Vorlesung: Johann Wolfgang Goethe (SoSe 2017)
Prof. Dr. Albert Meier

Johann Wolfgang Goethe – Iphigenie auf Tauris / Torquato Tasso

Als Goethes klassizistische Hauptwerke können Iphigenie auf Tauris und Torquato Tasso gelten. Beide Dramen arbeitet Goethe während seiner Zeit in Italien um bzw. stellt sie fertig: Iphigenie erscheint bereits 1787, als Goethe sich noch in Rom aufhält, während er am Tasso in Weimar weiterarbeitet (Erstdruck 1790).

Beide Schauspiele entsprechen den Regeln des französischen Klassizismus und bilden insofern einen entschiedenen Kontrapunkt zum ›Sturm und Drang‹ (vgl. insbesondere Götz von Berlichingen): Verse anstelle der Prosa und Befolgung der ›aristotelischen Einheiten‹ von Ort, Zeit und Handlung.

Im gedanklichen Gehalt umso ›moderner‹ ist vor allem Iphigenie auf Tauris, das den antiken Mythos im Sinne der aufgeklärten Pflichtethik (Immanuel Kant) umdeutet.

Die 1779 im rhythmischer Prosa uraufgeführte Iphigenie wird in Italien in Blankverse (fünfhebige Jamben ohne Reim) umgeschrieben. Formgeschichtlich betrachtet steht Goethes Iphigenie dem Muster der Dramen Jean Racines wesentlich näher als dem griechischen Original des Euripides (›Iphigenie bei den Taurern‹), wie sich nicht zuletzt an der Namensgebung zeigt (nicht griech. ›Iphigeneia‹, sondern ›Iphigenie‹ nach franz. ›Iphigénie‹). (Auszüge des Dramas siehe unten)

Deutlich ist bei Goethe die Umdeutung des antiken Mythos um Orest und Iphigenie im Lichte des aufklärerischen Humanitätsideals sittlicher Freiheit: Im Gegensatz zur Stofftradition spielen die Götter im Handlungsverlauf keinerlei Rolle mehr, da es allein noch um menschliches Verhalten geht (Aufrichtigkeit, Pflichtbewusstsein).

Zugleich mit dieser Verlagerung der Motivation ins ›Innere‹ der Figuren wird auch der tradierte Gegensatz zwischen Griechen und ›Barbaren‹ negiert, indem der Taurer-König Thoas in seinem Pflichtbewusstsein sittlicher agiert als Iphigenies Bruder Orest und dessen Freund Pylades.

In Übereinstimmung mit Winckelmanns Postulat, man müsse die Antike nachahmen, um selbst unnachahmlich zu werden, konzipiert Goethe Iphigenie auf Tauris als Überbietung des klassischen Musters: keine ›imitatio‹, sondern ›aemulatio‹.

Goethe gestaltet ein friedliches Ende, indem Thoas die in seiner Macht befindlichen Griechen aus ›freiem Willen‹ in deren Heimat ausreisen lässt, wodurch der Tantalidenfluch überwunden wird. Diese Auflösung im Geist von Kants ›kategorischem Imperativ‹ geht ausschließlich zu Lasten von Thoas, der auf alles Eigeninteresse verzichten muss, während Iphigenie, Orest und Pylades in jeder Hinsicht davon profitieren. Dass mit Thoas’ abschließenden ›Lebt wohl!‹ der letzte Vers keinen Blankvers mehr bildet, signalisiert den hohen Preis, der für sittliches = pflichtgemäßes Verhalten zu bezahlen ist.

Die Revolution, die ich voraussah und die jetzt in mir vorgeht, ist die in jedem Künstler entstand, der lang emsig der Natur treu gewesen und nun die Überbleibsel des alten großen Geists erblickte, die Seele quoll auf und er fühlte eine innere Art von Verklärung sein selbst ein Gefühl von freierem Leben, höherer Existenz Leichtigkeit und Grazie.

[Goethe, Johann Wolfgang: Tagebuch der italienischen Reise für Frau von Stein. 1786. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 3.1: Italien und Weimar. 1786-1790 (1). Herausgegeben von Norbert Miller und Hartmut Reinhardt. München – Wien 1990, S. 7-158, hier S. 95f.]


Natur und Kunst sie scheinen sich zu fliehen
Und haben sich, eh man es denkt, gefunden;
Der Widerwille ist auch mir verschwunden,
Und beide scheinen gleich mich anzuziehen.

Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen!
Und wenn wir erst, in abgemess’nen Stunden,
Mit Geist und Fleiß, uns an die Kunst gebunden,
Mag frei Natur im Herzen wieder glühen.

So ist’s mit aller Bildung auch beschaffen.
Vergebens werden ungebundne Geister
Nach der Vollendung reiner Höhe streben.

Wer Großes will muss sich zusammenraffen.
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.

[Goethe, Johann Wolfgang: . In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 6.1: Weimarer Klassik. 1798-1806 (1). Herausgegeben von Victor Lange. München – Wien 1986, S. 780.]


Der eintzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten, und was jemand vom Homer gesagt, daß derjenige ihn bewundern lernet, der ihn wohl verstehen gelernet, gilt auch von den Kunst-Wercken der Alten, sonderlich der Griechen.

[Winckelmann, Johann Joachim: Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst. In: Winckelmann, Johann Joachim: Kleine Schriften. Vorreden – Entwürfe. Herausgegeben von Walther Rehm. Mit einer Einleitung von Hellmut Sichtermann. Berlin 1968, S. 27-59, hier S. 29f.]


Das einzige Verhältnis gegen das Publikum, das einen nicht reuen kann, ist der Krieg, und ich bin sehr dafür, daß auch der Dilettantism mit allen Waffen angegriffen wird.

[Schiller, Friedrich: An Johann Wolfgang Goethe, 25. 6. 1799. In: Goethe, Johann Wolfgang: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. Herausgegeben von Manfred Beetz. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 8.1: Text. München – Wien 1990, S. 711f.]


[…] tout à fait selon les règles […]. / ›ganz und gar den Regeln gemäß‹

[Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Herausgegeben von Hendrik Birus u. a. Abteilung I. Band 5: Johann Wolfgang Goethe. Dramen 1776-1790. Unter Mitarbeit von Peter Huber herausgegeben von Dieter Borchmeyer. Frankfurt/M. 1988 (Bibliothek deutscher Klassiker 32), S. 1027f.]


Zuschauer Nur dem ungebildeten [Zuschauer], sagen Sie, könne ein Kunstwerk als ein Naturwerk erscheinen.

Anwalt [des Künstlers] Gewiß, erinnern Sie sich der Vögel, die nach des großen Meisters Kirschen flogen.

Zuschauer Nun, beweist das nicht, daß diese Früchte fürtrefflich gemalt waren?

Anwalt Keineswegs, vielmehr beweist mir, daß diese Liebhaber echte Sperlinge waren.

[Goethe, Johann Wolfgang: Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 4.2: Wirkungen der Französischen Revolution. 1791-1797 (2). Herausgegeben von Klaus H. Kiefer, Hans J. Becker, Gerhard H. Müller, John Neubauer und Peter Schmidt. München – Wien 1986, S. 89-95, hier S. 93.]


Zuschauer Nun, so sagen Sie mir: warum erscheint auch mir ein vollkommnes Kunstwerk als ein Naturwerk?

Anwalt Weil es mit Ihrer bessern Natur übereinstimmt, weil es übernatürlich, aber nicht außernatürlich ist. Ein vollkommnes Kunstwerk ist ein Werk des menschlichen Geistes, und in diesem Sinne auch ein Werk der Natur. Aber indem die zerstreuten Gegenstände in eins gefaßt, und selbst die gemeinsten in ihrer Bedeutung und Würde aufgenommen werden, so ist es über die Natur.

[Goethe, Johann Wolfgang: Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 4.2: Wirkungen der Französischen Revolution. 1791-1797 (2). Herausgegeben von Klaus H. Kiefer, Hans J. Becker, Gerhard H. Müller, John Neubauer und Peter Schmidt. München – Wien 1986, S. 89-95, hier S. 94f.]


scribendi recte sapere est et principium et fons (v. 309)
Dichtung rechter Art hat in gesunder Klarheit ihren Grund und Ursprung.

[Quintus Horatius Flaccus: De arte poetica / Das Buch von der Dichtkunst. In: Horaz: Sämtliche Werke. Lateinisch und deutsch. Teil II: Sermones und Epistulae übersetzt und zusammen mit Hans Färber bearbeitet von Wilhelm Schöne. München 11/1993 (Sammlung Tusculum), S. 538-575, hier S. 562/563.]


denique sit quodvis, simplex dumtaxat et unum. (v. 23)
Kurz und gut, erschaffe, was du willst; nur sei es einartig und aus einem Guß.

[Quintus Horatius Flaccus: De arte poetica / Das Buch von der Dichtkunst. In: Horaz: Sämtliche Werke. Lateinisch und deutsch. Teil II: Sermones und Epistulae übersetzt und zusammen mit Hans Färber bearbeitet von Wilhelm Schöne. München 11/1993 (Sammlung Tusculum), S. 538-575, hier S. 540/541.]


[…] non tamen intus | digna geri promes in scaenam multaque tolles | ex oculis, quae mox narret facundia praesens: | ne pueros coram populo Medea trucidet | aut humana palam coquat exta nefarius Atreus | aut in avem Procne vertatur, Cadmus in anguem. | quodcumque ostendis mihi sic, incredulis odi. (v. 182-188)
Trotzdem laß Dinge, die ins Haus gehören, nicht vor der Bühnenwand geschehen; laß vieles den Augen entrückt bleiben: dann mag beredter Zeugenmund es später anschaulich erzählen. Nicht darf vor allem Volk Medea ihre Kinder schlachten; nicht darf der grausige Atreus Menschenfleisch auf offener Bühne kochen, nicht Prokne in den Vogel, Kadmus in die Schlange sich verwandeln. Was du mir so handgreiflich zeigst, erregt Unglauben nur und Widerwillen.

[Quintus Horatius Flaccus: De arte poetica / Das Buch von der Dichtkunst. In: Horaz: Sämtliche Werke. Lateinisch und deutsch. Teil II: Sermones und Epistulae übersetzt und zusammen mit Hans Färber bearbeitet von Wilhelm Schöne. München 11/1993 (Sammlung Tusculum), S. 538-575, hier S. 552/553.]


[…] vos exemplaria Graeca | nocturna versate manu, versate diurna. (v. 268f.)
Nehmt ihr euch zu Mustern die Griechen: nehmt sie zu jeder Zeit zur Hand, bei Tag und Nacht.

[Quintus Horatius Flaccus: De arte poetica / Das Buch von der Dichtkunst. In: Horaz: Sämtliche Werke. Lateinisch und deutsch. Teil II: Sermones und Epistulae übersetzt und zusammen mit Hans Färber bearbeitet von Wilhelm Schöne. München 11/1993 (Sammlung Tusculum), S. 538-575, hier S. 558/559.]


aut prodesse volunt aut delectare poetae | aut simul et iucunda et idonea dicere vitae. (v. 333f.)
Sinnbelehrend will Dichtung wirken oder herzerfreuend, | oder sie will beides geben: was lieblich eingeht und was dem Leben frommt.

[Quintus Horatius Flaccus: De arte poetica / Das Buch von der Dichtkunst. In: Horaz: Sämtliche Werke. Lateinisch und deutsch. Teil II: Sermones und Epistulae übersetzt und zusammen mit Hans Färber bearbeitet von Wilhelm Schöne. München 11/1993 (Sammlung Tusculum), S. 538-575, hier S. 562/563.]


Außer einigem Fleiß an der Iphigenie, hab ich meine meiste Zeit auf den Palladio gewendet, und kann nicht davon kommen. […] Meine Geliebte wie freut es mich daß ich mein Leben dem Wahren gewidmet habe, da es mir nun so leicht wird zum Großen überzugehen, das nur der höchste reinste Punkt des Wahren ist.

[Goethe, Johann Wolfgang: Tagebuch der italienischen Reise für Frau von Stein. 1786. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 3.1: Italien und Weimar. 1786-1790 (1). Herausgegeben von Norbert Miller und Hartmut Reinhardt. München – Wien 1990, S. 7-158, hier S. 95.]


Wollte Gott ich könnte meine Iphigenie noch ein halb Jahr in Händen behalten, man sollt ihr das mittägige Klima noch mehr anspüren.

[Goethe, Johann Wolfgang: Tagebuch der italienischen Reise für Frau von Stein. 1786. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 3.1: Italien und Weimar. 1786-1790 (1). Herausgegeben von Norbert Miller und Hartmut Reinhardt. München – Wien 1990, S. 7-158, hier S. 96.]


Iphigenie scheint bis zur Täuschung, sogar eines mit Griechischen Dichtern wohlbekannten Lesers, ein alt griechisches Werk zu sein.

[Wieland, Christoph Martin: [Anzeige von Goethes Schriften Bd. 1-4.] In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 3.1: Italien und Weimar. 1786-1790 (1). Herausgegeben von Norbert Miller und Hartmut Reinhardt. München – Wien 1990, S. 758.]


[Goethes Iphigenie] ist aber so erstaunlich modern und ungriechisch, daß man nicht begreift, wie es möglich war, sie jemals einem griechischen Stücke zu vergleichen.

[Schiller, Friedrich: An Christian Gottfried Körner, 21. 1. 1802. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 3.1: Italien und Weimar. 1786-1790 (1). Herausgegeben von Norbert Miller und Hartmut Reinhardt. München – Wien 1990, S. 764.]


Auch wünscht ich daß es Wieland ansähe der zuerst die schlotternde Prosa in einen gemeßnern Schritt richten wollte und mir die Unvollkommenheit des Werks nur desto lebendiger fühlen ließ.

[Goethe, Johann Wolfgang: An Johann Gottfried Herder, 13. 1. 1787. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 3.1: Italien und Weimar. 1786-1790 (1). Herausgegeben von Norbert Miller und Hartmut Reinhardt. München – Wien 1990, S. 756.]


Die Stellen die am fertigsten waren plagen mich am meisten. Ich mögte ihr zartes Haupt unter das Joch des Verses beugen ohne ihnen das Gnick zu brechen. Doch ists sonderbar daß mit dem Sylbenmaß sich auch meist ein besserer Ausdruck verbindet.

[Goethe, Johann Wolfgang: An Johann Gottfried Herder, 14. 10. 1786. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 3.1: Italien und Weimar. 1786-1790 (1). Herausgegeben von Norbert Miller und Hartmut Reinhardt. München – Wien 1990, S. 752.]


IPHIGENIE Heraus in eure Schatten, ewig rege Wipfel des heiligen Hains, hinein ins Heiligtum der Göttin, der ich diene, tret’ ich mit immer neuem Schauer, und meine Seele gewöhnt sich nicht hierher!

[Goethe, Johann Wolfgang: Iphigenie in Tauris [Erste Prosafassung]. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 2.1: Erstes Weimarer Jahrzehnt. 1775-1786 (1). Herausgegeben von Hartmut Reinhardt. München – Wien 1987, S. 247-291, hier S. 247.]


IPHIGENIE | Heraus in eure Schatten, rege Wipfel | Des alten heil’gen, dichtbelaubten Haines, | Wie in der Göttin stilles Heiligtum, | Tret’ ich noch jetzt mit schauderndem Gefühl, | Als wenn ich sie zum erstenmal beträte, | Und es gewöhnt sich nicht mein Geist hierher.

[Goethe, Johann Wolfgang: Iphigenie auf Tauris. Ein Schauspiel. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 3.1: Italien und Weimar. 1786-1790 (1). Herausgegeben von Norbert Miller und Hartmut Reinhardt. München – Wien 1990, S. 161-221, hier S. 161.]


IPHIGENIE | […] Übermut | Und Untreu stürzten ihn von Jovis Tisch | Zur Schmach des alten Tartarus hinab. (v. 323-325)

[Goethe, Johann Wolfgang: Iphigenie auf Tauris. Ein Schauspiel. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 3.1: Italien und Weimar. 1786-1790 (1). Herausgegeben von Norbert Miller und Hartmut Reinhardt. München – Wien 1990, S. 161-221, hier S. 171.]


THOAS | Die Göttin übergab dich meinen Händen; | Wie du ihr heilig warst, so warst du’s mir. | Auch sei ihr Wink noch künftig mein Gesetz: | Wenn du nach Hause Rückkehr hoffen kannst, | So sprech’ ich dich von aller Fordrung los. | Doch ist der Weg auf ewig dir versperrt, | Und ist dein Stamm vertrieben, oder durch | Ein ungeheures Unheil ausgelöscht, | So bist du mein durch mehr als Ein Gesetz. | Sprich offen! und du weißt, ich halte Wort.

[Goethe, Johann Wolfgang: Iphigenie auf Tauris. Ein Schauspiel. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 3.1: Italien und Weimar. 1786-1790 (1). Herausgegeben von Norbert Miller und Hartmut Reinhardt. München – Wien 1990, S. 161-221, hier S. 169.]


IPHIGENIE | […] – Ja, vernimm, o König, | Es wird ein heimlicher Betrug geschmiedet; | Vergebens fragst du den Gefangnen nach; | Sie sind hinweg und suchen ihre Freunde, | Die mit dem Schiff am Ufer warten, auf. | Der ältste, den das Übel hier ergriffen | Und nun verlassen hat – es ist Orest, | Mein Bruder, und der andre sein Vertrauter, | Sein Jugendfreund, mit Namen Pylades. | Apoll schickt sie von Delphi diesem Ufer | Mit göttlichen Befehlen zu, das Bild | Dianens wegzurauben und zu ihm | Die Schwester hinzubringen, und dafür | Verspricht er dem von Furien Verfolgten, | Des Mutterblutes Schuldigen, Befreiung. | Und beide hab’ ich nun, die Überbliebnen | Von Tantals Haus’, in deine Hand gelegt: | Verdirb uns – wenn du darfst.

[Goethe, Johann Wolfgang: Iphigenie auf Tauris. Ein Schauspiel. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 3.1: Italien und Weimar. 1786-1790 (1). Herausgegeben von Norbert Miller und Hartmut Reinhardt. München – Wien 1990, S. 161-221, hier S. 213f.]


IPHIGENIE | Denk’ an dein Wort und laß durch diese Rede | Aus einem graden treuen Munde dich | Bewegen! Sieh uns an! du hast nicht oft | Zu solcher edeln Tat Gelegenheit. | Versagen kannst du’s nicht; gewähr’ es bald. | THOAS | So geht! | IPHIGENIE | Nicht so, mein König! Ohne Segen, | In Widerwillen, scheid’ ich nicht von dir. | Verbann’ uns nicht! Ein freundlich Gastrecht walte | Von dir zu uns: so sind wir nicht auf ewig | Getrennt und abgeschieden. Wert und teuer | Wie mir mein Vater war, so bist du’s mir, | Und dieser Eindruck bleibt in meiner Seele. | […] | Leb wohl! O wende dich zu uns und gib | Ein holdes Wort des Abschieds mir zurück! | Dann schwellt der Wind die Segel sanfter an, | Und Tränen fließen lindernder vom Auge | Des Scheidenden. Leb’ wohl! und reiche mir | Zum Pfand der alten Freundschaft deine Rechte. | THOAS | Lebt wohl!

[Goethe, Johann Wolfgang: Iphigenie auf Tauris. Ein Schauspiel. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 3.1: Italien und Weimar. 1786-1790 (1). Herausgegeben von Norbert Miller und Hartmut Reinhardt. München – Wien 1990, S. 161-221, hier S. 220f.]


THOAS | […] Du glaubst, es höre | Der rohe Scythe, der Barbar, die Stimme | Der Wahrheit und der Menschlichkeit, die Atreus, | Der Grieche, nicht vernahm? | IPHIGENIE | Es hört sie jeder, | Geboren unter jedem Himmel, dem | Des Lebens Quelle durch den Busen rein | Und ungehindert fließt. –

[Goethe, Johann Wolfgang: Iphigenie auf Tauris. Ein Schauspiel. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 3.1: Italien und Weimar. 1786-1790 (1). Herausgegeben von Norbert Miller und Hartmut Reinhardt. München – Wien 1990, S. 161-221, hier S. 214.]


THOAS | Unwillig, wie sich Feuer gegen Wasser | Im Kampfe wehrt und gischend seinen Feind | Zu tilgen sucht, so wehret sich der Zorn | In meinem Busen gegen deine Worte.

[Goethe, Johann Wolfgang: Iphigenie auf Tauris. Ein Schauspiel. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 3.1: Italien und Weimar. 1786-1790 (1). Herausgegeben von Norbert Miller und Hartmut Reinhardt. München – Wien 1990, S. 161-221, hier S. 215.]


IPHIGENIE | Zwar die gewalt’ge Brust und der Titanen | Kraftvolles Mark war seiner Söhn’ und Enkel | Gewisses Erbteil; doch es schmiedete | Der Gott um ihre Stirn ein ehern Band. | Rat, Mäßigung und Weisheit und Geduld | Verbarg er ihrem scheuen, düstern Blick: | Zur Wut ward ihnen jegliche Begier, | Und grenzenlos drang ihre Wut umher.

[Goethe, Johann Wolfgang: Iphigenie auf Tauris. Ein Schauspiel. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 3.1: Italien und Weimar. 1786-1790 (1). Herausgegeben von Norbert Miller und Hartmut Reinhardt. München – Wien 1990, S. 161-221, hier S. 170.]


Hiebei kommt die Abschrift des gräcisierenden Schauspiels [Iphigenie auf Tauris]. Ich bin neugierig was sie ihm abgewinnen werden. Ich habe hie und da hineingesehen, es ist ganz verteufelt human. Geht es halbweg, so wollen wir’s versuchen; denn wir haben doch schon öfters gesehen daß die Wirkungen eines solchen Wagestücks für uns und das Ganze inkalkulabel sind.

[Goethe, Johann Wolfgang: An Friedrich Schiller, 19. 1. 1802. In: Goethe, Johann Wolfgang: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. Herausgegeben von Manfred Beetz. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 8.1: Text. München – Wien 1990, S. 874.]