Vorlesung: Die Literatur des 19. Jahrhunderts (SoSe 2016)
Prof. Dr. Albert Meier

Stefan George

Stefan George (1868-1933) ist in Deutschland die Hauptfigur des literarischen ›Symbolismus‹, der als komplementäres Gegenstück zum Naturalismus zu verstehen ist: Während sich der Realismus im Naturalismus radikalisiert, geht der Symbolismus auf größtmöglichen Abstand zur Lebenswelt, um die eigene Artifizialität zu betonen.

Der George-Kreis

George ist der Mittelpunkt seines Kreises, der sich der Idee einer neuen, dezidiert autonomen Kunst verschrieben hat, die reiner Selbstzweck sein soll und als einzigen Wert die ›Schönheit‹ anerkennt.

Publikationsorgan des George-Kreises sind die nur einem limitierten Leserkreis zugänglichen Blätter für die Kunst, in welcher sich sowohl literarische Werke als auch programmatische Schriften finden; ihr elitärer Anspruch spiegelt sich auch in der entwickelten Poetologie wider, die eine entschiedene Abkehr von allem Normalen proklamiert. Die eigentliche Aufgabe des Künstlers wird vielmehr darin gesehen, das Material der Alltagssprache so zu verwenden, dass es eine völlig andere Wertigkeit und insbesondere sinnliche Intensität gewinnt.

Sprachverfremdung

Teil dieser ästhetischen Strategie der Realitätsverweigerung ist die Abweichung von normalen Schreibkonventionen. George folgt damit dem Beispiel Stéphane Mallarmés (1842-1898), der eine Verfremdung der Sprache fordert, um in der Kunst den gewöhnlichen Zeichencharakter des Sprachmaterials zu tilgen (in der Poesie sollen die Wörter gewissermaßen als Signifikanten ohne Signifikate erscheinen).

Im Symbolismus ist somit kein ›Sinn‹ einer Dichtung gewollt, sondern allein die sinnliche Qualität der Komposition, die den Rezipienten in eine gegenstandslose Erregung und somit in einen ästhetischen Zustand versetzen soll. In gleicher Weise wie die Musik soll die Literatur Empfindungen auslösen, ohne rational verarbeitet werden zu müssen.

Dieser Effekt ist für die Literatur allerdings schwieriger zu erreichen als für die Musik, da jeder Dichter das gleiche semantisierte Sprach-Material benutzen muss wie die Nicht-Dichter in ihrer Alltagskommunikation, das daher immer zu rationalen, dekodierenden Rezeptionsversuchen verleitet. Der Dichter habe daher die Aufgabe, seine Texte durch ästhetische Verfremdung so zu konzipieren, dass sie sinnlich-ästhetisch rezipiert werden können und primär das Gemüt, nicht den Verstand ansprechen.

Nicht interpretierbare Dichtung

Da die Literatur des Symbolismus in ihrer Selbstreferenzialität auf keinen über den Text hinausgehenden Sinn verweist, sondern durch den Klang bzw. den Eindruck der sprachlichen Bilder zu wirken sucht, sind die Dichtungen Stefan Georges im Grunde nicht interpretierbar (bzw. nicht interpretationsbedürftig).

Dies zeigt sich auch in seiner Gedichtsammlung Algabal (1892), in welcher historisch überlieferte Episoden aus dem Leben des römischen Kaisers Elagabal (204-222) in lakonischer Verdunkelung lyrisch ausgestaltet werden. Die zweite Auflage des Algabal-Zyklus widmet George dem Gedächtnis des Bayern-Königs Ludwig II., der wie einst Elagabal für die Verbindung von Schönheit und Macht steht.

Carl August Klein: Blätter für die Kunst:

»[…] die Kunst für die Kunst […]«

[Klein, Carl August: Blätter für die Kunst. In: Blätter für die Kunst. Begründet von Stefan George. Herausgegeben von Carl August Klein. 1892- 1919. Abgelichteter Neudruck. Zum Jubiläumsjahr 1968. 9. Folge. I-V. Band. Düsseldorf – München 1967, S. 1.]


Paul Gerardy: Geistige Kunst:

»Man darf den dichtern die sich hier vereinigt haben nicht die leeren oder unvollständigen namen Mystiker und Symbolisten beilegen, denn das wollen sie nicht mehr sein als die klassischen meister es waren. allein der name künstler genügt und passt ihrem geringen stolz. […] Sie sind keine sittenprediger und lieben nur die schönheit die schönheit die schönheit.«

[Gerardy, Paul: Geistige Kunst. In: Blätter für die Kunst. Begründet von Stefan George. Herausgegeben von Carl August Klein. 1892-1919. Abgelichteter Neudruck. Zum Jubiläumsjahr 1968. Zweite Folge, IV. Band. Düsseldorf – München 1967, S. 113.]


Carl August Klein: Über Stefan George, eine neue kunst:

»Wenn der Deutsche sich zu den verfassern des jungen Belgien, Frankreich und England hingezogen fühlt, so hat es seinen grund darin dass es ihm wie Ihnen aufgegangen ist worin das wesen der modernen dichtung liegt: das wort aus seinem gemeinen alltäglichen kreis zu reissen und in eine leuchtende sfäre zu erheben.«

[Klein, Carl August: Über Stefan George, eine neue kunst. In: Blätter für die Kunst. Begründet von Stefan George. Herausgegeben von Carl August Klein. 1892-1919. Abgelichteter Neudruck. Zum Jubiläumsjahr 1968. Erste Folge. Band 2. Düsseldorf – München 1967, S. 45-50, hier S. 47.]


Stéphane Mallarmé: Crise de vers:

»Je dis : une fleur ! et, hors de l’oubli où ma voix relègue aucun contour, en tant que quelque chose d’autre que les calices sus, musicalement se lève, idée même et suave, l’absente de tous les bouquets.«

Ich sage: eine Blume! und aus dem Vergessen, wohin meine Stimme jeden Umriss verbannt, erhebt sich als etwas Anderes als die gewussten Kelche, musikalisch, Idee gleichsam und zart, die in allen Sträußen Abwesende.

[Mallarmé, Stéphane: Crise de vers. In: Mallarmé: Œuvres complètes II. Édition présentée, établie et annotée par Bertrand Marchant. [Paris] 2003 (Bibliothèque de la Pléiade 497), S. 204-213, hier S. 213.]


Hugo von Hofmannsthal: Bildlicher Ausdruck:

Die Leute suchen hinter einem Gedicht, was sie den ›eigentlichen Sinn‹ nennen. Sie sind wie die Affen, die auch immer mit den Händen hinter einen Spiegel fahren, als müsse dort ein Körper zu fassen sein.

[Hofmannsthal, Hugo von: Bildlicher Ausdruck. In: Hofmannsthal, Hugo von: Der Brief des Lord Chandos. Schriften zur Literatur, Kunst und Geschichte. Herausgegeben von Mathias Mayer. Stuttgart 2000, S. 45.]


Carl August Klein: Über Stefan George, eine neue kunst:

»Die form dieses werkes ist im strengsten sinn klassisch. hier giebt es keine falschen unreinen reime mehr keinen einzigen leichtsinnigen fehler im takt und (ein seltener reichtum) dasselbe wort wiederholt sich niemals im reim. und kein ›herz‹ und kein ›schmerz‹ mehr auch kein mattes aufhelfen mit ›freundesherz‹ und ›todesschmerz‹. alles das gilt nichts mehr. durch genau erwogene wahl und anhäufung von konsonanten und vokalen bekommen wir einen eindruck ohne zuthat des sinnes. jubel und trauer glätte und härte nacht und licht fühlen wir ohne dass wir die begriffe dastehn haben. ganze verse dünken uns aus einer anderen sprache und versetzen uns in seltsame unruhe. alles läuft auf eins hinaus: den grossen zusammenklang wobei wir durch die worte erregt werden wie durch rauschmittel.«

[Klein, Carl August: Über Stefan George, eine neue kunst. In: Blätter für die Kunst. Begründet von Stefan George. Herausgegeben von Carl August Klein. 1892-1919. Abgelichteter Neudruck. Zum Jubiläumsjahr 1968. Erste Folge. Band 2. Düsseldorf – München 1967, S. 45-50, hier S. 48.]


Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra:

»Gespenster-Hauch und –Huschen gilt mir all ihr Harfen-Klingklang; was wussten sie bisher von der Inbrunst der Töne!«

[Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Band 4: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. München 1980, S. 165 (›Von den Dichtern‹).]


Stéphane Mallarmé: Sur l’évolution littéraire:

»Nommer un objet, c’est supprimer les trois quarts de la jouissance du poëme qui est faite de deviner peu à peu: le suggérer, voilà le rêve. C’est le parfait usage de ce mystère qui constitue le symbole: évoquer petit à petit un objet pour montrer un état d’âme, ou, inversement, choisir un objet et en dégager un état d’âme, par une série de déchiffrements.«

Ein Ding beim Namen nennen, das heißt drei Viertel vom Genuss der Dichtung unterdrücken, der doch im allmählichen Erahnen besteht: es suggerieren – da hat man den Traum. Es ist die perfekte Anwendung dieses Geheimnisses, was das Symbol ausmacht: Stück für Stück einen Gegenstand evozieren, um durch eine Folge von Entzifferungen einen Seelenzustand darzustellen.

[Mallarmé, Stéphane: Sur l’évolution littéraire. In: Mallarmé: Œuvres complètes II. Édition présentée, établie et annotée par Bertrand Marchant. [Paris] 2003 (Bibliothèque de la Pléiade 497), S. 697-702, hier S. 700.]


Stéphane Mallarmé: La Musique et les Lettres:

»[…] oublions la vieille distinction, entre la Musique et les Lettres [….]«

… vergessen wir doch die alte Unterscheidung zwischen der Musik und der Literatur …

[Mallarmé, Stéphane: La Musique et les Lettres. In: Mallarmé: Œuvres complètes II. Édition présentée, établie et annotée par Bertrand Marchant. [Paris] 2003 (Bibliothèque de la Pléiade 497), S. 53-77, hier S. 69.]


Stefan George: Mallarmé:

»Jeden wahren künstler hat einmal die sehnsucht befallen in einer sprache sich auszudrücken deren die unheilige menge sich nie bedienen würde oder seine worte so zu stellen dass nur der eingeweihte ihre hehre Bestimmung erkenne.«

[George, Stefan: Mallarmé. In: George, Stefan: Die Gedichte / Tage und Taten. Stuttgart 2003, S. 904-906, hier S. 905.]


Quintus Horatius Flaccus:

»Odi profanum volgus et arceo. / favete linguis: carmina non prius / audita Musarum sacerdos / virginibus puerisque canto.«

[Quintus Horatius Flaccus: Carmina lib. III, 1 (v. 1-4). In: Horaz: Sämtliche Werke. Lateinisch und deutsch. Nach Kayser, Norchenflycht und Burger herausgegeben von Hans Färber. München 1993, S. 104/5.]


Stefan George: Nach der Lese:

»Komm in den totgesagten park und schau:
Der schimmer ferner lächelnder gestade ·
Der reinen wolken unverhofftes blau
Erhellt die weiher und die bunten pfade.

Dort nimm das tiefe gelb · das weiche grau
Von birken und von buchs · der wind ist lau ·
Die späten rosen welkten noch nicht ganz ·
Erlese küsse sie und flicht den kranz ·

Vergiss auch diese lezten astern nicht ·
Den purpur um die ranken wilder reben
Und auch was übrig blieb von grünem leben
Verwinde leicht im herbstlichen gesicht.«

[George, Stefan: Die Gedichte / Tage und Taten. Stuttgart 2003, S. 274.]


Carl August Klein: Blätter für die Kunst:

»Der name dieser veröffentlichung [Blätter für die Kunst] sagt schon zum teil was sie soll: der kunst besonders der dichtung und dem schrifttum dienen, alles staatliche und gesellschaftliche ausscheidend.«

[Klein, Carl August: Blätter für die Kunst. In: Blätter für die Kunst. Begründet von Stefan George. Herausgegeben von Carl August Klein. 1892- 1919. Abgelichteter Neudruck. Zum Jubiläumsjahr 1968. Band 1. Düsseldorf – München 1967, S. 1f., hier S. 1.]


Stefan George: Über Dichtung:

»In der dichtung – wie in aller kunst-bethätigung ist jeder der noch von der sucht ergriffen ist etwas ›sagen‹ etwas ›wirken‹ zu wollen nicht einmal wert in den vorhof der kunst einzutreten.«

[George, Stefan: Uber Dichtung. In: Blätter für die Kunst. Begründet von Stefan George. Herausgegeben von Carl August Klein. 1892-1919. Abgelichteter Neudruck. Zum Jubiläumsjahr 1968. Zweite Folge, III. Band. Düsseldorf – München 1967, S. 122.]


»Den wert der dichtung entscheidet nicht der sinn (sonst wäre sie etwa weisheit gelahrtheit) sondern die form d.h. durchaus nichts äusserliches sondern jenes tief erregende in maass und klang wodurch zu allen zeiten die Ursprünglichen die Meister sich von den nachfahren den künstlern zweiter ordnung unterschieden haben.«

[George, Stefan: Uber Dichtung. In: Blätter für die Kunst. Begründet von Stefan George. Herausgegeben von Carl August Klein. 1892-1919. Abgelichteter Neudruck. Zum Jubiläumsjahr 1968. Zweite Folge, III. Band. Düsseldorf – München 1967, S. 122.]


»Strengstes maass ist zugleich höchste freiheit.«

[George, Stefan: Uber Dichtung. In: Blätter für die Kunst. Begründet von Stefan George. Herausgegeben von Carl August Klein. 1892-1919. Abgelichteter Neudruck. Zum Jubiläumsjahr 1968. Zweite Folge, III. Band. Düsseldorf – München 1967, S. 122.]


Carl August Klein: Über Stefan George, eine neue kunst:

»es erhellt dass diese dichtungsart nur vornehmen geistern einen genuss bereiten kann. wer anders aber als ein vornehmer geist hat sich jemals um ernsthafte kunst gekümmert und giebt es nicht genug geschriebenes für die menge?«

[Klein, Carl August: Über Stefan George, eine neue kunst. In: Blätter für die Kunst. Begründet von Stefan George. Herausgegeben von Carl August Klein. 1892-1919. Abgelichteter Neudruck. Zum Jubiläumsjahr 1968. Erste Folge. Band 2. Düsseldorf – München 1967, S. 45-50, hier S. 50.]


Gustave Flaubert an Louis de Cormenin (7. 6. 1844):

»J’ai lu dernièrement la vie d’Héliogabale dans Plutarque. Cet homme-là a une beauté différente de celle de Néron. C’est plus asiatique, plus fiévreux, plus romantique, plus effréné: c’est le soir du jour, c’est un délire aux flambeaux.«

Ich habe kürzlich Heliogabals Vita im Plutarch gelesen. Dieser Mann hat eine ganz andere Schönheit als Nero. Das ist asiatischer, fiebriger, romantischer, ungezügelter: Es ist der Abend des Tages, es ist ein Rausch bei Fackelschein.

[Gustave Flaubert an Louis de Cormenin, 7. 6. 1844. In: Flaubert, Gustave: Correspondance I (janvier 1830 à avril 1851). Herausgegeben von Jean Bruneau. Paris 1973, S. 209f.]


Stefan George: Algabal:

»Rosen regnen / Purpurne satte / Die liebkosen? / Weisse matte / Euch zu laben? / Malvenrote / Gelbe tote : / Manen-küsse / Euch zu segnen // Auf die schleusen ! / Und aus reusen / Regnen rosen / Güsse flüsse / Die begraben.«

[George, Stefan: Algabal. In: George, Stefan: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Band II: Hymnen / Pilgerfahrten / Algabal. Stuttgart 1987, S. 55- 85, hier S. 69.]


Gundolf, Friedrich: George:

»Was sagt nun die Wahl des Sinnbilds (mag sie auch mitbestimmt sein durch den Eindruck des Königs Ludwig von Baiern) über Georges da-maligen Willen aus: der spätrömische Kult-kaiser, der verrufenste Name der Geschichte, als Träger eines Traumes von Weihe, Höhe und Ferne? […] Durch das schaurig tolle Fratzenbild der spätantiken Überlieferung vom götter-mischenden Sonnenbuben, Weibjüngling und Lasterpriester aus dem Osten hat George Ur-formen menschlicher Triebe und kosmischer Mächte geahnt, jenseits der bürgerlichen Sitten-begriffe und der christlichen Werte.«

[Gundolf, Friedrich: George. Berlin 1920, S. 80.]


Carl August Klein: Über Stefan George, eine neue kunst:

»jedes einzelne gedicht ist ein bild eine zene. handelnde person ist überall die seele des modernen künstlers. [Algabal ist] symbol des byzantinischen imperators der im rieseln der metalle und überreicher gewänder sich zu tode trauert.«

[Klein, Carl August: Über Stefan George, eine neue kunst. In: Blätter für die Kunst. Begründet von Stefan George. Herausgegeben von Carl August Klein. 1892-1919. Abgelichteter Neudruck. Zum Jubiläumsjahr 1968. Band 1. Düsseldorf – München 1967, S. 45-50, hier S. 49.]


Stefan George: Algabal:

»ALS MEINE JUGEND MEIN LEBEN HOB IN SOLCH EIN LICHT
KAM SIE ERSTAUNEND DEINEM NAH UND LIEBTE DICH.
NUN RUFT EIN HEIL DIR ÜBERS GRAB HINAUS ALGABAL
DEIN JÜNGRER BRUDER O VERHÖHNTER DULDERKÖNIG«

[George, Stefan: Algabal. In: George, Stefan: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Band II: Hymnen / Pilgerfahrten / Algabal. Stuttgart 1987, S. 55- 85, hier S. 56.]


»Ich habe euren handels wahn erfasst«

[George, Stefan: Algabal. In: George, Stefan: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Band II: Hymnen / Pilgerfahrten / Algabal. Stuttgart 1987, S. 55- 85, hier S. 68.]


»Hernieder steig ich eine marmortreppe / Ein leichnam ohne haupt inmitten ruht / Dort sickert meines teuren bruders blut / Ich raffe leise nur die purpurschleppe«

[George, Stefan: Algabal. In: George, Stefan: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Band II: Hymnen / Pilgerfahrten / Algabal. Stuttgart 1987, S. 55- 85, hier S. 68.]


»Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme.
Der garten den ich mir selber erbaut
Und seiner vögel leblose schwärme
Haben noch nie einen frühling geschaut.

Von kohle die stämme. von kohle die äste
Und düstere felder am düsteren rain.
Der früchte nimmer gebrochene läste
Glänzen wie lava im pinien-hain.

Ein grauer schein aus verborgener höhle
Verrät nicht wann morgen wann abend naht
Und staubige dünste der mandel-öle
Schweben auf beeten und anger und saat.

Wie zeug ich dich aber im heiligtume
– So fragt ich wenn ich es sinnend durchmass
In kühnen gespinsten der sorge vergass –
Dunkle grosse schwarze blume?«

[George, Stefan: Algabal. In: George, Stefan: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Band II: Hymnen / Pilgerfahrten / Algabal. Stuttgart 1987, S. 55- 85, hier S. 63.]


»VOGELSCHAU

Weisse schwalben sah ich fliegen ·
Schwalben schnee- und silberweiss ·
Sah sie sich im winde wiegen ·
In dem winde hell und heiss.

Bunte häher sah ich hüpfen ·
Papagei und kolibri
Durch die wunder-bäume schlüpfen
In dem wald der Tusferi.

Grosse raben sah ich flattern ·
Dohlen schwarz und dunkelgrau
Nah am grunde über nattern
Im verzauberten gehau.

Schwalben seh ich wieder fliegen ·
Schnee- und silberweisse schar ·
Wie sie sich im winde wiegen
In dem winde kalt und klar!«

[George, Stefan: Algabal. In: George, Stefan: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Band II: Hymnen / Pilgerfahrten / Algabal. Stuttgart 1987, S. 55- 85, hier S. 85.]


»Am markte sah ich erst die würdevolle
Die schönste aus der weissen schwestern zug
Wie fürstenmantel hing die schlichte wolle
Um ihres nackens ihrer schulter bug.

Im schauspiel dann als sich die opfer mehrten
Und zügellos die menge beifall rief
Die todberufenen den cäsar ehrten:
Ihr auge blieb gelassen streng und tief.

Wenn ich der kurzen werbung rausch bedenke!
Ich riss die priesterin von dem altar
Und alle länder brachten brautgeschenke
Ich bot in bächen gold und balsam dar..

Und zweiflend ob das neue glück mir werde
Erfand ich nur den quell der neuen qual..
Ich sandte sie zurück zu ihrem herde
Sie hatte wie die anderen ein mal.«

[George, Stefan: Algabal. In: George, Stefan: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Band II: Hymnen / Pilgerfahrten / Algabal. Stuttgart 1987, S. 55- 85, hier S. 81.]


Franz Servaes: Impressionistische Lyrik:

»Der Lyriker hat mit dem Musiker eine Gleichheit des Zieles: die vage, schwe-bende, unendliche Gefühlsanregung. Die muß er jedoch mit ungleich gröberen Mitteln erreichen. Während der Musiker die ganze Welt der bedeutungslosen, rein durch sich selber wirkenden Töne für sich hat, die als rein sinnliche Werte sich unmittelbar in Gefühlswerte umsetzen lassen, ist der Lyriker an die sprachlich fixierten, mit festen Bedeutungen behafteten Laute gefesselt, die ihrer eigensten Natur nach dem Gefühl widerstreben, indem sie vorlaut auf den Verstand einreden.«

[Servaes, Franz: Impressionistische Lyrik. In: Die Zeit. Bd. 17, 1898, Nr. 212, 22. Oktober. Online verfügbar unter: https://www.unidue.de/lyriktheorie/texte/1898_servaes.html.]