Vorlesung: Johann Wolfgang Goethe (SoSe 2017)
Prof. Dr. Albert Meier

Johann Wolfgang Goethe – Italienische Reise

Goethes Italien-Reise 1786–88 prägt nicht nur seinen eigenen Werdegang als Künstler, sondern begründet bis heute auch die besondere Bedeutung Italiens für Deutschland: Goethe hat Italien zum Sehnsuchtsland der Deutschen gemacht.

Der persönliche Wendepunkt besteht in der Hinwendung zum Klassizismus und zugleich in der Konzentration auf ein Leben als ›Künstler‹, nachdem er im ersten Weimarer Jahrzehnt (seit 1775) vor allem durch seine hohen Ämter in der Verwaltung des Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach in Anspruch genommen war.

Gewissermaßen ›authentische‹ Dokumente von der Italienreise sind nur wenige überliefert: das fragmentarische Tagebuch der italiänischen Reise für Frau von Stein sowie einige Briefe. Alle sonstigen Informationen entstammen späten Erinnerungen, hauptsächlich der 1816, 1817 und 1829 in drei Teilen erschienenen Italienischen Reise. Private und literarische Zeugnisse der Italienreise Goethes finden sich auszugsweise unten bei »Zitate«.

Eine Besonderheit von Goethes Italien-Wahrnehmung liegt darin, dass es ihm nicht um eine herkömmliche Reise durch Italien ankommt, sondern die beiden langen Aufenthalte in Rom das Sinnzentrum ausmachen. Goethe dürfte in dieser Hinsicht vor allem das Vorbild Johann Joachim Winckelmanns (1717-1768) vor Augen gestanden haben, der 1759 aus der deutschen Provinz nach Rom gegangen war, um am Vatikan seine Weltkarriere als Begründer der Kunstgeschichtsschreibung zu beginnen.

Da Goethes ästhetischer Geschmack, geprägt durch seinen Leipziger Zeichenlehrer Adam Friedrich Oeser, auf das ›Angenehme‹ und ›Gefällige‹ ausgerichtet ist, hofft er auf dessen Bestätigung durch die Erfahrung klassischer Schönheit und wird zunächst in Vicenza und Venedig fündig, wo ihn die Bauwerke des Renaissance-Architekten Andrea Palladio (1508-1580) beeindrucken.

Der italienische Süden widerspricht dann jedoch den Erwartungen vom echten Griechentum ganz entschieden: Zuerst in Paestum und dann auf Sizilien erlebt Goethe die dorischen Tempel in der Wucht ihrer Archaik als drastischen Widerspruch zur Eleganz der Renaissance. Dass namentlich Sizilien nicht dem Wunschbild einer klassischen Kulturlandschaft entspricht, zeigt sich erst recht an den spätbarocken Grotesken der Villa Palagonia (Bagheria bei Palermo), die ihn geradezu entsetzen.

Auf die Erfahrung des italienischen Südens folgt der ausgedehnte ›Zweite römische Aufenthalt‹. Im Zentrum der Weltkultur begreift Goethe, nicht als Maler oder Bildhauer, sondern nur als Dichter wirklich ›Künstler‹ sein zu können.

Gemeinsam mit seinen deutschen Künstlerfreunden (namentlich Karl Philipp Moritz) entwickelt er die ästhetischen Konzepte, die er bereits in Italien an literarischen Werken zur Geltung bringt (Iphigenie auf Tauris / Torquato Tasso) und nach der Rückkehr nach Weimar erst recht als ästhetische ›Gegenreformation‹ durchzusetzen versucht (›Weimarer Klassik‹).

Vor einigen Abenden, da ich traurige Gedanken hatte, zeichnete ich mein Grab bei der Pyramide des Cestius.

[Goethe, Johann Wolfgang: An Fritz von Stein, 16. 2. 1788. In: Johann Wolfgang Goethe Briefe. 18. September 1786 – 10. Juni 1788. Texte. Herausgegeben von Volker Giel. Band 7 I. Berlin 2012, S. 250 – 252, hier S. 252.]


Ich bin nun ganz in alle Hof- und politische Händel verwickelt und werde fast nicht wieder weg können. Meine Lage ist vorteilhaft genug, und die Herzogtümer Weimar und Eisenach immer ein Schauplatz, um zu versuchen, wie einem die Weltrolle zu Gesichte stünde. Ich übereile mich drum nicht, und Freiheit und Gnüge werden die Hauptkonditionen der neuen Einrichtung sein, ob ich gleich mehr als jemals am Platz bin, das durchaus Scheißige dieser zeitlichen Herrlichkeit zu erkennen. Eben drum Adieu!

[Goethe, Johann Wolfgang: An Johann Heinrich Merck, 22. 1. 1776. In: Johann Wolfgang Goethe Briefe. 8. November 1775 – Ende 1779. Text. Herrausgegeben von Georg Kurscheidt und Elke richter. Band 3 I. Berlin 2014, S. 23.]


Die Revolution, die ich voraussah und die jetzt in mir vorgeht, ist die in jedem Künstler entstand, der lang emsig der Natur treu gewesen und nun die Überbleibsel des alten großen Geists erblickte, die Seele quoll auf und er fühlte eine innere Art von Verklärung sein selbst ein Gefühl von freierem Leben, höherer Existenz Leichtigkeit und Grazie.

[Goethe, Johann Wolfgang: Tagebuch der italienischen Reise für Frau von Stein 1786. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 3.1: Italien und Weimar. 1786–1790. Herausgegeben von Nobert Miller und Hartmut Reinhardt. München – Wien 1990, S. 7-158, hier S. 95f.]


Angelika malt mich auch, daraus wird aber nichts. Es verdrießt sie sehr, daß es nicht gleichen und werden will. Es ist immer ein hübscher Bursche, aber keine Spur von mir.

[Goethe, Johann Wolfgang: Italienische Reise. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 15: Italienische Reise. Herausgegeben von Andreas Beyer und Nobert Miller. München – Wien 1992, S. 428.]


Die Hauptabsicht meiner Reise war: mich von den physisch moralischen Übeln zu heilen die mich in Deutschland quälten und mich zuletzt unbrauchbar machten.

[Goethe, Johann Wolfgang: An Herzog Carl August, 25. 1. 1788. In: Johann Wolfgang Goethe Briefe. 18. September 1786 – 10. Juni 1788. Texte. Herausgegeben von Volker Giel. Band 7 I. Berlin 2012, S. 232 – 234, hier S. 233.]


[…] ich dachte wohl hier was zu lernen, daß ich aber so weit in die Schule zurückgehn, daß ich so viel verlernen müßte dacht ich nicht.

[Goethe, Johann Wolfgang: An Charlotte von Stein, 20./23. 12. 1786. In: Johann Wolfgang Goethe Briefe. 18. September 1786 – 10. Juni 1788. Texte. Herausgegeben von Volker Giel. Band 7 I. Berlin 2012, S. 61 – 64, hier S. 62.]


An diesen Ort knüpft sich die ganze Geschichte der Welt an, und ich zähle einen zweiten Geburtstag, eine wahre Wiedergeburt, von dem Tage, da ich Rom betrat.

[Goethe, Johann Wolfgang: An Johann Gottfried und Caroline Herder, 2. 12. 1786. In: Johann Wolfgang Goethe Briefe. 18. September 1786 – 10. Juni 1788. Texte. Herausgegeben von Volker Giel. Band 7 I. Berlin 2012, S. 40 – 42, hier S. 42.]


Ich habe eben einen Entschluß gefaßt der mich sehr beruhigt. Ich will nur durch Florenz durchgehn und grade auf Rom. Ich habe keinen Genuß an nichts, bis jenes erste Bedürfnis gestillt ist […].

[Goethe, Johann Wolfgang: Tagebuch der italienischen Reise für Frau von Stein 1786. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 3.1: Italien und Weimar. 1786–1790. Herausgegeben von Nobert Miller und Hartmut Reinhardt. München – Wien 1990, S. 7-158, hier S. 133.]


[…] das Evangelium des Schönen, mehr noch des Geschmackvollen und Angenehmen […]

[Goethe, Johann Wolfgang: Dichtung und Wahrheit. Herausgegeben von Walter Hettche. Durchgesehene und bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart 1998, S. 337.]


Vor einigen Stunden bin ich hier angekommen, habe schon die Stadt durchlaufen, das Olympische Theater und die Gebäude des Palladio gesehen. […] Wenn man nun diese Werke gegenwärtig sieht, so erkennt man erst den großen Wert derselben; denn sie sollen ja durch ihre wirkliche Größe und Körperlichkeit das Auge füllen, und durch die schöne Harmonie ihrer Dimensionen nicht nur in abstrakten Aufrissen, sondern mit dem ganzen perspektivischen Vordringen und Zurückweichen den Geist befriedigen; und so sag’ ich vom Palladio: er ist ein recht innerlich und von innen heraus großer Mensch gewesen.

[Goethe, Johann Wolfgang: Italienische Reise. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 15: Italienische Reise. Herausgegeben von Andreas Beyer und Nobert Miller. München – Wien 1992, S. 59.]


Auch hab ich heute die famose Rotonda […] gesehn, hier konnte der Baumeister machen was er wollte und er hats beinahe ein wenig zu toll gemacht. Doch hab ich auch hier sein herrliches Genie zu bewundern Gelegenheit gefunden. […] von weiten nimmt sich’s ganz köstlich aus, in der Nähe habe ich einige untertänige Skrupel.

[Goethe, Johann Wolfgang: Tagebuch der italienischen Reise für Frau von Stein 1786. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 3.1: Italien und Weimar. 1786–1790. Herausgegeben von Nobert Miller und Hartmut Reinhardt. München – Wien 1990, S. 7-158, hier S. 74.]


Heute besuchte ich das […] auf einer angenehmen Höhe liegende Prachthaus, die Rotonda genannt. Es ist ein viereckiges Gebäude, das einen runden, von oben erleuchteten Saal in sich schließt. Von allen vier Seiten steigt man auf breiten Treppen hinan und gelangt jedesmal in eine Vorhalle, die von sechs corinthischen Säulen gebildet wird. Vielleicht hat die Baukunst ihren Luxus niemals höher getrieben.

[Goethe, Johann Wolfgang: Italienische Reise. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 15: Italienische Reise. Herausgegeben von Andreas Beyer und Nobert Miller. München – Wien 1992, S. 62.]


An der Fassade konnte ich mich nicht satt sehen, wie genialisch konsequent auch hier der Künstler gehandelt. Die Ordnung ist corinthisch […]. Was sich durch die Beschauung dieses Werks in mir entwickelt, ist nicht auszusprechen, und wird ewige Früchte bringen.

[Goethe, Johann Wolfgang: Italienische Reise. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 15: Italienische Reise. Herausgegeben von Andreas Beyer und Nobert Miller. München – Wien 1992, S. 135/137.]


Ich befand mich in einer völlig fremden Welt. Denn wie die Jahrhunderte sich aus dem Ernsten in das Gefällige bilden, so bilden sie den Menschen mit, ja sie erzeugen ihn so. Nun sind unsere Augen und durch sie unser ganzes inneres Wesen an schlankere Baukunst hinangetrieben und entschieden bestimmt, so daß uns diese stumpfen, kegelförmigen, enggedrängten Säulenmassen lästig ja furchtbar erscheinen. Doch nahm ich mich bald zusammen, erinnerte mich der Kunstgeschichte, gedachte der Zeit deren Geist solche Bauart gemäß fand, vergegenwärtigte mir den strengen Styl der Plastik und in weniger als einer Stunde fühlte ich mich befreundet, ja ich pries den Genius daß er mich diese so wohl erhaltenen Reste mit Augen sehen ließ, da sich von ihnen durch Abbildung kein Begriff geben läßt.

[Goethe, Johann Wolfgang: Italienische Reise. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 15: Italienische Reise. Herausgegeben von Andreas Beyer und Nobert Miller. München – Wien 1992, S. 273/275.]


Für meine Sinnesart ist diese Reise heilsam, ja notwendig. Sicilien deutet mir nach Asien und Afrika und auf dem wundersamen Punkt, wohin so viele Radien der Weltgeschichte gerichtet sind, selbst zu stehen ist keine Kleinigkeit.

[Goethe, Johann Wolfgang: Italienische Reise. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 15: Italienische Reise. Herausgegeben von Andreas Beyer und Nobert Miller. München – Wien 1992, S. 277.]


Mit keinen Worten ist die dunstige Klarheit auszudrücken die um die Küsten schwebte als wir am schönsten Nachmittage gegen Palermo anfuhren. Die Reinheit der Conture, die Weichheit des Ganzen, das Auseinanderweichen der Töne, die Harmonie von Himmel, Meer und Erde. Wer es gesehen hat der hat es auf sein ganzes Leben. Nun versteh’ ich erst die Claude Lorrain und habe Hoffnung auch dereinst im Norden aus meiner Seele Schattenbilder dieser glücklichen Wohnung hervor zu bringen. Wäre nur alles Kleinliche so rein daraus weggewaschen als die Kleinheit der Strohdächer aus meinen Zeichenbegriffen. Wir wollen sehen was diese Königin der Inseln tun kann.

[Goethe, Johann Wolfgang: Italienische Reise. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 15: Italienische Reise. Herausgegeben von Andreas Beyer und Nobert Miller. München – Wien 1992, S. 288.]


Heute den ganzen Tag beschäftigte uns der Unsinn des Prinzen Pallagonia und auch diese Torheiten waren ganz etwas anders als wir uns lesend und hörend vorgestellt. Denn bei der größten Wahrheitsliebe kommt der-jenige der vom Absurden Rechen-schaft geben soll immer ins Gedränge: er will einen Begriff davon über-liefern und so macht er es schon zu etwas, da es eigentlich ein Nichts ist welches für etwas gehalten sein will.

[Goethe, Johann Wolfgang: Italienische Reise. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 15: Italienische Reise. Herausgegeben von Andreas Beyer und Nobert Miller. München – Wien 1992, S. 301.]


Das Widerliche dieser von den gemeinsten Steinhauern gepfuschten Mißbildungen wird noch dadurch vermehrt, daß sie aus dem losesten Muscheltuff gearbeitet sind; doch würde ein besseres Material den Unwert der Form nur desto mehr in die Augen setzen.

[Goethe, Johann Wolfgang: Italienische Reise. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 15: Italienische Reise. Herausgegeben von Andreas Beyer und Nobert Miller. München – Wien 1992, S. 303/305.]


Denke man sich nun dergleichen Figuren schockweise verfertigt und ganz ohne Sinn und Verstand entsprungen, auch ohne Wahl und Absicht zusammengestellt, denke man sich diesen Sockel, diese Piedestale und Unformen in einer unabsehbaren Reihe, so wird man das unangenehme Gefühl mit empfinden das einen jeden überfallen muß, wenn er durch diese Spitzruten des Wahnsinns durchgejagt wird.

[Goethe, Johann Wolfgang: Italienische Reise. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 15: Italienische Reise. Herausgegeben von Andreas Beyer und Nobert Miller. München – Wien 1992, S. 305f.]


Das Widersinnige einer solchen geschmacklosen Denkart zeigt sich aber im höchsten Grade darin, daß die Gesimse der kleinen Häuser durchaus schief nach einer oder der andern Seite hinhängen, so daß das Gefühl der Wasserwaage und des Perpendikels, das uns eigentlich zu Menschen macht und der Grund aller Eurhythmie ist, in uns zerrissen und gequält wird.

[Goethe, Johann Wolfgang: Italienische Reise. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 15: Italienische Reise. Herausgegeben von Andreas Beyer und Nobert Miller. München – Wien 1992, S. 306.]


In dieser Lage wollte mir unsere ganze sizilianische Reise in keinem angenehmen Lichte erscheinen. Wir hatten doch eigentlich nichts gesehen, als durchaus eitle Bemühungen des Menschengeschlechts, sich gegen die Gewaltsamkeit der Natur, gegen die hämische Tücke der Zeit und gegen den Groll ihrer eigenen feindseligen Spaltungen zu erhalten.

[Goethe, Johann Wolfgang: Italienische Reise. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 15: Italienische Reise. Herausgegeben von Andreas Beyer und Nobert Miller. München – Wien 1992, S. 385.]


Es muß in meinen letzten sizilianischen oder darauf folgenden neapolitanischen Briefen eine Spur sich finden, welchen unangenehmen Eindruck mir diese vergötterte Insel zurückgelassen hat.

[Goethe, Johann Wolfgang: An Carl Friedrich Zelter, 28. 6. 1831. In: Goethes Briefe. Band IV. Hamburg 1967, S. 433 – 435, hier S. 434.]


So entfernt bin ich jetzt von der Welt und allen weltlichen Dingen, es kommt mir recht wunderbar vor wenn ich eine Zeitung lese. Die Gestalt dieser Welt vergeht, ich möchte mich nur mit dem beschäftigen was bleibende Verhältnisse sind […].

[Goethe, Johann Wolfgang: Italienische Reise. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 15: Italienische Reise. Herausgegeben von Andreas Beyer und Nobert Miller. München – Wien 1992, S. 469.]


Es ist nur Ein Rom in der Welt und ich befinde mich hier wie der Fisch im Wasser und schwimme oben wie eine Stückkugel im Quecksilber, die in jedem andern Fluidum untergeht.

[Goethe, Johann Wolfgang: Italienische Reise. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 15: Italienische Reise. Herausgegeben von Andreas Beyer und Nobert Miller. München – Wien 1992, S. 431.]


Mein Gemüt ist fähig in der Kunstkenntnis weit zu gehen, auch werde ich von allen Seiten aufgemuntert, mein eignes kleines Zeichentalentchen auszubilden und so möchten diese Monate hinreichen meine Einsicht und Fertigkeit vollkommner zu machen.

[Goethe, Johann Wolfgang: An Herzog Carl August, 11. 8. 1787. In: Johann Wolfgang Goethe Briefe. 18. September 1786 – 10. Juni 1788. Texte. Herausgegeben von Volker Giel. Band 7 I. Berlin 2012, S. 163 – 165, hier S. 163.]


Zur bildenden Kunst bin ich zu alt, ob ich also ein bißchen mehr oder weniger pfusche ist eins. Mein Durst ist gestillt, auf dem rechten Wege bin ich der Betrachtung und des Studiums, mein Genuß ist friedlich und genügsam.

[Goethe, Johann Wolfgang: Italienische Reise. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 15: Italienische Reise. Herausgegeben von Andreas Beyer und Nobert Miller. München – Wien 1992, S. 609.]


Täglich wird mirs deutlicher daß ich eigentlich zur Dichtkunst geboren bin […]. Von meinem längern Aufenthalt in Rom, werde ich den Vorteil haben daß ich auf das Ausüben der bildenden Kunst Verzicht tue.

[Goethe, Johann Wolfgang: Italienische Reise. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 15: Italienische Reise. Herausgegeben von Andreas Beyer und Nobert Miller. München – Wien 1992, S. 610f.]


Und wie sollte mir gerade in solchen Augenblicken Ovids Elegie nicht ins Gedächtnis zurückkehren, der, auch verbannt, in einer Mondnacht Rom verlassen sollte. Dum repeto noctem! seine Rückerinnerung, weit hinten am Schwarzen Meere, im trauer- und jammervollen Zustande, kam mir nicht aus dem Sinn, ich wiederholte das Gedicht, das mir teilweise genau im Gedächtnis hervorstieg, aber mich wirklich an eigner Produktion irre werden ließ und hinderte; die auch, später unternommen, niemals zustande kommen konnte.

[Goethe, Johann Wolfgang: Italienische Reise. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 15: Italienische Reise. Herausgegeben von Andreas Beyer und Nobert Miller. München – Wien 1992, S. 653.]


Wand’let von jener Nacht mir das traurige Bild vor die Seele,
Welche die letzte für mich ward in der römischen Stadt,
Wiederhol’ ich die Nacht, wo des Teuren soviel mir zurückblieb,
Gleitet vom Auge mir noch jetzt eine Träne herab.
Und schon ruhten bereits die Stimmen der Menschen und Hunde,
Luna, sie lenkt in der Höh’ nächtliches Rossegespann.
Zu ihr schaut’ ich hinan, sah dann kapitolische Tempel,
Welchen umsonst so nah’ unsere Laren gegrenzt. –

[Goethe, Johann Wolfgang: Italienische Reise. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 15: Italienische Reise. Herausgegeben von Andreas Beyer und Nobert Miller. München – Wien 1992, S. 654.]


… da wo ich in meinem Leben das erstemal unbedingt glücklich war.

[Goethe, Johann Wolfgang: An Johann Gottfried Herder, 5. 6. 1788. In: Johann Wolfgang Goethe Briefe. 18. September 1786 – 10. Juni 1788. Texte. Herausgegeben von Volker Giel. Band 7 I. Berlin 2012, S. 274 – 275, hier S. 274.]


Ich darf wohl sagen: ich habe mich in dieser anderthalbjährigen Einsamkeit selbst wiedergefunden; aber als was? — Als Künstler!

[Goethe, Johann Wolfgang: An Herzog Carl August, 17./18. 3. 1788. In: Johann Wolfgang Goethe Briefe. 18. September 1786 – 10. Juni 1788. Texte. Herausgegeben von Volker Giel. Band 7 I. Berlin 2012, S. 255 – 260, hier S. 256.]


Wie moralisch heilsam ist mir es dann auch, unter einem ganz sinnlichen Volke zu leben, über das so viel Redens und Schreibens ist, das jeder Fremde nach dem Maßstabe beurteilt den er mitbringt.

[Goethe, Johann Wolfgang: Italienische Reise. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 15: Italienische Reise. Herausgegeben von Andreas Beyer und Nobert Miller. München – Wien 1992, S. 147.]