Vorlesung: Johann Wolfgang Goethe (SoSe 2017)
Prof. Dr. Albert Meier

Johann Wolfgang Goethe – Dichtung und Wahrheit

In Reaktion auf den Tod Friedrich Schillers (1805) und den seiner Mutter Catharina Elisabeth Goethe (1808) beginnt Goethe, sich intensiv mit der eigenen Vita auseinanderzusetzen, um so »das Andenken der Vergangenheit […] in der Erinnerung aufzubewahren«.

Neben Campagne in Frankreich 1792 (1822), Belagerung von Maynz (1822), Italienische Reise (1816/17/29), Tag- und Jahres-Hefte (entstanden 1816-30) und dem Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe (1828/29) konkretisieren sich die autobiografischen Arbeiten insbesondere in den vier Teilen von Dichtung und Wahrheit (1811-33). Es steht zu vermuten, dass Goethes autobiografisches Schreiben wesentlich von Jean-Jacques Rousseaus Les Confessions (1782; vollständig erst 1813) und Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser. Ein psychologischer Roman (1785/86/90) beeinflusst ist. Dichtung und Wahrheit (eigentlich: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit) ist in vier Teilen (je 5 ›Bücher‹) in den Jahren 1811, 1812, 1814 und 1833 erschienen (der letzte Teil postum von Johann Peter Eckermann herausgegeben).

Johann Joseph Schmellers Altersportrait Goethes zeigt Goethe, wie er seinem Schreiber John im Arbeitszimmer des Hauses am Frauenplan etwas diktiert. Obwohl das Gemälde sehr authentisch wirkt, ist es erst zwei Jahre nach Goethes Tod entstanden und (re)konstruiert die typische Situation nur, indem Christian Daniel Rauchs Gipsbüste von Goethe (1828) in das Interieur einmontiert wird.

Ähnlich verhält es sich mit Goethes autobiographischen Schriften, die ebenfalls durch das Stilmittel der Montage eine künstliche Realität hervorbringen, die von den Lesern als authentisch bzw. ›wahr‹ empfunden wird. Dichtung und Wahrheit verweist schon im Titel darauf, dass das ›Grundwahre‹ eines tatsächlichen Lebensweges nur im Medium der Fiktionalisierung herauszuarbeiten ist. Goethe nutzt zum Teil autobiographische Elemente wie Tagebuchaufzeichnungen und Erzählungen Dritter, stilisiert sie jedoch und ergänzt sie durch Erfindungen. Beispielhaft für das ausgestaltete Erzählen ist die ironische Ausschmückung der Geburtsumstände durch eine astrologische Konstellation, aber auch schon der einleitende Brief von Freunden, die Goethe angeblich aufgefordert haben, seine Biographie niederzuschreiben. Insofern lässt sich Dichtung und Wahrheit eher wie ein Roman lesen.

Zwar ist sich Goethe der Erwartung seiner Leser, etwas Zuverlässiges zu erfahren, bewusst, spielt jedoch ironisch mit diesem Umstand und reflektiert im ›Knabenmärchen‹ Der neue Paris, wie seine Zuhörer an dessen buchstäbliche Wahrheit glauben und die Erzählung jeweils unterschiedlich deuten bzw. weiterführen.

Die fünfstrophige Dichtung Urworte. Orphisch reflektiert auf lyrischer Ebene, was Dichtung und Wahrheit erzählerisch umsetzt: Die fünf Stanzen sind von dem Gedanken geprägt, dass jeder Mensch eine individuelle Veranlagung besitzt (›Dämon‹), welche die Grundlage eines jeden Menschen für seine Entwicklung der Persönlichkeit bildet. Jedoch wird diese Persönlichkeit stark von den zufälligen Umständen der Umwelt beeinflusst (›Tyche‹), die das individuelle Begehren ausformen (›Eros‹) und den individuellen Lebensweg mit Notwendigkeit (›Ananke‹) vorzeichnen. Somit formt sich nach dieser Grundidee aller menschlichen Entwicklung die Individualität des Menschen immer im Wechselspiel von Anlagen und äußeren Einflüssen.

Goethe, Johann Wolfgang: 40. An Philipp Hackert 04.04.1806. In: Goethes Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. II. Abteilung: Briefe, Tagebücher und Gespräche. Herausgegeben von Karl Eibl zusammen mit Horst Fleig u. a. Band 6 (33): Johann Wolfgang Goethe Napoleonische Zeit: Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 10. Mai 1805 bis 6. Juni 1816. Teil I: Von Schillers Tod bis 1811. Herausgegeben von Rose Unterberger. Frankfurt am Main 1993 (Bibliothek deutscher Klassiker 99), S. 47-49 hier S. 48.

Goethe, Johann Wolfgang: Novelle:

»Indessen hatte sich der Löwe ganz knapp an das Kind hingelegt und ihm die schwere rechte Vordertatze auf den Schoos gehoben, die der Knabe fortsingend anmuthig streichelte, aber gar bald bemerkte, daß ein scharfer Dornzweig zwischen die Ballen eingestochen war. Sorgfältig zog er die verletzende Spitze hervor, nahm lächelnd sein buntseidenes Halstuch vom Nacken, und verband die gräuliche Tatze des Unthiers, so daß die Mutter sich vor Freuden mit ausgestreckten Armen zurückbog und vielleicht angewohnter Weise Beifall gerufen und geklatscht hätte wäre sie nicht durch einen derben Faustgriff des Wärtels erinnert worden daß die Gefahr nicht vorüber sey.«

[Goethe, Johann Wolfgang: Novelle: In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Richter, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 18.1: Letzte Jahre. 1827-1832 (1). Herausgegeben von Gisela Henckmann und Dorothea Hölscher-Lohmeyer. München – Wien 1997, S. 353- 376, hier S. 375f.]


Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe:

»Aber ein ideeller, ja lyrischer Schluß war nötig und mußte folgen; denn nach der pathetischen Rede des Mannes, die schon poetische Prosa ist, mußte eine Steigerung kommen, ich mußte zur lyrischen Poesie, ja zum Liede selbst übergehen.«

[Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 19. Herausgegeben von Heinz Schlaffer. München – Wien 1986, S. 192.]


Goethe, Johann Wolfgang: Novelle:

»Und so geht mit guten Kindern | Seliger Engel gern zu Rath, | Böses Wollen zu verhindern, | Zu befördern schöne That. | So beschwören, fest zu bannen | Liebem Sohn an’s zarte Knie | Ihn des Waldes Hochtyrannen | Frommer Sinn und Melodie.«

[Goethe: Novelle (Anm. 2), hier S. 376.]


Goethe, Johann Wolfgang: Einleitung ,in die Propyläen’:

»Eines der vorzüglichsten Kennzeichen des Verfalles der Kunst ist die Vermischung der verschiedenen Arten derselben.«

[Goethe, Johann Wolfgang: Einleitung ,in die Propyläen’. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 6.2: Weimarer Klassik 1798-1806 (2). Herausgegeben von Victor Lange, Hans J. Becker, Gerhard H. Müller, John Neubauer, Peter Schmidt und Edith Zehm. München – Wien 1988, S. 9-26, hier S. 20.]


Goethe, Johann Wolfgang: 875. An Wilhelm von Humboldt, 1. 12. 1831:

»Darf ich mich, mein Verehrtester, in altem Zutrauen ausdrücken, so gesteh ich gern daß in meinen hohen Jahren mir alles mehr und mehr historisch wird: ob etwas in der vergangenen Zeit, in fernen Reichen, oder mir ganz nah räumlich im Augenblick vorgeht, ist ganz eins, ja ich erscheine mir selbst immer mehr und mehr geschichtlich […].«

[Goethe, Johann Wolfgang: 875. An Wilhelm von Humboldt 01.12.1831. In: Goethes Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. II. Abteilung: Briefe, Tagebücher und Gespräche. Herausgegeben von Karl Eibl zusammen mit Horst Fleig u. a. Band 11 (38): Johann Wolfgang Goethe Die letzten Jahre: Briefe, Tagebücher und Gespräche von 1823 bis zu Goethes Tod. Teil II: Vom Dornburger Aufenthalt 1828 bis zum Tode. Herausgegeben von Horst Fleig. Frankfurt am Main 1993 (Bibliothek deutscher Klassiker 90), S. 493-496 hier S. 494f.]


Goethe, Johann Wolfgang: 667. An König Ludwig I. von Bayern, 17. 12. 1829 abgesandt 12. 1. 1830:

»[…] es war mein ernstestes Bestreben das eigentliche Grundwahre, das, insofern ich es einsah, in meinem Leben obgewaltet hatte, möglichst darzustellen und auszudrücken. Wenn aber ein solches in späteren Jahren nicht möglich ist, ohne die Rückerinnerung und also die Einbildungskraft wirken zu lassen, und man also immer in den Fall kommt gewissermaßen das dichterische Vermögen auszuüben, so ist es klar daß man mehr die Resultate und, wie wir uns das Vergangene jetzt denken, als die Einzelnheiten, wie sie sich damals ereigneten, aufstellen und hervorheben werde. […] | Dieses alles, was dem Erzählenden und der Erzählung angehört, habe ich hier unter dem Worte: Dichtung, begriffen, um mich des Wahren, dessen ich mir bewußt war, zu meinem Zweck bedienen zu können.«

[Goethe, Johann Wolfgang: 667. An König Ludwig I. von Bayern 17.12.1829 abgesandt 12.1.1830. In: Goethes Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. II. Abteilung: Briefe, Tagebücher und Gespräche. Herausgegeben von Karl Eibl zusammen mit Horst Fleig u. a. Band 11 (38): Johann Wolfgang Goethe Die letzten Jahre: Briefe, Tagebücher und Gespräche von 1823 bis zu Goethes Tod. Teil II: Vom Dornburger Aufenthalt 1828 bis zum Tode. Herausgegeben von Horst Fleig. Frankfurt am Main 1993 (Bibliothek deutscher Klassiker 90), S. 208-212 hier S. 209.]


Goethe, Johann Wolfgang: Italienische Reise:

»Eine arme Frau rief mich an, ich möchte ihr Kind in den Wagen nehmen, weil ihm der heiße Boden die Füße verbrenne. Ich übte diese Mildtätigkeit zu Ehren des gewaltigen Himmelslichtes. Das Kind war sonderbar geputzt und aufgeziert, ich konnte ihm aber in keiner Sprache etwas abgewinnen.«

[Goethe, Johann Wolfgang: Italienische Reise. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 15: Italienische Reise. Herausgegeben von Andreas Beyer und Nobert Miller. München – Wien 1992, S. 25.]


Goethe, Johann Wolfgang: Tagebuch der italienischen Reise:

»N B. arme Frau die mich bat ihr Kind in den Wagen zu nehmen weil ihm der heiße Boden die Füße brenne. Sonderbarer Putz des Kindes. Ich redet es Italiänisch an, es sagte daß sie kein Deutsch verstehe.«

[Goethe, Johann Wolfgang: Tagebuch der italienischen Reise für Frau von Stein. 1786. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 3.1: Italien und Weimar. 1786-1790. I. Herausgegeben von Norbert Miller und Hartmut Reinhardt. München – Wien 1990, S. 7-158, hier S. 39.]


Goethe, Johann Wolfgang: 40. An Philipp Hackert, 4. 4. 1806:

»Seit der großen Lücke, die durch Schillers Tod in mein Dasein gefallen ist, bin ich lebhafter auf das Andenken der Vergangenheit hingewiesen, und empfinde gewissermaßen leidenschaftlich, welche Pflicht es ist, das was für ewig verschwunden scheint, in der Erinnerung aufzubewahren.«

[Goethe: Sämtliche Werke (Anm. 1), hier ebd.]


Goethe, Johann Wolfgang: Tag- und Jahres-Hefte:

»Bei meiner Mutter Lebzeiten hätt’ ich das Werk unternehmen sollen, damals hätte ich selbst noch jenen Kinderszenen näher gestanden, und wäre durch die hohe Kraft ihrer Erinnerungsgabe völlig dahin versetzt worden. Nun aber mußte ich diese entschwundenen Geister in mir selbst hervorrufen und manche Erinnerungsmittel gleich einem notwendigen Zauberapparat mühsam und kunstreich zusammenschaffen. Ich hatte die Entwicklung eines bedeutend gewordenen Kindes, wie sie sich unter gegebenen Umständen hervorgetan, aber doch wie sie im allgemeinen dem Menschenkenner und dessen Einsichten gemäß wäre, dar-zustellen. In diesem Sinne nannt’ ich bescheiden genug ein solches mit sorgfältiger Treue behandeltes Werk: Wahrheit und Dichtung, innigst überzeugt, daß der Mensch in der Gegenwart ja vielmehr noch in der Erinnerung die Außenwelt nach seinen Eigenheiten bildend modele.«

[Goethe, Johann Wolfgang: Tag- und Jahres-Hefte als Ergänzung meiner sonstigen Bekenntnisse. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 14: Autobiographische Schriften der frühen Zwanziger Jahre. Herausgegeben von Reiner Wild. München – Wien 1986, S. 7-323, hier S. 220.]


Goethe, Johann Wolfgang: ,Vorwort zum 3. Teil’:

»Ehe ich die nunmehr vorliegenden drei Bände zu schreiben anfing, dachte ich sie nach jenen Gesetzen zu bilden, wovon uns die Metamorphose der Pflanzen belehrt. […] | Freilich ist es Gartenfreunden wohl bekannt, daß eine Pflanze nicht in jedem Boden, ja in demselben Boden nicht jeden Sommer gleich gedeiht; […]. Ja wie viele Früchte fallen schon vor der Reife durch mancherlei Zufälligkeiten, und der Genuß, den man schon in der Hand geglaubt, wird vereitelt.«

[Goethe, Johann Wolfgang: . In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 16: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Herausgegeben von Peter Sprengel. München – Wien 1985, S. 868f., hier S. 868. ]


Goethe, Johann Wolfgang: 756. An Friedrich Wilhelm Heinrich von Trebra, 24. 11. 1813:

»[…] abermals ein Band der Tausend und einen Nacht meines wunderlichen Lebens […].«

[ Goethe: Sämtliche Werke (Anm. 1), S. 274-275, hier S. 275.]


Goethe, Johann Wolfgang: 41. An Charlotte von Stein, 14. 12. 1786:

»Er ist wie ein jüngerer Bruder von mir, von derselben Art, nur da vom Schicksal verwahrlost und beschädigt, wo ich begünstigt und vorgezogen bin.«

[Goethe, Johann Wolfgang: 41. An Charlotte von Stein 14.12.1786. In: Goethes Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. II. Abteilung: Briefe, Tagebücher und Gespräche. Herausgegeben von Karl Eibl zusammen mit Horst Fleig u. a. Band 3: Johann Wolfgang Goethe Italien- Im Schatten der Revolution: Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 3. September 1786 bis 12. Juni 1794. Herausgegeben von Karl Eibl. Frankfurt am Main 1991 (Bibliothek deutscher Klassiker 61), S. 192-194 hier S. 193.]


Pope, Alexander: Vom Menschen / Essay on Man:

»Know then thyself, presume not God to scan; | The proper study of mankind is Man.«

[Pope, Alexander: Vom Menschen / Essay on Man [II, v. 1f.]. Übersetzt von Eberhard Breidert. Mit einer Einleitung herausgegeben von Wolfgang Breidert. Englisch − deutsch. Hamburg 1993 (Philosophische Bibliothek 454), S. 38.]


Goethe, Johann Wolfgang: Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort:

»Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt, die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird. Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf.«

[Goethe, Johann Wolfgang: Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 12: Zur Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie. Erfahrung, Betrachtung, Folgerung, durch Lebensereignisse verbunden. Herausgegeben von Hans J. Becker, Gerhard H. Müller, John Neubauer und Peter Schmidt. München – Wien 1989, S. 306-309, hier S. 306.]


Goethe, Johann Wolfgang: Dichtung und Wahrheit:

»Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet, und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt. Hiezu wird aber ein kaum Erreichbares gefordert, daß nämlich das Individuum sich und sein Jahrhundert kenne, sich, inwiefern es unter allen Umständen dasselbe geblieben, das Jahrhundert, als welches sowohl den Willigen als Unwilligen mit sich fortreißt, bestimmt und bildet, dergestalt, daß man wohl sagen kann, ein jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren, dürfte, was seine eigene Bildung und die Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden sein.«

[Goethe: Dichtung und Wahrheit (Anm. 12), S. 11.]


»Am 28sten August 1749, Mittags mit dem Glockenschlage zwölf, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt. Die Konstellation war glücklich; die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau, und kulminierte für den Tag; Jupiter und Venus blickten sie freundlich an, Merkur nicht widerwärtig; Saturn und Mars verhielten sich gleichgültig: nur der Mond, der soeben voll ward, übte die Kraft seines Gegenscheins um so mehr, als zugleich seine Planetenstunde eingetreten war. Er widersetzte sich daher meiner Geburt, die nicht eher erfolgen konnte, als bis diese Stunde vorübergegangen. | Diese guten Aspekten, welche mir die Astrologen in der Folgezeit sehr hoch anzurechnen wußten, mögen wohl Ursache an meiner Erhaltung gewesen sein: denn durch Ungeschicklichkeit der Hebamme kam ich für tot auf die Welt, und nur durch vielfache Bemühungen brachte man es dahin, daß ich das Licht erblickte. Dieser Umstand, welcher die Meinigen in große Not versetzt hatte, gereichte jedoch meinen Mitbürgern zum Vorteil, indem mein Großvater, der Schultheiß Johann Wolfgang Textor, daher Anlaß nahm, daß ein Geburtshelfer angestellt und der Hebammen Unterricht eingeführt oder erneuert wurde; welches denn manchem der Nachgebornen mag zu Gute gekommen sein.«

[Goethe: Dichtung und Wahrheit (Anm. 12), S. 13.]


»Sobald mir’s nur irgend möglich war, ging ich wieder zur schlimmen Mauer, um wenigstens jene Merkzeichen im Gedächtnis anzufrischen und das köstliche Pförtchen zu beschauen. Allein zu meinem größten Erstaunen fand ich alles verändert. […] Eine Nische mit einem Brunnen findet sich weit links, der aber jenem, den ich gesehen, durchaus nicht zu vergleichen ist; so daß ich beinahe glauben muß, das zweite Abenteuer sei so gut als das erste ein Traum gewesen: […]. Das Einzige was mich tröstet, ist die Bemerkung, daß jene drei Gegenstände stets den Ort zu verändern scheinen: denn bei wiederholtem Besuch jener Gegend glaube ich bemerkt zu haben, daß die Nußbäume etwas zusammenrücken und daß Tafel und Brunnen sich ebenfalls zu nähern scheinen. Wahrscheinlich, wenn alles wieder zusammentrifft, wird auch die Pforte von neuem sichtbar sein, und ich werde mein Mögliches tun, das Abenteuer wieder anzuknüpfen.«

[Goethe: Dichtung und Wahrheit (Anm. 12), S. 70f.]


»Dieses Märchen, von dessen Wahrheit meine Gespielen sich leidenschaftlich zu überzeugen trachteten, erhielt großen Beifall. Sie besuchten, Jeder allein, ohne es mir oder den andern zu vertrauen, den angedeuteten Ort, fanden die Nußbäume, die Tafel und den Brunnen, aber immer entfernt von einander: wie sie zuletzt bekannten, weil man in jenen Jahren nicht gern ein Geheimnis verschweigen mag. Hier ging aber der Streit erst an. Der Eine versicherte: die Gegenstände rückten nicht vom Flecke und blieben immer in gleicher Entfernung unter einander. Der Zweite behauptete: sie bewegten sich, aber sie entfernten sich von einander. Mit diesem war der Dritte über den ersten Punkt der Bewegung einstimmig, doch schienen ihm Nußbäume, Tafel und Brunnen sich vielmehr zu nähern. Der Vierte wollte noch was Merkwürdigeres gesehen haben: die Nußbäume nämlich in der Mitte, die Tafel aber und den Brunnen auf den entgegengesetzten Seiten, als ich angegeben. […] Als ich die Fortsetzung meines Märchens hartnäckig verweigert, ward dieser erste Teil öfters wieder begehrt. Ich hütete mich, an den Umständen viel zu verändern, und durch die Gleichförmigkeit meiner Erzählung verwandelte ich in den Gemütern meiner Zuhörer die Fabel in Wahrheit.«

[Goethe: Dichtung und Wahrheit (Anm. 12), S. 71.]


»Wir traten hinein zu einer sonderbaren Szene: denn in dem Augenblick trat Gottsched, der große breite riesenhafte Mann, in einem gründamastnen, mit rotem Taft gefütterten Schlafrock zur entgegengesetzten Türe herein; aber sein ungeheures Haupt war kahl und ohne Bedeckung. Dafür sollte jedoch sogleich gesorgt sein: denn der Bediente sprang mit einer großen Allongeperücke auf der Hand (die Locken fielen bis an den Ellenbogen) zu einer Seitentüre herein und reichte den Hauptschmuck seinem Herrn mit erschrockner Gebärde. Gottsched, ohne den mindesten Verdruß zu äußern, hob mit der linken Hand die Perücke von dem Arme des Dieners, und indem er sie sehr geschickt auf den Kopf schwang, gab er mit seiner rechten Tatze dem armen Menschen eine Ohrfeige, so daß dieser, wie es im Lustspiel zu geschehen pflegt, sich zur Türe hinaus wirbelte, worauf der ansehnliche Altvater uns ganz gravitätisch zu sitzen nötigte und einen ziemlich langen Diskurs mit gutem Anstand durchführte.«

[Goethe: Dichtung und Wahrheit (Anm. 12), S. 291f.]


»Gedachtes Werk hatte bei mir einen großen Eindruck zurück-gelassen, von dem ich mir selbst nicht Rechenschaft geben konnte; eigentlich fühlte ich mich aber in Übereinstimmung mit jener ironischen Gesinnung, die sich über die Gegenstände, über Glück und Unglück, Gutes und Böses, Tod und Leben erhebt, und so zum Besitz einer wahrhaft poetischen Welt gelangt. Freilich konnte dieses nur später bei mir zum Bewußtsein kommen, genug, es machte mir für den Augenblick viel zu schaffen; keineswegs aber hätte ich erwartet, alsobald aus dieser fingierten Welt in eine ähnliche wirkliche versetzt zu werden.«

[Goethe: Dichtung und Wahrheit (Anm. 12), S. 461.]


»In diesem Augenblick trat sie wirklich in die Türe; und da ging fürwahr an diesem ländlichen Himmel ein allerliebster Stern auf. Beide Töchter trugen sich noch deutsch, wie man es zu nennen pflegte, und diese fast verdrängte Nationaltracht kleidete Friedriken besonders gut. Ein kurzes weißes rundes Röckchen mit einer Falbel, nicht länger, als daß die nettesten Füßchen bis an die Knöchel sichtbar blieben; ein knappes weißes Mieder und eine schwarze Taffetschürze – so stand sie auf der Grenze zwischen Bäuerin und Städterin. Schlank und leicht, als wenn sie nichts an sich zu tragen hätte, schritt sie, und beinahe schien für die gewaltigen blonden Zöpfe des niedlichen Köpfchens der Hals zu zart. Aus heiteren blauen Augen blickte sie sehr deutlich umher, und das artige Stumpfnäschen forschte so frei in die Luft, als wenn es in der Welt keine Sorge geben könnte; der Strohhut hing ihr am Arm, und so hatte ich das Vergnügen, sie beim ersten Blick auf einmal in ihrer ganzen Anmut und Lieblichkeit zu sehn und zu erkennen. […] | Ich fing nun an, meine Rolle mit Mäßigung zu spielen, halb beschämt, so gute Menschen zum besten zu haben, die zu beobachten es mir nicht an Zeit fehlte[…].«

[Goethe: Dichtung und Wahrheit (Anm. 12), S. 466.]


»Ich war grenzenlos glücklich an Friedrikens Seite; gesprächig, lustig, geistreich, vorlaut, und doch durch Gefühl, Achtung und Anhänglichkeit gemäßigt. Sie in gleichem Falle, offen, heiter, teilnehmend und mitteilend. Wir schienen allein für die Gesellschaft zu leben und lebten bloß wechselseitig für uns.«

[Goethe: Dichtung und Wahrheit (Anm. 12), S. 493.]


»Solchen Zerstreuungen und Heiterkeiten gab ich mich um so lieber und zwar bis zur Trunkenheit hin, als mich mein leidenschaftliches Verhältnis zu Friedriken nunmehr zu ängstigen anfing. Eine solche jugendliche, aufs Geratewohl gehegte Neigung ist der nächtlich geworfenen Bombe zu vergleichen, die in einer sanften, glänzenden Linie aufsteigt, sich unter die Sterne mischt, ja einen Augenblick unter ihnen zu verweilen scheint, alsdann aber abwärts zwar wieder dieselbe Bahn, nur umgekehrt, bezeichnet, und zuletzt da, wo sie ihren Lauf geendet, Verderben hinbringt. Friedrike blieb sich immer gleich; sie schien nicht zu denken noch denken zu wollen, daß dieses Verhältnis sich so bald endigen könne. Olivie hingegen, die mich zwar auch ungern vermißte, aber doch nicht so viel als jene verlor, war voraussehender oder offener. Sie sprach manchmal mit mir über meinen vermutlichen Abschied und suchte über sich selbst und ihre Schwester sich zu trösten. Ein Mädchen, das einem Manne entsagt, dem sie ihre Gewogenheit nicht verleugnet, ist lange nicht in der peinlichen Lage, in der sich ein Jüngling befindet, der mit Erklärungen ebenso weit gegen ein Frauenzimmer herausgegangen ist.«

[Goethe: Dichtung und Wahrheit (Anm. 12), S. 530f.]


»In solchem Drang und Verwirrung konnte ich doch nicht unterlassen, Friedriken noch einmal zu sehn. Es waren peinliche Tage, deren Erinnerung mir nicht geblieben ist. Als ich ihr die Hand noch vom Pferde reichte, standen ihr die Tränen in den Augen, und mir war sehr übel zu Mute. Nun ritt ich auf dem Fußpfade gegen Drusenheim, und da überfiel mich eine der sonderbarsten Ahndungen. Ich sah nämlich, nicht mit den Augen des Leibes, sondern des Geistes, mich mir selbst, denselben Weg, zu Pferde wieder entgegen kommen, und zwar in einem Kleide, wie ich es nie getragen: es war hechtgrau mit etwas Gold. Sobald ich mich aus diesem Traum aufschüttelte, war die Gestalt ganz hinweg. Sonderbar ist es jedoch, daß ich nach acht Jahren, in dem Kleide, das mir geträumt hatte, und das ich nicht aus Wahl, sondern aus Zufall gerade trug, mich auf demselben Wege fand, um Friedriken noch einmal zu besuchen. Es mag sich übrigens mit diesen Dingen wie es will verhalten, das wunderliche Trugbild gab mir in jenen Augenblicken des Scheidens einige Beruhigung. Der Schmerz, das herrliche Elsaß, mit allem, was ich darin erworben, auf immer zu verlassen, war gemildert, und ich fand mich, dem Taumel des Lebewohls endlich entflohn, auf einer friedlichen und erheiternden Reise so ziemlich wieder.«

[Goethe: Dichtung und Wahrheit (Anm. 12), S. 532/535.]


Goethe, Johann Wolfgang: Zu Friedrich Soret, 5. 3. 1830:

»Sie war in der Tat die erste, die ich tief und wahrhaft liebte. Auch kann ich sagen, daß sie die letzte gewesen; denn alle kleinen Neigungen, die mich in der Folge meines Lebens berührten, waren, mit jener ersten verglichen, nur leicht und oberflächlich. Ich bin […] meinem eigentlichen Glücke nie so nahe gewesen als in der Zeit jener Liebe zu Lili. Die Hindernisse, die uns auseinanderhielten, waren im Grunde nicht unübersteiglich – und doch ging sie mir verloren!«

[Goethe: Die letzten Jahre – Gespräch mit Soret 5.3.1830 (Anm. 7), S. 234-236.]


Goethe, Johann Wolfgang: Dichtung und Wahrheit:

»Ich hatte auf Lili mit Überzeugung Verzicht getan, aber die Liebe machte mir diese Überzeugung verdächtig. Lili hatte in gleichem Sinne von mir Abschied genommen, und ich hatte die schöne zerstreuende Reise angetreten; aber sie bewirkte gerade das Umgekehrte. Solange ich abwesend war, glaubte ich an die Trennung, glaubte nicht an die Scheidung. Alle Erinnerungen, Hoffnungen und Wünsche hatten ein freies Spiel. Nun kam ich zurück, und wie das Wiedersehn der frei und freudig Liebenden ein Himmel ist, so ist das Wiedersehn von zwei nur durch Vernunft-gründe getrennten Personen ein unleidliches Fegefeuer, ein Vorhof der Hölle. Als ich in die Umgebung Lilis zurückkam, fühlte ich alle jene Mißhelligkeiten doppelt, die unser Verhältnis gestört hatten; als ich wieder vor sie selbst hintrat, fiel mirs hart aufs Herz, daß sie für mich verloren sei. Ich entschloß mich daher abermals zur Flucht, und es konnte mir deshalb nichts erwünschter sein, als daß das junge herzoglich weimarische Paar von Karlsruhe nach Frankfurt kommen und ich, früheren und späteren Einladungen gemäß, ihnen nach Weimar folgen sollte.«

[Goethe: Dichtung und Wahrheit (Anm. 12), S. 823.]


»Der Wagen stand vor der Tür, aufgepackt war, der Postillion ließ das gewöhnliche Zeichen der Unruhe erschallen, ich riß mich los, [Demoiselle Delf] wollte mich noch nicht fahren lassen, und brachte künstlich genug die Argumente der Gegenwart alle vor, so daß ich endlich leidenschaftlich und begeistert die Worte Egmonts ausrief: | Kind, Kind! nicht weiter! Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksals leichtem Wagen durch, und uns bleibt nichts, als mutig gefaßt, die Zügel festzuhalten, und bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze da die Räder abzulenken. Wohin es geht, wer weiß es? Erinnert er sich doch kaum, woher er kam.«

[Goethe: Dichtung und Wahrheit (Anm. 12), S. 831f.]


»Der Mensch mag sich wenden wohin er will, er mag unternehmen was es auch sei, stets wird er auf jenen Weg wieder zurückkehren, den ihm die Natur einmal vorgezeichnet hat.«

[Goethe: Dichtung und Wahrheit (Anm. 12), S. 139.]


Goethe, Johann Wolfgang: Urworte. Orphisch:

»ΔΑΙΜΩΝ, Dämon

Wie an dem Tag, der Dich der Welt verliehen, | Die Sonne stand zum Gruße der Planeten, | Bist alsobald und fort und fort gediehen | Nach dem Gesetz wonach Du angetreten. | So mußt Du sein, Dir kannst du nicht entfliehen, | So sagten schon Sibyllen, so Propheten; | Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt | Geprägte Form die lebend sich entwickelt.

ΤΥΧΗ, Das Zufällige

Die strenge Grenze doch umgeht gefällig | Ein Wandelndes, das mit und um uns wandelt; | Nicht einsam bleibst Du, bildest Dich gesellig | Und handelst wohl so, wie ein andrer handelt: | Im Leben ist’s bald hin- bald widerfällig, | Es ist ein Tand und wird so durchgetandelt. | Schon hat sich still der Jahre Kreis geründet, | Die Lampe harrt der Flamme die entzündet.

ΕΡΩΣ, Liebe

Die bleibt nicht aus! – Er stürzt vom Himmel nieder, | Wohin er sich aus alter Öde schwang, | Er schwebt heran auf luftigem Gefieder | Um Stirn und Brust den Frühlingstag entlang, | Scheint jetzt zu fliehn, vom Fliehen kehrt er wieder, | Da wird ein Wohl im Weh, so süß und bang. | Gar manches Herz verschwebt im Allgemeinen, | Doch widmet sich das edelste dem Einen.

ΑΝΑΓΚΗ, Nötigung

Da ists denn wieder wie die Sterne wollten: | Bedingung und Gesetz und aller Wille | Ist nur ein Wollen, weil wir eben sollten, | Und vor dem Willen schweigt die Willkür stille; | Das Liebste wird vom Herzen weggescholten, | Dem harten Muß bequemt sich Will’ und Grille. | So sind wir scheinfrei denn nach manchen Jahren | Nur enger dran als wir am Anfang waren.

ΕΛΠΙΣ, Hoffnung

Doch solcher Grenze, solcher ehrnen Mauer | Höchst widerwärt’ge Pforte wird entriegelt, | Sie stehe nur mit alter Felsendauer! | Ein Wesen regt sich leicht und ungezügelt: | Aus Wolkendecke, Nebel, Regenschauer | Erhebt sie uns, mit ihr, durch sie beflügelt; | Ihr kennt sie wohl, sie schwärmt durch alle Zonen; | Ein Flügelschlag – und hinter uns Äonen.«

[Goethe, Johann Wolfgang: Urworte. Orphisch. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner
Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm.
Band 13.1: Die Jahre 1820-1826. Herausgegeben von Gisela Henckmann und Irmela Schneider. München – Wien 1992, S. 156f.]


»Der Dämon bedeutet hier die notwendige, bei der Geburt unmittelbar ausgesprochene, begrenzte Individualität der Person.

Säugamme und Wärterin, Vater oder Vormund, Lehrer oder Aufseher, so wie alle die ersten Umgebungen […], alles bedingt die Eigentümlichkeit durch frühere Entwickelung, durch Zurückdrängen oder Beschleunigen; der Dämon freilich hält sich durch alles durch […].

Hierunter ist alles begriffen, was man von der leisesten Neigung bis zur leidenschaftlichsten Raserei nur denken möchte; hier verbinden sich der individuelle Dämon und die verführende Tyche mit einander; der Mensch scheint nur sich zu gehorchen, […], und doch sind es Zufälligkeiten, die sich unterschieben.

Keiner Anmerkungen bedarf wohl diese Strophe weiter; niemand ist, dem nicht Erfahrung genugsame Noten zu einem solchen Text darreichte, niemand, der sich nicht peinlich gezwängt fühlte, wenn er nur erinnerungsweise sich solche Zustände hervorruft.«

[Goethe: Urworte (Anm. 31), hier S. 500-505.]