Vorlesung: Johann Wolfgang Goethe (SoSe 2017)
Prof. Dr. Albert Meier

Johann Wolfgang Goethe – Wilhelm Meisters Lehrjahre

Wilhelm Meisters Lehrjahre, die 1795/96 erschienene Überarbeitung des während des ersten Weimarer Jahrzehnts entstandenen Entwurfs Wilhelm Meisters theatralische Sendung, hat die ersten Leser enttäuscht.

Im Unterschied zum empathetisch geschilderten Liebesschmerz der Leiden des jungen Werthers erzählt Goethes zweiter Roman planvoll ›realistisch‹ die Entwicklungsgeschichte eines Kaufmannssohnes, der sich vom Theater diejenige umfassende Ausbildung seiner Persönlichkeit erhofft, wie sie Adeligen gewissermaßen in die Wiege gelegt wird. Es erweist sich jedoch, dass Wilhelm trotz eines erfolgreichen Auftritts als Shakespeares Hamlet bloß ein ›Dilettant‹ ist, weil er nur in den Rollen zu überzeugen vermag, in denen er seine eigene Problematik ausspielen kann.

Wilhelms Entwicklungsgang wird von der sog. ›Turm-Gesellschaft‹ begleitet, deren Abgesandte von Fall zu Fall regulierend eingreifen; zuletzt zeigt sich jedoch, dass die Aktivitäten der Turm-Gesellschaft nicht in jeder Hinsicht ernst zu nehmen sind.

Nachdem Wilhelm in einer Affäre mit der Schauspielerin Mariane schon früh seine Unschuld verloren hat (dem gemeinsamen Sohn Felix begegnet er nach Marianes Tod), sucht er lange nach der ›Amazone‹, die ihm einmal gegen Räuber beigestanden hat, und findet sie zuletzt in Natalie, die seine Gattin werden soll; sein Berufsziel ist nun kein künstlerisches mehr, sondern die praktische Nützlichkeit als Wundarzt.

Goethe erzählt Wilhelm Meisters Geschichte bewusst ›ironisch‹, d. h. distanziert bzw. durch einen nicht allwissenden Erzähler vermittelt. Dabei werden die Schemata der aktuellen Mode-Literatur aufgegriffen (›Schauerroman‹, ›Geheimbund-Roman‹ etc.) und zu einer neuartigen Erzählweise kombiniert, die für den Aufstieg des ›Romans‹ zu einer respektablen Gattung um 1800 prototypisch war und lange als Referenzroman gedient hat (alle ›romantischen‹ Romane greifen Erzählweise und Motivik von Goethes zweitem Roman auf und sind daher als Variationen dieses Musters zu verstehen).

Zwei romangeschichtliche Einflüsse haben Wilhelm Meisters Lehrjahre hauptsächlich möglich gemacht: Heliodors Aithiopika (Mitte des 4. nachchristlichen Jahrhunderts?), die Urform eines ›hohen‹, d. h. literarisch anspruchsvollen Romans (Erzählen in medias res = gegen die natürliche Ordnung), und Henry Fieldings realistisch-humoristische History of Tom Jones, a Foundling (1749).

Denn das bloße Anblicken einer Sache kann uns nicht fördern. Jedes Ansehen geht über in ein Betrachten, jedes Betrachten in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein Verknüpfen, und so kann man sagen, daß wir schon bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt theoretisieren. Dieses aber mit Bewußtsein, mit Selbstkenntnis, mit Freiheit, und um uns eines gewagten Wortes zu bedienen, mit Ironie zu tun und vorzunehmen, eine solche Gewandtheit ist nötig, wenn die Abstraktion, vor der wir uns fürchten, unschädlich, und das Erfahrungsresultat, das wir hoffen, recht lebendig und nützlich werden soll.

[Goethe, Johann Wolfgang: Zur Farbenlehre. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 10: Zur Farbenlehre. Herausgegeben von Peter Schmidt. München – Wien 1989, S. 11.]


Denn das leuchtet bei den Kunstwerken der Alten, auch immer noch aus der mittelmäßigsten Arbeit hervor, daß die einzelnen Teile immer untergeordnet blieben, und daß jedes mit einem beständigen Blick auf das Ganze bearbeitet wurde.

[Moritz, Karl Philipp: Reisen eines Deutschen in Italien in den Jahren 1786 bis 1788. In: Moritz, Karl Philipp: Werke in zwei Bänden. Herausgegeben von Heide Hollmer und Albert Meier. Band 2: Popularphilosophie, Reisen, Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main 1997 (Bibliothek deutscher Klassiker 145), S. 411-847, hier S. 662.]


Es wird mir aus allem, was Sie sagen, immer klarer, daß die Selbstständigkeit seiner Theile einen Hauptcharakter des epischen Gedichtes ausmacht.

[Schiller, Friedrich: An Johann Wolfgang Goethe, 21. 4. 1797. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Neunundzwanzigster Band: Briefwechsel. Schillers Briefe 1. 11. 1796 – 31. 10. 1798. Hg. von Norbert Oellers und Frithjof Stock. Weimar 1977, S. 66.]


[…] & ce que l’on appelle proprement Romans sont des fictions d’aventures amoureuses, écrites en Prose avec art, pour le plaisir & l’instruction des Lecteurs.

<[…] und bei dem, was man im eigentlichen Sinn Romane nennt, handelt es sich um Erfindungen von verliebten Abenteuern, kunstvoll in Prosa verfasst zur Unterhaltung und Unterrichtung der Leser.>

[Huet, Pierre Daniel: Traité de l’origine des romans. Faksimiledrucke nach der Erstausgabe von 1670 und der Happelschen Übersetzung von 1682. Mit einem Nachwort von Hans Hinterhäuser. Stuttgart 1966 (Sammlung Metzler. Realienbücher für Germanisten. Abt. G: Dokumentationen. Reihe a: Aus der Geschichte der Literaturwissenschaft und Literaturkritik), S. 4f.]


Mit Wilhelm Meister ging es mir noch schlimmer. Die Puppen waren den Gebildeten zu gering, die Comödianten den Gentleman zu schlechte Gesellschaft, die Mädchen zu lose; hauptsächlich aber hieß es, es sey kein Werther.

[Goethe, Johann Wolfgang: An Christoph Ludwig Friedrich Schultz, In: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 1828- 1832. Hg. von Horst Fleig. Frankfurt am Main, 1993. 10. 1. 1829. S. 80-83 hier S. 82]


Esist unter allen meinen Arbeiten, die ich jemals gemacht habe, die obligateste und in mehr als Einem Sinn die schwerste […].

[Goethe, Johann Wolfgang: An Johann Friedrich Unger, ca. 7. 3. 1796 (Entwurf). In: Goethes Briefe. Band II. Briefe der Jahre 1786- 1805. Hg. von Karl R. Mandelkow. Hamburg, 1964. S. 217f.]


»[…]«Es gehört dieses Werk übrigens zu den inkalkulabelsten Produktionen, wozu mir fast selbst der Schlüssel fehlt. Man sucht einen Mittelpunkt, und das ist schwer und nicht einmal gut. Ich sollte meinen, ein reiches mannigfaltiges Leben, das unsern Augen vorübergeht, wäre auch an sich etwas ohne ausgesprochene Tendenz, die doch bloß für den Begriff ist.«

[Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 19: Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Herausgegeben von Heinz Schlaffer. München – Wien 1986, S. 128.]


Diese wunderbare Prosa ist Prosa und doch Poesie. Ihre Fülle ist zierlich, ihre Einfachheit bedeutend und vielsagend und ihre hohe und zarte Ausbildung ist ohne eigen sinnige Strenge.

[Schlegel, Friedrich: Über Goethes Meister. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Herausgegeben von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Zweiter Band. Erste Abteilung: Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801). Herausgegeben und eingeleitet von Hans Eichner. München – Paderborn –Wien – Zürich 1967, S. 126-146, hier S. 133.]


Wilhelm Meisters Lehrjahre sind gewissermaaßen durchaus prosaïsch – und modern. Das Romantische geht darinn zu Grunde – auch die Naturpoësie, das Wunderbare – Er handelt blos von gewöhnlichen menschlichen Dingen – die Natur und der Mystizism sind ganz vergessen. […] Das Wunderbare darinn wird ausdrücklich, als Poesie und Schwärmerey, behandelt. Künstlerischer Atheïsmus ist der Geist des Buchs.

[Novalis: Fragmente und Studien II. In: Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Herausgegeben von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. Band 2: Das philosophisch-theoretische Werk. Herausgegeben von Hans-Joachim Mähl. München – Wien 1978, S. 799-814, hier S. 800f.]


Ein Roman ist ein romantisches Buch. – Sie werden das für eine nichtssagende Tautologie ausgeben. Aber ich will Sie zuerst nur darauf aufmerksam machen, daß man sich bei einem Buche schon ein Werk, ein für sich bestehendes Ganze denkt. Alsdann liegt ein sehr wichtiger Gegensatz gegen das Schauspiel darin, welches bestimmt ist angeschaut zu werden: der Roman hingegen war es von den ältesten Zeiten für die Lektüre, und daraus lassen sich fast alle Verschiedenheiten in der Manier der Darstellung beider Formen herleiten.

[Schlegel, Friedrich: Gespräch über die Poesie. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Herausgegeben von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Zweiter Band. Erste Abteilung: Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801). Herausgegeben und eingeleitet von Hans Eichner. München – Paderborn –Wien – Zürich 1967, S. 284-351, hier S. 335f.]


[…] | nec gemino bellum Troianum orditur ab ovo: | semper ad eventum festinat et in medias res | […].

Nicht beginnt er […] den Krieg um Troja beim Zwillingsei: immer strebt er rasch zum Endziel und führt den Hörer mitten
hinein in die Geschichte […].

[Quintus Horatius Flaccus: De arte poetica / Das Buch von der Dichtkunst. In: Horaz: Sämtliche Werke. Lateinisch und deutsch. Teil II: Sermones und Epistulae übersetzt und zusammen mit Hans Färber bearbeitet von Wilhelm Schöne. München 11/1993 (Sammlung Tusculum), S. 538-575, hier S. 548/549.]


Man muß die ganze π [= Poesie] kennen, um die deutsche zu verstehen.

[Schlegel, Friedrich: Fragmente zur Poesie und Literatur. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Herausgegeben von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Sechzehnter Band. Erster Teil. Mit Einleitung und Kommentar herausgegeben von Hans Eichner. München – Paderborn –Wien – Zürich 1981, S. 161.]


[Der Roman hat] mehrere und besondere Begebenheit, die sich in einem größern Umfange von zeit zutragen [als ein Drama], mit einander zu verbinden; und diese Verbindung kann nun nicht anders, als natürlich durch die Formung und Ausbildung, oder innre Geschichte eines Charakters erhalten werden.

[Blanckenburg, Friedrich von: Versuch über den Roman. Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774. Mit einem Nachwort von Eberhard Lämmert. Stuttgart 1965, S. 390.]


Er ist wie ein jüngerer Bruder von mir, von derselben Art, nur da vom Schicksal verwahrlost und beschädigt, wo ich begünstigt und vorgezogen bin.

[Goethe, Johann Wolfgang: An Charlotte von Stein, 13.-16. 12. 1786. In: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 1786- 1794. Hg.von Karl Eibl. Frankfurt am Main, 1991 S. 192- 194. Hier S. 193.]


Der Epiker und Dramatiker sind beide den allgemeinen poetischen Gesetzen unterworfen, besonders dem Gesetze der Einheit und dem Gesetze der Entfaltung; ferner behandeln sie beide ähnliche Gegenstände, und können beide alle Arten von Motiven brauchen; ihr großer wesentlicher Unterschied beruht aber darin, daß der Epiker die Begebenheiten als vollkommen vergangen vorträgt, und der Dramatiker sie als vollkommen gegenwärtig darstellt.

[Goethe, Johann Wolfgang: Über epische und dramatische Dichtung. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 4.2: Wirkungen der Französischen Revolution. 1791-1797 (2). Herausgegeben von Klaus H. Kiefer, Hans J. Becker, Gerhard H. Müller, John Neubauer und Peter Schmidt. München – Wien 1986, S. 126-128, hier S. 126.]


Daß ich dir’s mit einem Worte sage, mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch und meine Absicht. […] Ich weiß nicht, wie es in fremden Ländern ist, aber in Deutschland ist nur dem Edelmann eine gewisse allgemeine, wenn ich sagen darf personelle Ausbildung möglich. […] Ich habe nun einmal gerade zu jener harmonischen Ausbildung meiner Natur, die mir meine Geburt versagt, eine unwiderstehliche Neigung. […] Nun leugne ich dir nicht, dass mein Trieb täglich unüberwindlicher wird, eine öffentliche Person zu sein, und in einem weitern Kreise zu gefallen und zu wirken. Dazu kömmt meine Neigung zur Dichtkunst […]. Du siehst wohl, daß das alles für mich nur auf dem Theater zu finden ist, und daß ich mich in diesem einzigen Elemente nach Wunsch rühren und ausbilden kann.

[Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman. Herausgegeben von Hans-Jürgen Schings. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 5. München – Wien 1988, S. 288f.]


Wilhelm, der eine unbedingte Existenz führt, in höchster Freiheit lebt, bedingt sich solche immer mehr, eben weil er frei und ohne Rücksichten handelt.

[Goethe, Johann Wolfgang: Paralipomena. In: Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman. Herausgegeben von Hans-Jürgen Schings. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 5. München – Wien 1988, S. 709f., hier S. 709.]


Verzeihen Sie, sagte Wilhelm, »Sie haben mir streng genug alle Fähigkeiten zum Schauspieler abgesprochen; ich gestehe Ihnen, daß, ob ich gleich dieser Kunst ganz entsagt habe, so kann ich mich doch unmöglich bei mir selbst dazu für ganz unfähig erklären. − Und bei mir, sagte Jarno, ist es doch so rein entschieden, daß, wer sich nur selbst spielen kann, kein Schauspieler ist. Wer sich nicht dem
Sinn und der Gestalt nach in viele Gestalten verwandeln kann, verdient nicht diesen Namen. So haben Sie z. B. den Hamlet und einige andere Rollen recht gut gespielt, bei denen Ihr Charakter, Ihre Gestalt und die Stimmung des Augenblicks Ihnen zugute kamen. Das wäre nun für ein Liebhabertheater und für einen jeden gut genug, der keinen andern Weg vor sich sähe. Man soll sich, fuhr Jarno fort, indem er auf die Rolle sah, vor einem Talente hüten, das man in Vollkommenheit auszuüben nicht Hoffnung hat. Man mag es darin so weit bringen, als man will, so wird man doch immer zuletzt, wenn uns einmal das Verdienst des Meisters klar wird, den Verlust von Zeit und Kräften, die man auf eine solche Pfuscherei gewendet hat, schmerzlich bedauern.

[Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman. Herausgegeben von Hans-Jürgen Schings. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 5. München – Wien 1988, S. 552.]


[…] alles, was Sie im Turme gesehen haben, sind eigentlich nur noch Reliquien von einem jugendlichen Unternehmen, bei dem es anfangs den meisten Eingeweihten großer Ernst war, und über das nun alle gelegentlich nur lächeln.

[Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman. Herausgegeben von Hans-Jürgen Schings. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 5. München – Wien 1988, S. 549.]


[…] und ich muß lachen, wenn ich dich ansehe: du kommst mir vor wie Saul, der Sohn Kis, der ausging, seines Vaters Eselinnen zu suchen, und ein Königreich fand. | Ich kenne den Wert eines Königreichs nicht, versetzte Wilhelm, aber ich weiß, daß ich ein Glück erlangt habe, das ich nicht verdiene, und das ich mit nichts in der Welt vertauschen möchte.

[Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman. Herausgegeben von Hans-Jürgen Schings. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 5. München – Wien 1988, S. 610.]


Denn im Grunde scheint doch das Ganze nichts anderes sagen zu wollen, als daß der Mensch, trotz aller Dummheiten und Verwirrungen, von einer höheren Hand geleitet, doch zum glücklichen Ziele gelange.

[Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Herausgegeben von Heinz Schlaffer. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 19. München – Wien 1986, S. 129.]


[…] als man spät genug auseinanderging, flüsterte Philine beim Abschiede Wilhelmen leise zu: Ich muß meine Pantoffeln holen; du schiebst doch den Riegel nicht vor? Diese Worte setzten ihn, als er auf seine Stube kam, in ziemliche Verlegenheit; denn die Vermutung, daß der Gast der vorigen Nacht Philine gewesen, ward dadurch bestärkt, und wir sind auch genötigt, uns zu dieser Meinung zu schlagen, besonders da wir die Ursachen, welche ihn hierüber zweifelhaft machten und ihm einen andern, sonderbaren Argwohn einflößen mußten, nicht entdecken können.

[Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman. Herausgegeben von Hans-Jürgen Schings. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 5. München – Wien 1988, S. 330.]


Mignon hielt sich fest an Wilhelm und sagte mit großer Lebhaftigkeit: ich bin ein Knabe: ich will kein Mädchen sein.

[Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman. Herausgegeben von Hans-Jürgen Schings. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 5. München – Wien 1988, S. 205.]


Ein kurzes seidnes Westchen mit geschlitzten spanischen Ärmeln, knappe, lange Beinkleider mit Puffen standen dem Kinde gar artig. Lange schwarze Haare waren in Locken und Zöpfen um den Kopf gekräuselt und gewunden. Er sah die Gestalt mit Verwunderung an und konnte nicht mit sich einig werden, ob er sie für einen Knaben oder für ein Mädchen erklären sollte. Doch entschied er sich bald für das letzte […].

[Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman. Herausgegeben von Hans-Jürgen Schings. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 5. München – Wien 1988, S. 90.]


Mignon hatte sich [Wilhelm] genähert, schlang seine zarten Arme um ihn, und blieb mit dem Köpfchen an seine Brust gelehnt stehen.

[Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman. Herausgegeben von Hans-Jürgen Schings. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 5. München – Wien 1988, S. 210.]


[Wilhelm Meister] gedachte des guten Mignons neben dem schönen Felix auf das lebhafteste.

[Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman. Herausgegeben von Hans-Jürgen Schings. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 5. München – Wien 1988, S. 470.]


[…] Sie hatten, wenn ich mich recht erinnere, ein Lieblingsbild darunter, von dem Sie mich gar nicht weglassen wollten. | Ganz richtig! es stellte die Geschichte vor, wie der kranke Königssohn sich über die Braut seines Vaters in Liebe verzehrt. | Es war eben nicht das beste Gemälde, nicht gut zusammengesetzt, von keiner sonderlichen Farbe und die Ausführung durchaus manieriert. | Das
verstand ich nicht und versteh’ es noch nicht; der Gegenstand ist es, der mich an einem Gemälde reizt, nicht die Kunst.

[Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman. Herausgegeben von Hans-Jürgen Schings. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 5. München – Wien 1988, S. 69.]


Darauf trat er in den Vorsaal, und zu seinem noch größern Erstaunen erblickte er das wohlbekannte Bild vom kranken Königssohn an der Wand. Er hatte kaum Zeit, einen Blick darauf zu werfen, der Bediente nötigte ihn durch ein paar Zimmer in ein Kabinett. Dort hinter einem Lichtschirme, der sie beschattete, saß ein Frauenzimmer und las. | O daß sie es wäre! sagte er zu sich selbst in diesem
entscheidenden Augenblick. […] Die Amazone war’s! Er konnte sich nicht halten, stürzte auf seine Knie und rief aus: Sie ist’s!

[Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman. Herausgegeben von Hans-Jürgen Schings. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 5. München – Wien 1988, S. 515.]


Ich bekam Lust das religiose Buch meines Romans auszuarbeiten und da das Ganze auf den edelsten Täuschungen und auf der zartesten Verwechslung des subjektiven und objektiven beruht; so gehörte mehr Stimmung und Sammlung dazu als vielleicht zu einem andern Teile.

[Goethe, Johann Wolfgang: An Friedrich Schiller, 18. 3. 1795. In: Goethe, Johann Wolfgang: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. Herausgegeben von Manfred Beetz. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 8.1: Text. München – Wien 1990, S. 70.]


Ich erinnere mich kaum eines Gebotes, nichts erscheint mir in Gestalt eines Gesetzes, es ist ein Trieb, der mich leitet und mich immer recht führet; ich folge mit Freiheit meinen Gesinnungen und weiß so wenig von Einschränkung als von Reue. Gott sei Dank, daß ich erkenne, wem ich dieses Glück schuldig bin und daß ich an diese Vorzüge nur mit Demut denken darf. Denn niemals werde ich in Gefahr kommen, auf mein eignes Können und Vermögen stolz zu werden, da ich so deutlich erkannt habe, welch Ungeheuer so in jedem menschlichen Busen, wenn eine höhere Kraft uns nicht bewahrt, sich erzeugen und nähren könne.

[Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman. Herausgegeben von Hans-Jürgen Schings. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 5. München – Wien 1988, S. 422.]


Während des neun monatlichen Krankenlagers, das ich mit Geduld aushielt, ward […] der Grund zu meiner ganzen Denkart gelegt […].

[Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman. Herausgegeben von Hans-Jürgen Schings. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 5. München – Wien 1988, S. 360.]


Wie mögen sich die Leser dieses Romans beim Schluß desselben getäuscht fühlen, da aus allen diesen Erziehungsanstalten nichts herauskommt als bescheidne Liebenswürdigkeit, da hinter allen diesen wunderbaren Zufällen, weissagenden Winken und geheimnisvollen Erscheinungen nichts steckt als die erhabenste Poesie, und da die letzten Fäden des Ganzen nur durch die Willkür eines bis zur Vollendung gebildeten Geistes gelenkt werden! In der Tat erlaubt sich diese hier, wie es scheint, mit gutem Bedacht, fast alles, und liebt die seltsamsten Verknüpfungen.

[Schlegel, Friedrich: Über Goethes Meister. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Herausgegeben von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Zweiter Band. Erste Abteilung: Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801). Herausgegeben und eingeleitet von Hans Eichner. München – Paderborn –Wien – Zürich 1967, S. 126-146, hier S. 144]