christoph Michel. München – Wien 1998, S. 78.]


Wilhelm an Natalien | Schon Tage geh’ ich umher und kann die Feder anzusetzen mich nicht entschließen; es ist so mancherlei zu sagen, mündlich fügte sich wohl eins ans andere, entwickelte sich auch wohl leicht eins aus dem andern; laß mich daher, den Entfernten, nur mit dem allgemeinsten beginnen, es leitet mich doch zuletzt aufs Wunderliche was ich mitzuteilen habe. | Du hast von dem Jüngling gehört, der, am Ufer des Meeres spazierend, einen Ruderpflock fand, das Interesse das er daran nahm bewog ihn ein Ruder anzuschaffen, als notwendig dazu gehörend. Dies aber war nun auch weiter nichts nütze; er trachtete ernstlich nach einem Kahn und gelangte dazu. Jedoch war Kahn, Ruder und Ruderpflock nicht sonderlich fördernd, er verschaffte sich Segelstangen und Segel und so nach und nach, was zur Schnelligkeit und Bequemlichkeit der Schiffahrt erforderlich ist. Durch zweckmäßiges Bestreben gelangt er zu größerer Fertigkeit und Geschicklichkeit, das Glück begünstigt ihn, er sieht sich endlich als Herr und Patron eines größern Fahrzeugs und so steigert sich das Gelingen, er gewinnt Wohlhaben, Ansehen und Namen unter den Seefahrern. –

[Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden (1829). In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 17: Wilhelm Meisters Wanderjahre / Maximen und Reflexionen. Herausgegeben von Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann und Johannes John. München – Wien 1991, S. 239-714, hier S. 497f.]


Der Angewöhnung des werten Publikums zu schmeicheln, welches seit geraumer Zeit Gefallen findet sich stückweise unterhalten zu lassen, gedachten wir erst nachstehende Erzählung in mehreren Abteilungen vorzulegen. Der innere Zusammenhang jedoch, nach Gesinnungen, Empfindungen und Ereignissen betrachtet, veranlaßte einen fortlaufenden Vortrag. Möge derselbe seinen Zweck erreichen und zugleich am Ende deutlich werden, wie die Personen dieser abgesondert erscheinenden Begebenheit mit denjenigen die wir schon kennen und lieben aufs innigste zusammengeflochten werden.

[Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden (1829). In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 17: Wilhelm Meisters Wanderjahre / Maximen und Reflexionen. Herausgegeben von Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann und Johannes John. München – Wien 1991, S. 239-714, hier S. 398.]


Der Garten war in seiner vollen Frühlingspracht, und der Major, der so viele alte Bäume sich wieder belauben sah, konnte auch an die Wiederkehr seines eignen Frühlings glauben. Und wer hätte sich nicht in der Gegenwart des liebenswürdigsten Mädchens dazu verführen lassen!

[Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden (1829). In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 17: Wilhelm Meisters Wanderjahre / Maximen und Reflexionen. Herausgegeben von Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann und Johannes John. München – Wien 1991, S. 239-714, hier S. 400f.]


Der Major mußte sich also gefallen lassen, daß sein Haupt gesalbt, sein Gesicht bestrichen, seine Augenbraunen bepinselt und seine Lippen betupft wurden. Außerdem wurden noch verschiedene Zeremonien erfordert; sogar sollte die Nachtmütze nicht unmittelbar aufgesetzt, sondern vorher ein Netz, wo nicht gar eine feine lederne Mütze übergezogen werden. | Der Major legte sich zu Bette mit einer Art von unangenehmer Empfindung, die er jedoch sich deutlich zu machen keine Zeit hatte, indem er gar bald einschlief. Sollen wir aber in seine Seele sprechen, so fühlte er sich mumienhaft, zwischen einem Kranken und einem Einbalsamierten. Allein das süße Bild Hilariens, umgeben von der heitersten Hoffnungen, zog ihn bald in einen erquickenden Schlaf.

[Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden (1829). In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 17: Wilhelm Meisters Wanderjahre / Maximen und Reflexionen. Herausgegeben von Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann und Johannes John. München – Wien 1991, S. 239-714, hier S. 408f.]


Dem Major war vor kurzem ein Vorderzahn ausgefallen und er fürchtete den zweiten zu verlieren. An eine künstlich scheinbare Wiederherstellung war bei seinen Gesinnungen nicht zu denken und mit diesem Mangel um eine junge Geliebte zu werden, fing an ihm ganz erniedrigend zu scheinen, besonders jetzt, da er sich mit ihr unter Einem Dach befand.

[Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden (1829). In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 17: Wilhelm Meisters Wanderjahre / Maximen und Reflexionen. Herausgegeben von Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann und Johannes John. München – Wien 1991, S. 239-714, hier S. 448.]


Dieses Paar war von einer bedeutenden wohlgenutzten Reise nach Süden zurückgekommen, um den Vater, den Major, vom Hause abzulösen, der mit jener Unwiderstehlichen, die nun seine Gemahlin geworden, auch etwas von der paradiesischen Luft zu einiger Erquickung einatmen wollte.

[Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden (1829). In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 17: Wilhelm Meisters Wanderjahre / Maximen und Reflexionen. Herausgegeben von Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann und Johannes John. München – Wien 1991, S. 239-714, hier S. 666.]


Die Hauptsache ist, daß man lerne sich selbst zu beherrschen. Wollte ich mich ungehindert gehen lassen, so läge es wohl in mir, mich selbst und meine Umgebung zu Grunde zu richten.

[Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 19. Herausgegeben von Heinz Schlaffer. München – Wien 1986, S. 366.]


Elegie

Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,
Gab mir ein Gott zu sagen, was ich leide.

Was soll ich nun vom Wiedersehen hoffen, | Von dieses Tages noch geschloßner Blüte? | Das Paradies, die Hölle steht dir offen; | Wie wankelsinnig regt sich’s im Gemüte! — | Kein Zweifeln mehr! Sie tritt ans Himmelstor, | Zu ihren Armen hebt sie dich empor. || So warst du denn im Paradies empfangen, | Als wärst du wert des ewig schönen Lebens; | Dir blieb kein Wunsch, kein Hoffen, kein Verlangen, | Hier war das Ziel des innigsten Bestrebens, | Und in dem Anschaun dieses einzig Schönen | Versiegte gleich der Quell sehnsüchtiger Tränen. || […] || Verlasst mich hier, getreue Weggenossen! | Lasst mich allein am Fels, in Moor und Moos; | Nur immer zu! euch ist die Welt erschlossen, | Die Erde weit, der Himmel hehr und groß; | Betrachtet, forscht, die Einzelheiten sammelt, | Naturgeheimnis werde nachgestammelt. || Mir ist das All, ich bin mir selbst verloren, | Der ich noch erst den Göttern Liebling war; | Sie prüften mich, verliehen mir Pandoren, | So reich an Gütern, reicher an Gefahr; | Sie drängten mich zum gabeseligen Munde, | Sie trennen mich — und richten mich zugrunde.

[Goethe, Johann Wolfgang: Elegie . In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 13.1: Die Jahre 1820-1826. Herausgegeben von Gisela Henckmann und Irmela Schneider. München – Wien 1992, S. 135-139.]


Es kam sodann zur Sprache, welchen Titel man der Novelle geben solle; wir taten manche Vorschläge, einige waren gut für den Anfang, andere gut für das Ende, doch fand sich keiner, der für das Ganze passend und also der rechte gewesen wäre. ›Wissen Sie was, sagte Goethe, wir wollen es die Novelle nennen; denn was ist eine Novelle anders als eine sich ereignete, unerhörte Begebenheit. Dies ist der eigentliche Begriff, und so Vieles, was in Deutschland unter dem Titel Novelle geht, ist gar keine Novelle, sondern bloß Erzählung oder was Sie sonst wollen. In jenem ursprünglichen Sinne einer unerhörten Begebenheit kommt auch die Novelle in den Wahlverwandtschaften vor.‹

[Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 19. Herausgegeben von Heinz Schlaffer. München – Wien 1986, S. 203.]


Ein dichter Herbstnebel verhüllte noch in der Frühe die weiten Räume des fürstlichen Schloßhofes, als man schon mehr oder weniger durch den sich lichtenden Schleier die ganze Jägerei zu Pferde und zu Fuß durcheinander bewegt sah. Die eiligen Beschäftigungen der Nächsten ließen sich erkennen: man verlängerte, man verkürzte die Steigbügel, man reichte sich Büchse und Patrontäschchen, man schob die Dachsranzen zurecht, indes die Hunde ungeduldig am Riemen den Zurückhaltenden mit fortzuschleppen drohten. Auch hie und da gebärdete ein Pferd sich mutiger, von feuriger Natur getrieben oder von dem Sporn des Reiters angeregt, der selbst hier in der Halbhelle eine gewisse Eitelkeit, sich zu zeigen, nicht verleugnen konnte. Alle jedoch warteten auf den Fürsten, der, von seiner jungen Gemahlin Abschied nehmend allzulange zauderte.

[Goethe, Johann Wolfgang: Novelle. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Richter, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 18.1: Letzte Jahre. 1827-1832 (1). Herausgegeben von Gisela Henckmann und Dorothea Hölscher-Lohmeyer. München – Wien 1997, S. 353-376, hier S. 353.]


Erst vor kurzer Zeit zusammengetraut empfanden sie schon das Glück übereinstimmender Gemüther, beide waren von thätig lebhaftem Charakter, eines nahm gern an des andern Neigungen und Bestrebungen Antheil. Des Fürsten Vater hatte noch den Zeitpunct erlebt und genutzt, wo es deutlich wurde daß alle Staatsglieder in gleicher Betriebsamkeit ihre Tage zubringen, in gleichem Wirken und Schaffen, jeder nach seiner Art, erst gewinnen und dann genießen sollte. | […] | Die Fürstin blieb ungern zurück; man hatte sich vorgenommen, weit in das Gebirg hineinzudringen, um die friedlichen Bewohner der dortigen Wälder durch einen unerwarteten Kriegszug zu beunruhigen.

[Goethe, Johann Wolfgang: Novelle. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Richter, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 18.1: Letzte Jahre. 1827-1832 (1). Herausgegeben von Gisela Henckmann und Dorothea Hölscher-Lohmeyer. München – Wien 1997, S. 353-376, hier S. 353f.]


Da ich nun einmal kniee, versetzte der Jüngling, da ich mich in einer Stellung befinde, die mir auf jede andere Weise untersagt wäre, so laßt mich bitten, von der Gunst und von der Gnade, die Ihr mir zuwendet, in diesem Augenblick versichert zu werden. Ich habe schon so oft Euren hohen Gemahl gebeten um Urlaub und Vergünstigung einer weitern Reise. Wer das Glück hat, an Eurer Tafel zu sitzen, wen Ihr beehrt, Eure Gesellschaft unterhalten zu dürfen, der muß die Welt gesehen haben. […] | Steht auf! wiederholte die Fürstin; ich möchte nicht gern gegen die Überzeugung meines Gemahls irgend etwas wünschen und bitten; allein wenn ich nicht irre, so ist die Ursache warum er Euch bisher zurückhielt, bald gehoben. Seine Absicht war, Euch zum selbständigen Edelmann herangereift zu sehen, der sich und ihm auch auswärts Ehre machte wie bisher am Hofe, und ich dächte, Eure Tat wäre ein so empfehlender Reisepaß, als ein junger Mann nur in die Welt mitnehmen kann. | Daß anstatt einer jugendlichen Freude eine gewisse Trauer über sein Gesicht zog, hatte die Fürstin nicht Zeit zu bemerken […].

[Goethe, Johann Wolfgang: Novelle. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Richter, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 18.1: Letzte Jahre. 1827-1832 (1). Herausgegeben von Gisela Henckmann und Dorothea Hölscher-Lohmeyer. München – Wien 1997, S. 353-376, hier S. 367.]


Die Frau sprach ihn an mit Bitte, das Feuer nicht anzünden zu lassen, er schien jedoch ihrer Rede wenig Aufmerksamkeit zu schenken; sie redete lebhaft fort und rief: Schöner junger Mann, du hast meinen Tiger erschlagen, ich fluche Dir nicht, schone meinen Löwen, guter junger Mann, ich segne dich. | Honorio schaute gerad vor sich hin, dorthin, wo die Sonne auf ihrer Bahn sich zu senken begann – Du schaust nach Abend, rief die Frau; du thust wohl daran dort giebt’s viel zu thun; eile nur, säume nicht, du wirst überwinden. Aber zuerst überwinde Dich selbst! Hierauf schien er zu lächeln, die Frau stieg weiter, konnte sich aber nicht enthalten nach dem Zurückbleibenden nochmals umzublicken; eine röthliche Sonne überschien sein Gesicht, sie glaubte nie einen schönern Jüngling gesehen zu haben.

[Goethe, Johann Wolfgang: Novelle. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Richter, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 18.1: Letzte Jahre. 1827-1832 (1). Herausgegeben von Gisela Henckmann und Dorothea Hölscher-Lohmeyer. München – Wien 1997, S. 353-376, hier S. 374.]


»Aber ein ideeller, ja lyrischer Schluß war nötig und mußte folgen; denn nach der pathetischen Rede des Mannes, die schon poetische Prosa ist, mußte eine Steigerung kommen, ich mußte zur lyrischen Poesie, ja zum Liede selbst übergehen.«

[Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 19. Herausgegeben von Heinz Schlaffer. München – Wien 1986, S. 192.]


Indessen hatte sich der Löwe ganz knapp an das Kind hingelegt und ihm die schwere rechte Vordertatze auf den Schoos gehoben, die der Knabe fortsingend anmuthig streichelte, aber gar bald bemerkte, daß ein scharfer Dornzweig zwischen die Ballen eingestochen war. Sorgfältig zog er die verletzende Spitze hervor, nahm lächelnd sein buntseidenes Halstuch vom Nacken, und verband die gräuliche Tatze des Unthiers, so daß die Mutter sich vor Freuden mit ausgestreckten Armen zurückbog und vielleicht angewohnter Weise Beifall gerufen und geklatscht hätte wäre sie nicht durch einen derben Faustgriff des Wärtels erinnert worden daß die Gefahr nicht vorüber sey.

[Goethe, Johann Wolfgang: Novelle. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Richter, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 18.1: Letzte Jahre. 1827-1832 (1). Herausgegeben von Gisela Henckmann und Dorothea Hölscher-Lohmeyer. München – Wien 1997, S. 353-376, hier S. 375f.]


Und so geht mit guten Kindern | Seliger Engel gern zu Rath, | Böses Wollen zu verhindern, | Zu befördern schöne That. | So beschwören, fest zu bannen | Liebem Sohn an’s zarte Knie | Ihn des Waldes Hochtyrannen | Frommer Sinn und Melodie.

[Goethe, Johann Wolfgang: Novelle. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Richter, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 18.1: Letzte Jahre. 1827-1832 (1). Herausgegeben von Gisela Henckmann und Dorothea Hölscher-Lohmeyer. München – Wien 1997, S. 353-376, hier S. 376.]


Man sagt: zwischen zwei entgegengesetzten Meinungen liege die Wahrheit mitten inne. Keineswegs! Das Problem liegt dazwischen, das Unschaubare, das ewig tätige Leben als Ruhe gedacht.

[Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden (1829). In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 17: Wilhelm Meisters Wanderjahre / Maximen und Reflexionen. Herausgegeben von Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann und Johannes John. München – Wien 1991, S. 239-714, hier S. 539.]


Nichts ist widerwärtiger als die Majorität: denn sie besteht aus wenigen kräftigen Vorgängern, aus Schelmen die sich akkomodieren, aus Schwachen die sich assimilieren, und der Masse, die nachtrollt, ohne nur im mindesten zu wissen was sie will.

[Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden (1829). In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 17: Wilhelm Meisters Wanderjahre / Maximen und Reflexionen. Herausgegeben von Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann und Johannes John. München – Wien 1991, S. 239-714, hier S. 537.]