Vorlesung: Die Literatur des 19. Jahrhunderts (SoSe 2016)
Prof. Dr. Albert Meier

Johann Wolfgang Goethe

Das Spätwerk Johann Wolfgang Goethes zeichnet sich nicht zuletzt dadurch aus, dass der Dichter nun vielfach das ‚Historisch-Werden‘ der eigenen Person reflektiert. Der Tod Schillers (1805) markiert in diesem Zusammenhang einen wichtigen Einschnitt und lässt Goethe das Bedürfnis entwickeln, entscheidende Aspekte seines Lebens literarisch zu konservieren. Seinen Ausdruck findet dieses Bestreben in zahlreichen autobiographischen Arbeiten: insbesondere Dichtung und Wahrheit, Italienische Reise und der Briefwechsel mit Schiller.

Die Wahlverwandtschaften – der erste ,realistische’ Roman der deutschen Literaturgeschichte

Nach 1805 distanziert sich Goethe zunehmend vom Projekt eines strikten Klassizismus für Deutschland. Diese stilistische Öffnung ist deutlich in seinem dritten Roman Die Wahlverwandtschaften (1809) zu erkennen, der als erster ‚realistischer‘ Roman der deutschen Literaturgeschichte bezeichnet werden kann und die in vielen prominenten Romanen des 19. Jahrhunderts weitergeführte Praxis der Literarisierung des Motivs ‚Ehebruch‘ einleitet (in den Wahlverwandtschaften allerdings in der paradoxen Form des Ehebruchs, den das Paar insofern mit sich selbst im legitimen Ehebett begeht, als beide Eheleute jeweils einen anderen Partner im Sinn haben).

Erzählstrategien der Wahlverwandtschaften

Stilistisches Hauptcharakteristikum von Goethes Roman ist die Ironie, die bereits im Titel zur Geltung kommt: Der Begriff ‚Wahlverwandtschaft‘ – eine Metapher der zeitgenössischen Chemie für die Bereitschaft bestimmter Stoffe, miteinander neue Verbindungen einzugehen – wird im Roman auf die Sphäre menschlicher Beziehungen übertragen. Dass Gespräche der Romanfiguren sich oberflächlich um das chemische Prinzip der Wahlverwandtschaft drehen, zugleich aber unbewusst von den eigenen erotischen Verwicklungen handeln, ist für die Leser als Frivolität durchsichtig: Die Figuren sagen beständig mehr, als sie zu sagen glauben.

Weitere zentrale Erzählstrategien sind die Verwendung von Symbolen sowie die Verdoppelung von Motiven (z. B. fällt zweimal ein Kind ins Wasser) und überhaupt das ‚Spiel mit Ähnlichkeiten‘, das insbesondere bei den Figurennamen zumTragen kommt (Eduard heißt eigentlich Otto und verliebt sich in Ottilie, die Nichte seiner Frau Charlotte; diese fühlt sich wiederum vom Hauptmann angezogen, der wirklich Otto heißt).

Orientalisch geprägte Lyrik: West-östlicher Divan

In den letzten Jahren seines Schaffens interessiert sich Goethe überdies für die produktive Rezeption der orientalischen Literatur. In seiner Gedicht-Sammlung West-östlicher Divan (1819) orientiert Goethe sich namentlich an persischen Traditionen und nutzt sie zur Bereicherung der eigenen Lyrik. Auch der West-östliche Divan ist strikt ironisch gehalten und erlaubt sich vielfach autobiographische Anspielungen (v. a. auf Goethes Neigung zu Marianne von Willemer, 1784-1860).

Bemerkenswert ist Gingo Biloba (= ‚zweilappiger Ginkgo‘), worin das Ginkgo-Blatt ob seiner Zweiteiligkeit als Symbol für die Paar-Bindung und damit für die Liebe ausgedeutet wird (Goethe unterscheidet das Symbol bewusst von der Allegorie: Als Ganzes ist das Symbol in seinem Sinngehalt nicht eindeutig zu dechiffrieren und hat daher weit höheren poetischen Wert als die rational zu entschlüsselnde Allegorie).

Goethes ,Hauptgeschäft’: Faust II

Die Arbeit an Faust II ist das ‚Hauptgeschäft‘ im Spätwerk Goethes. Während Faust I noch eine klare Handlung bietet (Fausts Wette mit Mephistopheles/Gretchen), ist der zweite Teil bewusst verrätselt, da entscheidende Handlungsschritte nicht realistisch motiviert sind.

Bei allen Unterschieden gehören beide Teile der ‚Tragödie‘ jedoch eng zusammen, da erst der Zweite Teil in seinem Ausgang die zentrale Antwort auf Fausts Frage aus dem Ersten Teil gibt, „was die Welt im Innersten zusammen hält“: die Liebe. Das ‚ewig Weibliche‘, das zuletzt vom Chorus mysticus angesprochen wird, ist in diesem Sinn als alles das zu verstehen, wonach Menschen streben können: erotische Liebe, Wahrheit, Macht usw.

Goethe, Johann Wolfgang: Faust-Dichtungen. Band I: Texte. Herausgegeben von Ulrich Gaier. Stuttgart 1999, S. 32 (v. 382 f.).

Johann Wolfgang Goethe an Wilhelm von Humboldt, 1. 12. 1831:

»Darf ich mich, mein Verehrtester, in altem Zutrauen ausdrücken, so gestehʻ ich gern daß in meinen hohen Jahren, mir alles mehr und mehr historisch wird: ob etwas in der vergangenen Zeit, in fernen Reichen, oder mir ganz nah räumlich im Augenblick vorgeht, ist ganz eins, ja ich erscheine mir selbst immer mehr und mehr geschichtlich […].«

[Goethe, Johann Wolfgang: Brief an Wilhelm von Humboldt, 1. 12. 1831 (zitiert nach Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Briefe, Tage- bücher und Gespräche. Vierzig Bände. II. Abteilung: Briefe, Tagebücher und Gespräche. Herausgegeben von Karl Eibl zusammen mit Horst Fleig, Wilhelm Große, Gertrud Herwig, Norbert Oellers, Hartmut Reinhardt, Dorothea Schäfer-Weiss und Rose Unterberger. Band 11 (38): Die letzten Jahre. Briefe, Tagebücher und Gespräche von 1823 bis zu Goethes Tod. Teil II: Vom Dornburger Aufenthalt 1828 bis zum To- de. Hrsg. von Horst Fleig. Frankfurt a.M. 1993, S. 494 f.).]


Johann Wolfgang Goethe an Philipp Hackert, 4. 4. 1806:

»Seit der großen Lücke, die durch Schillers Tod in mein Dasein gefallen ist, bin ich lebhafter auf das Andenken der Vergangenheit hingewiesen, und empfinde gewissermaßen leidenschaftlich, welche Pflicht es ist, das was für ewig verschwunden scheint, in der Erinnerung aufzubewahren.«

[Goethe, Johann Wolfgang: Brief an Philipp Hackert, 4. 4. 1806 (zitiert nach Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. II. Abteilung: Briefe, Tagebücher und Gespräche. Herausgegeben von Karl Eibl zusammen mit Horst Fleig, Wilhelm Große, Gertrud Herwig, Norbert Oellers, Hartmut Reinhardt, Dorothea Schäfer-Weiss und Rose Unterberger. Band 6 (33): Napoleonische Zeit. Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 10. Mai 1805 bis 6. Juni 1816. Teil I: Von Schillers Tod bis 1811. Hrsg. von Rose Unterberger. Frankfurt a.M. 1993, S. 48).]


Johann Wolfgang Goethe: Dichtung und Wahrheit:

»Der Mensch mag sich wenden wohin er will, er mag unternehmen was es auch sei, stets wird er auf jenen Weg wieder zurückkehren, den ihm die Natur einmal vorgezeichnet hat.«

[Goethe, Johann Wolfgang: Dichtung und Wahrheit. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Herausgegeben von Friedmar Apel, Hendrik Birus, Anne Bohnenkamp, Dieter Borchmeyer, Hans-Georg Dewitz, Karl Eibl, Wolf von Engelhardt, Horst Fleig, Harald Fricke, Stefan Greif, Wilhelm Große, Peter Huber, Herbert Jaumann, Reinhard Kluge, Dorothea Kuhn, Christoph Michel, Klaus-Detlef Müller, Gerhard Neumann, Norbert Oellers, Wolfgang Proß, Hartmut Reinhardt, Andrea Ruhlig, Dorothea Schäfer-Weiss, Gerhard Schmid, Irmtraud Schmid, Albrecht Schöne, Rose Unterberger, Wilhelm Voßkamp, Manfred Wenzel, Waltraud Wiethölter. I. Abteilung: Sämtliche Werke. Band 1: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Herausgegeben von Klaus-Detlef Müller. Frankfurt a.M. 1986, S. 143.]


Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandtschaften:

»Eduard war so liebenswürdig, so freundlich, so dringend; er bat sie, bei ihr bleiben zu dürfen, er forderte nicht, bald ernst bald scherzhaft suchte er sie zu bereden, er dachte nicht daran, daß er Rechte habe und löschte zuletzt mutwillig die Kerze aus. | In der Lampendämmerung sogleich behauptete die innre Neigung, behauptete die Einbildungskraft ihre Rechte über das Wirkliche. Eduard hielt nur Ottilien in seinen Armen; Charlotte schwebte der Hauptmann näher oder ferner vor der Seele, und so verwebten, wundersam genug, sich Abwesendes und Gegenwärtiges reizend und wonnevoll durcheinander. | Und doch läßt sich die Gegenwart ihr ungeheures Recht nicht rauben. Sie brachten einen Teil der Nacht unter allerlei Gesprächen und Scherzen zu, die um desto freier
waren als das Herz leider keinen Teil daran nahm. Aber als Eduard des andern Morgens an demBusen seiner Frau erwachte, schien ihm der Tag ahndungsvoll hereinzublicken, die Sonne schien ihm ein Verbrechen zu beleuchten; er schlich sich leise von ihrer Seite, und sie fand sich, seltsamgenug, allein als sie erwachte.«

[Goethe, Johann Wolfgang: Die Wahlverwandtschaften. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 9: Epoche der Wahlverwandtschaften 1807-1814. Hrsg. von Christoph Siegrist u. a. München – Wien 1987, S. 283-529, hier S. 363f.]


Christoph Martin Wieland an Karl August Böttiger, 16. 7. 1810:

»Und wie konnte G dieses Machwerk (denn etwas Gemachtes ist es freilich) einen Roman nennen, und erwarten, daß wir es für einen Roman, als für ein echtes Kunstwerk nehmen würden?«

[Wieland, Christoph Martin: Brief an Karl August Böttiger, 16. 7. 1810 (zitiert nach Goethe, Johann Wolfgang: Die Wahlverwandtschaften. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 9: Epoche der Wahlverwandtschaften 1807-1814. Hrsg. von Christoph Siegrist u. a. München – Wien 1987, S. 1233).]


Joseph Görres an Achim von Arnim, 1. 1. 1810:

»Ich kann mich gar nicht gewöhnen ans gemeine Leben in der Poesie, weit eher an die Poesie im Leben, es kömmt mir Manches bloß wie gebohnt und nicht geschnitzt vor.«

[Görres, Joseph: Brief an Achim von Arnim, 1. 1. 1810 (zitiert nach Goethe, Johann Wolfgang: Die Wahlverwandtschaften. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 9: Epoche der Wahlverwandtschaften 1807-1814. Hrsg. von Christoph Siegrist u. a. München – Wien 1987, S. 1223).]


Johann Wolfgang Goethe: Notiz:

»Es scheint, daß den Verfasser seine fortgesetzten physikalischen Arbeiten zu diesem seltsamen Titel veranlaßten. Er mochte bemerkt haben, daß man in der Naturlehre sich sehr oft ethischer Gleichnisse bedient, um etwas von dem Kreise menschlichen Wissens weit Entferntes näher heranzubringen; und so hat er auch wohl, in einem sittlichen Falle, eine chemische Gleichnisrede zu ihrem geistigen Ursprunge zurückführen mögen, um so mehr, als doch überall nur eine Natur ist, und auch durch das Reich der heitern Vernunft-Freiheit die Spuren trüber leidenschaftlicher Notwendigkeit sich unaufhaltsam hindurchziehen, die nur durch eine höhere Hand, und vielleicht auch nicht in diesem Leben, völlig auszulöschen sind.«

[Goethe, Johann Wolfgang: Notiz. In: Goethe, Johann Wolfgang: Die Wahlverwandtschaften. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 9: Epoche der Wahlverwandtschaften 1807-1814. Hrsg. von Christoph Siegrist u. a. München – Wien 1987, S. 283-529, hier S. 285.]


Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandtschaften:

»Ja wohl! versetzte der Hauptmann: diese Fälle sind allerdings die bedeutendsten und merkwürdigsten, wo man das Anziehen, das Verwandtsein, dieses Verlassen, dieses Vereinigen gleichsam übers Kreuz, wirklich darstellen kann; wo vier, bisher je zwei zu zwei verbundene Wesen in Berührung gebracht, ihre bisherige Vereinigung verlassen und sich aufs neue verbinden. In diesem Fahrenlassen und Ergreifen, in diesem Fliehen und Suchen, glaubt man wirklich eine höhere Bestimmung zu sehen; man traut solchen Wesen eine Art von Wollen und Wählen zu, und hält das Kunstwort Wahlverwandtschaften vollkommen gerechtfertigt.
Beschreiben Sie mir einen solchen Fall, sagte Charlotte.
Man sollte dergleichen, versetzte der Hauptmann, nicht mit Worten abtun. Wie schon gesagt! sobald ich Ihnen die Versuche selbst zeigen kann, wird alles anschaulicher und angenehmer werden.«

[Goethe, Johann Wolfgang: Die Wahlverwandtschaften. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 9: Epoche der Wahlverwandtschaften 1807-1814. Hrsg. von Christoph Siegrist u. a. München – Wien 1987, S. 283-529, hier S. 318f.]


»Eduard – so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter – Eduard hatte in seiner Baumschule die schönste Stunde eines Aprilnachmittags zugebracht, um frisch erhaltene Pfropfreiser auf junge Stämme zu bringen.«

[Goethe: Die Wahlverwandtschaften (Anm. 5), S. 286.]


»An der Türe empfing Charlotte ihren Gemahl und ließ ihn dergestalt niedersitzen, daß er durch Türe und Fenster die verschiedenen Bilder, welche die Landschaft gleichsam im Rahmen zeigten, auf einen Blick übersehen konnte. Er freute sich daran, in Hoffnung daß der Frühling bald alles noch reichlicher beleben würde. Nur eines habe ich zu erinnern, setzte er hinzu: die Hütte scheint mir etwas zu eng. | Für uns beide doch geräumig genug, versetzte Charlotte. | Nun freilich, sagte Eduard, für einen Dritten ist auch wohl noch Platz. | Warum nicht? versetzte Charlotte, und auch für ein Viertes. Für größere Gesellschaft wollen wir schon andere Stellen bereiten.«

[Goethe: Die Wahlverwandtschaften (Anm. 5), S. 287.]


»Eduard: […] denn eigentlich sind die verwickelten Fälle die interessantesten. Erst bei diesen lernt man die Grade der Verwandtschaften, die nähern, stärkern, entferntern, geringern Beziehungen kennen; die Verwandtschaften werden erst interessant, wenn sie Scheidungen bewirken.«

[Goethe: Die Wahlverwandtschaften (Anm. 5), S. 316 f.]


»Charlotte: […] aber ich würde hier niemals eine Wahl, eher eine Naturnotwendigkeit erblicken, und diese kaum: denn es ist am Ende vielleicht gar nur die Sache der Gelegenheit. Gelegenheit macht Verhältnisse wie sie Diebe macht«

[Goethe: Die Wahlverwandtschaften (Anm. 5), S. 317.]


»Sie schrieb mit gewandter Feder gefällig und / verbindlich, aber doch mit einer Art von Hast, die ihr sonst nicht gewöhnlich war; und was ihr nicht leicht begegnete, sie verunstaltete das Papier zuletzt mit einem Tintenfleck, der sie ärgerlich machte und nur größer wurde, indem sie ihn wegwischen wollte.«

[Goethe: Die Wahlverwandtschaften (Anm. 5), S. 300 f.]


»So ruhen die Liebenden neben einander. Friede schwebt über ihrer Stätte, heitere verwandte Engelsbilder schauen vom Gewölbe auf sie herab, und welch ein freundlicher Augenblick wird es sein, wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen.«

[Goethe: Die Wahlverwandtschaften (Anm. 5), S. 529.]


»Charlotte: „[…] und wer spielt nicht gern mit Ähnlichkeiten?“«

[Goethe: Die Wahlverwandtschaften (Anm. 5), S. 318.]


»Und so stand er auf der andern Seite, in jugendlicher Kraft und Anmut, auf sich selbst zurückgewiesen, starr, in sich gekehrt, mit niedergesenkten Armen, gefalteten, mitleidig gerungenen Händen, Haupt und Blick nach der Entseelten hingeneigt. Schon einmal hatte er so vor Belisar gestanden. Unwillkürlich geriet er jetzt in die gleiche Stellung; und wie natürlich war sie auch diesmal!«

[Goethe: Die Wahlverwandtschaften (Anm. 5), S. 526.]


Johann Wolfgang Goethe: West-östlicher Divan:

»Hatem.
LOCKEN! haltet mich gefangen
In dem Kreise des Gesichts!
Euch geliebten braunen Schlangen
Zu erwiedern hab’ ich nichts.
Nur dies Herz es ist von Dauer, Schwillt in jugendlichstem Flor;
Unter Schnee und Nebelschauer
Rast ein Aetna dir hervor.
Du beschämst wie Morgenröthe
Jener Gipfel ernste Wand,
Und noch einmal fühlet Hatem
Frühlingshauch und Sommerbrand.
Schenke her! Noch eine Flasche!
Diesen Becher bring ich Ihr!
Findet sie ein Häufchen Asche,
Sagt sie: Der verbrannte mir.«

[Goethe, Johann Wolfgang: West-östlicher Divan. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 11.1.2: Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Katharina Mommsen und Peter Ludwig. München – Wien 1998, S. 68.]


»DA DU NUN Suleika heißest
Sollt ich auch benamset seyn.
Wenn du deinen Geliebten preisest,
Hatem! das soll der Name seyn.
Nur daß man mich daran erkennet,
Keine Anmaßung soll es seyn,
Wer sich St. Georgenritter nennet
Denkt nicht gleich Sanct Georg zu seyn.
Nicht Hatem Thai, nicht der Alles Gebende
Kann ich in meiner Armuth seyn;
Hatem Zograi nicht, der reichlichst Lebende
Von allen Dichtern, möcht’ ich seyn.
Aber beyde doch im Auge zu haben
Es wird nicht ganz verwerflich seyn:
Zu nehmen, zu geben des Glückes Gaben
Wird immer ein groß Vergnügen seyn.
Sich liebend an einander zu laben
Wird Paradieses Wonne seyn.«

[Goethe, Johann Wolfgang: West-östlicher Divan. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 11.1.2: Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Katharina Mommsen und Peter Ludwig. München – Wien 1998, S. 68.]


»LIED UND GEBILDE
Mag der Grieche seinen Thon
Zu Gestalten drücken,
An der eignen Hände Sohn
Steigern sein Entzücken;
Aber uns ist wonnereich
In den Euphrat greifen,
Und im flüßgen Element
Hin und wieder schweifen.
Löscht ich so der Seele Brand
Lied es wird erschallen;
Schöpft des Dichters reine Hand
Wasser wird sich ballen.«

[Goethe, Johann Wolfgang: West-östlicher Divan. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 11.1.2: Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Katharina Mommsen und Peter Ludwig. München – Wien 1998, S. 18.]


»PHAENOMEN
Wenn zu der Regenwand
Phoebus sich gattet,
Gleich steht ein Bogenrand
Farbig beschattet.
Im Nebel gleichen Kreis
Seh ich gezogen,
Zwar ist der Bogen weiß,
Doch Himmelsbogen.
So sollst du, muntrer Greis,
Dich nicht betrüben,
Sind gleich die Haare weiß,
Doch wirst du lieben.«

[Goethe, Johann Wolfgang: West-östlicher Divan. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 11.1.2: Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Katharina Mommsen und Peter Ludwig. München – Wien 1998, S. 15.]


»GINGO BILOBA
Dieses Baum’s Blatt, der von Osten
Meinem Garten anvertraut,
Giebt geheimen Sinn zu kosten,
Wie’s den Wissenden erbaut.
Ist es Ein lebendig Wesen?
Das sich in sich selbst getrennt,
Sind es zwey? die sich erlesen,
Daß man sie als Eines kennt.
Solche Frage zu erwiedern
Fand ich wohl den rechten Sinn;
Fühlst du nicht an meinen Liedern
Daß ich Eins und doppelt bin?«

[Goethe, Johann Wolfgang: West-östlicher Divan. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 11.1.2: Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Katharina Mommsen und Peter Ludwig. München – Wien 1998, S. 71.]


Johann Wolfgang Goethe: Maximen und Reflexionen:

»Es ist ein großer Unterschied, ob der Dichter zum Allgemeinen das Besondere sucht, oder im Besondern das Allgemeine schaut. Aus jener Art entsteht Allegorie, wo das Besondere nur als Beispiel, als Exempel des Allgemeinen gilt; die letztere aber ist eigentlich die Natur der Poesie; sie spricht ein Besonderes aus, ohne ans Allgemeine zu denken, oder darauf hinzuweisen. Wer nun dieses Besondere lebendig faßt, erhält zugleich das Allgemeine mit, ohne es gewahr zu werden, oder erst spät.«

[Goethe, Johann Wolfgang: Maximen und Reflexionen. In: Goethe, Johann Wolfgang. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 17: Wilhelm Meisters Wanderjahre. Maximen und Reflexionen. Herausgegeben von Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann und Johannes John. München 1991. S. 767.]


»Die Allegorie verwandelt die Erscheinung in einen Begriff, den Begriff in ein Bild, doch so daß der Begriff im Bilde immer noch begrenzt und vollständig zu halten und zu haben und an demselben auszusprechen sei. Die Symbolik verwandelt die Erscheinung in Idee, die Idee in ein Bild, und so, daß die Idee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt, und selbst in allen Sprachen ausgesprochen doch unaussprechlich bliebe.«

[Goethe, Maximen und Reflexionen (Anm. 22), S. 904.]


Johann Wolfgang Goethe: Faust. Erster Teil:

»Zwar bin ich gescheiter als alle die Laffen,
Doktoren, Magister, Schreiber und Pfaffen;
Mich plagen keine Skrupel noch Zweifel,
Fürchte mich weder vor Hölle noch Teufel –
Dafür ist mir auch alle Freud’ entrissen,
Bilde mir nicht ein was rechts zu wissen,
Bilde mir nicht ein ich könnte was lehren
Die Menschen zu bessern und zu bekehren
[…]
Drum hab’ ich mich der Magie ergeben,
Ob mir, durch Geistes Kraft und Mund,
Nicht manch Geheimnis würde kund;
Daß ich nicht mehr, mit sauerm Schweiß,
Zu sagen brauche was ich nicht weiß;
Daß ich erkenne was die Welt
Im Innersten zusammenhält,
[…]«

[Goethe, Johann Wolfgang: Faust-Dichtungen. Band I: Texte. Herausgegeben von Ulrich Gaier. Stuttgart 1999, S. 31 f. (v. 366 ff.).]


Johann Wolfgang Goethe: Faust. Der Tragödie Zweiter Teil:

»Chorus Mysticus:
Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichnis;
Das Unzulängliche
Hier wird’s Ereignis;
Das Unbeschreibliche
Hier ist es getan;
Das Ewig-Weibliche
Zieht uns hinan.«

[Goethe, Johann Wolfgang: Faust-Dichtungen. Band I: Texte. Herausgegeben von Ulrich Gaier. Stuttgart 1999, S. 488 f. ((v. 12104-12111)]