Professor Dr. Claus-Michael Ort
Vorlesung: Literatur der Avantgarden (Wintersemester 2020/21)

Zentrale semiotische Strategien der Avantgarde

Ich bin hier und es gibt nichts zu sagen. Wenn unter Ihnen die sind, die irgendwo hingelangen möchten, sollen sie gehen, jederzeit. Was wir brauchen, ist Stille; aber was die Stille will, ist, dass ich weiterrede. Gib einem Gedanken einen Stoß: er fällt leicht um; aber der Stoßende und der Gestoßene erzeugen die Unterhaltung, die man Diskussion nennt. Wollen wir nachher eine abhalten? Oder wir könnten einfach beschließen, keine Diskussion abzuhalten. Wie Sie wollen. Aber nun gibt es Stille und die Wörter erzeugen sie, helfen mit, diese Stille zu erzeugen. Ich habe nichts zu sagen und ich sage es und das ist Poesie, wie ich sie brauche. Dieses Stück Zeit ist gegliedert. Wir brauchen nicht diese Stille zu fürchten. – Wir könnten sie lieben. Dies ist ein komponierter Vortrag, denn ich mache ihn …

Dieser Start bricht Erwartungen an eine Vorlesung, sei sie mündlich oder schriftlich, und zwar auch dann, wenn sie von Avantgarden handelt und Sie Irritationen des sogenannten bürgerlichen Kunstgeschmacks nicht überraschen werden! Aber eine Vorlesung ist keine Poesie, auch wenn sie von ihr handelt. Erst wenn diese ersten Sätze als Zitat erkennbar werden, als Objektsprache markiert, also gerahmt worden sind, verlieren sie ihr Irritationspotential.

Das Zitat stammt von John Cage (1912-1992), einem der kreativsten und folgenreichsten Komponisten des 20. Jahrhunderts, und zwar aus der ‚Partitur‘ von Lecture on Nothing (1959; in Silence. Lectures and Writings 1961; ins Dt. übersetzt von Ernst Jandl, 1992). Ich werde später auf John Cage zurückkommen.

Zweierlei lässt sich daran zum Einstieg zeigen:

1) Selbstreferentialität erweist sich als eines der Merkmale auch und vor allem (aber natürlich nicht nur!) der Avantgarden ab 1900 – Cages musikanaloger Vortrag thematisiert sich permanent selbst UND:

2) Erwartungen an einen Vortrag mit oder ohne Diskussion werden gebrochen, was auf die Frage der Kontextabhängigkeit von Irritation, Provokation und Überraschung verweist.

In welchem sozialen oder semiotischen Kontext werden welche Erwartungen gebrochen?
Ich kann die Erwartungen an eine Vorlesung oder an eine Trauerrede durch Wahl eines unangemessenen Themas, der falschen Tonlage oder einer falschen Textgattung enttäuschen:
Gattungskonventionen sind Erwartungen, die durchbrochen werden können – denken Sie an die Frage, was ein Gedicht ausmacht, ob ein Text noch als Gedicht zu bezeichnen ist, in welchem Ausmaß ein Kriminalroman mit seinen Genre-Konventionen spielen, sie parodieren darf, um noch als Kriminalroman gelten zu können usf.
Auch solche Fragen nach den Erwartungshorizonten tradierter literarischer und medialer Gattungen werden wir anlässlich unserer Werk-Beispiele sehr oft zu stellen haben.

Und eine weitere Frage schließt sich an:
Inwieweit haftet den Provokationen, Irritationen, Erwartungsbrüchen vor allem der Avantgarden noch der soziale und literarische Kontext an, auf den diese Provokationen angewiesen sind, inwieweit ist dieser Erwartungskontext also an ihnen noch ablesbar? Provokateur (‚Stoßender‘) und zu Provozierender (‚Gestoßener‘) sind notwendig aufeinander angewiesen, Avantgarde benötigt Tradition und vor allem das bürgerliche Kunstsystem um 1900, relativ zu dem sie als ‚Vorhut‘ im wörtlichen militärischen Sinne des Wortes ‚avant garde‘ gelten kann!
Und um es mit Georg Jäger etwas anspruchsvoller zu formulieren – zitiert wird aus seiner bis heute folgenreiche Pionierarbeit zur Avantgarde-Forschung Die Avantgarde als Ausdifferenzierung des bürgerlichen Literatursystems:

„Die Avantgarden […] orientieren ihre Operationen an der System-Umwelt-Differenz, indem sie die Differenz von Identität und Differenz nicht nur im System rekonstruieren, sondern sich reflexiv als Spielmaterial verfügbar machen. Dies hat eine Auflösung des Werk- und Stilbegriffs zur Folge. […].“ (S.233)

„[Das] avantgardistische Kunstsystem [arbeitet] mit der Differenz zur Umwelt als seiner Identität gegenüber der Umwelt. Die Reflexion auf den Unterschied zwischen Realität und Kunst wird zu einem entscheidenden Unterscheidungsmerkmal von Kunst und Realität. […].“ (S.234)

„Auf Seiten des Rezipienten wird das Wechselspiel von Reflexion und Objektivation in einem kognitiven Erwartungsstil verarbeitet. Um die Unsicherheit über das, was konkret zu erwarten ist, kommunikationsfähig zu machen, wird das neue Ereignis auf den Diskurs über Kunst bezogen.“ (S.235).

[Georg Jäger: Die Avantgarde als Ausdifferenzierung des bürgerlichen Literatursystems, in: Michael Titzmann (Hg.), Modelle des literarischen Strukturwandels. Tübingen: Niemeyer 1991, S.221-244].

Nachzutragen ist von meiner Seite lediglich, dass die Unterscheidung von ‚Realität‘ und ‚Kunst‘ selbstverständlich auch schon in der Literatur vor 1900 textintern verhandelt wird. ‚Kunst‘ und ‚Leben‘, ‚Welt‘ und ‚Fiktion‘, ‚Zeichen‘ und ‚Realität‘ stabil und dauerhaft zu unterscheiden und in ein Verhältnis mimetischer Nachträglichkeit zu setzen, erweist sich sogar als Voraussetzung von ‚Realismus‘ und als eines der zentralen Probleme der dargestellten Welten des deutschsprachigen ‚poetischen Realismus‘ zwischen 1850 und 1900 (Adalbert Stifter, Gottfried Keller, Wilhelm Raabe, Conrad Ferdinand Meyer, Theodor Storm, Theodor Fontane u.v.a.). ‚Naturalismus‘, ‚Expressionismus‘ und v.a. die Avantgarden reflektieren diese Unterscheidung in ihren Werken jedoch mit der genau gegenteiligen Zielrichtung: nämlich der paradoxerweise werkinternen Aufhebung der Grenze zwischen ‚Kunst‘ und kunstexterner Wirklichkeit (‚Leben‘).
Wer an einer literaturgeschichtlichen Vertiefung dieser Thematik interessiert ist, sei übrigens verwiesen auf Claus-Michael Ort: Realistische ‚re-entries‘. Thesen zur ‚realistischen‘ Episteme und zu ihrer Transformation um 1900, in: Moritz Baßler (Hg.), Entsagung und Routines. Aporien des Spätrealismus und Verfahren der Frühen Moderne. Berlin/Boston: de Gruyter 2013 S. 280-315.

Ausblick

Die Vorlesung will allerdings kein trockenes Lexikonwissen wiederkäuen oder nur Forschung referieren, sondern vor allem die ästhetischen Erlebnisqualitäten der Avantgarden seit 1900 erfahrbar machen – Ihnen also vor allem anhand konkreter Bild-Film-Ton-Text-Beispiele die literarischen und multimedialen Avantgarden vom Futurismus über Dadaismus und Surrealismus bis zur Wiener Gruppe, zu Fluxus und zur Neo-Avantgarde des späten 20. Jahrhunderts nahebringen – vielleicht auch die Scheu davor nehmen, jedenfalls die Komplexität ihrer Werke erschließen.
Nach einer Klärung des Traditionszusammenhanges der Moderne seit der Romantik werden Positionen des Avantgardismus im 20. Jahrhundert sowie dessen poetologische, philosophische und politische Begleitdiskurse angesprochen. Im kritischen Bezug auf Konzeptionen und Definitionen literarischer und außerliterarischer Entwicklungslinien der Moderne (Hugo Friedrich, Peter Bürger, Georg Jäger u.a.) sind anhand analytischer Durchgänge durch ausgewählte Werke der Avantgarde zentrale semiotische Strategien visueller und lautlicher (sprachlicher und klanglicher) Bedeutungskonstitution und Bedeutungsreduktion vorzuführen. Und wir werden Filme sehen (jedenfalls den Andalusischen Hund von Luis Buñuel) und Tondokumente hören – jedenfalls Schwitters‘ Ursonate und einiges mehr). Und wir werden dabei auch immer wieder die eigenen Kriterien, Begriffe und Verfahrensweisen der Text- und Bildanalyse auf den Prüfstand stellen und vereinzelt auch rekapitulieren.

Zurück zum Einstieg mit John Cage: Eine der häufigsten Varianten und Möglichkeiten, die Erwartungen an literarische Kommunikation zwischen Leser und Text zu brechen, ist die sogenannte Nonsens-Poesie, die es vor und nach der sogenannten Avantgarde gegeben hat, die aber mit ihr eine Reihe von Werken teilt.
Was jeweils ‚Nonsens‘ ist, hängt dabei von den epochen- und gattungsspezifischen Sinnvorgaben und Erwartungskontexten ab, also etwa denjenigen der Literatur des ‚poetischen Realismus‘ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts oder der Literatur um 1900. Wer was als ‚Nonsens‘ rezipiert, bzw. auf welcher Ebene ‚Sinn‘ und Bedeutung auch bei – auf den ersten Blick bedeutungsreduzierten – Werken / Texten entsteht und gefunden werden kann, wird uns die ganze Vorlesung über verfolgen.

Zu fragen ist also: Welche formalen (lautlichen, typographischen), sprachlichen und semantischen Erwartungen bricht ‚Nonsens‘-Poesie in welchen Sinnhorizonten – also in welchen Kontexten von z.B. Epochen- und Gattungserwartungen, vor dem Hintergrund welcher Standards narrativer Kohärenz, welcher Erzähltraditionen und Erzählkonventionen – und in welchen rahmenden Kontexten wird sie wiederum bedeutungstragend, also sinnhaft interpretierbar?

Drei Beispiele zum Einstieg und zur literaturgeschichtlichen Vertiefung der Frage, welche unterschiedlichen Funktionen ‚Nonsens‘-Semantik jeweils erfüllen kann: Es handelt sich um prominente Beispiele aus dem literarischen Autoren- und Werkekanon: Sie können raten bzw. überlegen: Welches Zitat stammt aus dem ältesten Text?

Beginnen wir mit dem ältesten Beispiel aus dem Publikationsjahr 1669: Lassen sich kleine Inseln des Verstehens ausfindig machen?

Das Zitat stammt aus dem bekanntesten deutschsprachigen Picaro- oder ‚Schelmen‘-Roman der Frühen Neuzeit, nämlich aus Johann Jakob Christoffel von Grimmelshausens Abentheurlicher Simplicissimus Teutsch / Continuatio (1668/69).

Im 9. Kapitel der continuatio (2. Buch, Fortsetzung) begegnet Simplicius einer aus einer Statue hervorgehenden, proteushaft wandlungsfähigen Gestalt, die sich ‚Baldanders’ nennt. Ihr Name weist sie als Allegorie des wechselhaften Lebens aus, von der sich Simplicius Aufschluss erhofft – und er lernt schnell. Um ihn z.B. die Kunst zu lehren, mit unbelebten Objekten zu kommunizieren – eine der Voraussetzungen fiktionaler Literatur – schreibt Baldanders ihm in sein 6. Buch- „so ich eben bey mir hatte / und nachdem er sich in einen Schreiber verwandelt“ – das folgende emblematisch strukturierte Sprachbild (Einfärbungen der je ersten und letzten Buchstaben von mir):

Als Inscriptio – Motto – fungiert der vorangestellte Satz: „Ich bin der Anfang und das End / und gelte an allen Orthen.“ Inseln von Wiederholungen oder Sinnanklängen habe ich fett markiert!

Ein erklärender Nachsatz (Subscriptio) fehlt: Eine ‚Erklärung‘ ergibt sich nur, wenn die Inscriptio selbstbezüglich auf den darunter befindlichen Text angewandt, also als Leseanweisung verstanden wird. Wer mehr sucht als die Sprache, wer vorschnell Inhalt sucht, geht fehl – wer sich aber zunächst nur auf die äußere Sprachgestalt und Buchstabenfolge konzentriert, sich mit dem Selbstbezug von Dichtung begnügt, könnte man ergänzen, dem wird darüber hinausgehende inhaltliche Belehrung und ‚Offenbarung‘ zuteil. Wer nämlich jeweils den ersten und letzten Buchstaben isoliert, erhält folgenden, dichtungstheoretisch deutbaren Subscriptio-Satz, der im Text des Simplicius jedoch fehlt:

„Magst dir selbst einbilden, wie es einem jeden ding ergangen, hernach einen discours daraus formirn, und davon glauben, was der wahrheit ähnlich ist, so hastu was dein närrischer vorwitz begehret“, –

Nur poetische Phantasie ermöglicht also, was Magie vermeintlich verspricht. – Simplicius erliegt zunächst einem sprachmagischen Missverständnis und flüchtet in Lektüre eines vermeintlichen Zauberspruches.
Dass er die sprachreflexive Botschaft jedoch verstanden haben muss, offenbart nicht nur sein späterer, wiederum die Vergänglichkeit alles Irdischen verhandelnder Dialog mit dem ‚Schermesser’, also mit Toilettenpapier im 11. Kapitel, sondern v.a. seine eigenständige Nutzanwendung von Baldanders’ Lehre anlässlich des zweiten Rätsels:

Chiffrierung und Dechriffrierung sind umkehrbar: Desemantisierung (Bedeutungsreduktion) geht in explizit enthüllte Dechriffierbarkeit über. Der Bedeutungsverlust der Textpassage ist nicht von Dauer, fungiert nur als Mittel zur ihrer alles andere als magischen Entschlüsselung.

Wenden wir uns dem Beispiel rechts in der Synopse zu: Es handelt sich um das Lied von Sixtus Beckmesser und stammt aus einem musikdramatischen Text (Libretto), nämlich aus der Oper Die Meistersinger von Nürnberg (UA 1868) von Richard Wagner, der auch den Text verfasst hat.

Richard Wagner

Wagners Text entspricht der für die Zeit des Realismus charakteristischen Kunstproduktionstheorie und demonstriert die Genese eines ‚idealen‘ Kunstwerkes der Poesie, das zwischen dürrer Kunstregel (Beckmessers Metier) und formlos affektivem Träumen und Fühlen (der verliebte Ritter von Stolzing) vermittelt – und zwar in einem von Hans Sachs für Stolzing auf Basis seiner Traumerzählung gedichteten Lied, das Stolzing dann als ‚Preislied‘ vorträgt, damit im Sängerwettstreit siegt und die geliebte Frau – Eva Pogner – gewinnt, auf die der bereits zu alte Sachs verzichtet.

Und hier den vollständigen Arien-Text, lautliche Äquivalenzen und morphologische Wiederholungen sind farbig markiert – mit quantitativ abnehmender Tendenz:

Aus Hans Sachsens Traum wird sein Kunst-Lied (Enkodierung) – und aus Kunst wird in einer zweiten Um-Kodierung (nennen wir’s vorläufig weiter so) ‚Nonsens‘ – nämlich dann, wenn Beckmesser, der sich ebenfalls von Sachs helfen lässt und von ihm dasselbe Lied geschenkt bekommt, eben dieses Lied unvollständig oder falsch memoriert und auch nicht ablesen kann (weil es weder von ihm gefühlt – Stolzing! – noch von ihm gedichtet worden ist – Sachs!), womit Sachs von vornherein rechnet!
Beckmessers gesungene Version des Liedes, das ihm als Text korrekt vorliegt, den er aber nur lautlich assoziativ zu reproduzieren vermag, ist dann die zitierte Bleisaft-Wucht-Leberbaum-Poesie. Dass und wie aus perfekt zwischen Form (Kunst) und Inhalt (Affekt) vermittelnder Poesie Nonsens wird, ist also implizit und potentiell ebenfalls als Ausdruck ‚unbewusster‘, verschlüsselnder psychischer ‚Traumarbeit‘ zu deuten. Die Kunst von Sachs, welche Affekte und Triebe sublimiert, wird wieder zum subversiven Nonsens de-sublimiert, und bringt dabei eine andere – dritte – (‚surreale‘) Gefühlssprache hervor, die sich dem Traum-Gefühlsausdruck Stolzings und dem Lied von Sachs, das jenen poetisiert, gleichermaßen entzieht – also einen dunklen Subtext zu beiden produziert.
Dieser Text kann vorerst (innerdiegetisch) samt seinem Sänger nur kritisiert, verspottet und ausgegrenzt werden, erscheint aber als Fanal in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einem selbstreferentiellen Musikdrama, das die formal regelgeleitete Kunst um der Kunst willen (den ‚beckmessernden‘ Beckmesser) ebenso verwirft wie den unsublimierten, ungeordnet direkten Affektausdruck Stolzings – und natürlich auch das (vermeintliche) Nonsens-Derivat beider (der scheiternde Nonsens-Beckmesser). Noch wird die (aber bereits im Sachs’schen Sinn reformierte) „deutsche“ Kunst der Handwerks- und Sangesmeister propagiert, literaturgeschichtlich wird sich der Bleisaft-Beckmesser, dessen Normverstoß gerade ihm unterlaufen muss, der zuvor die starren Kunstregeln hochhält, zukünftig aber nicht mehr eliminieren lassen. Bald singt er gleichsam mit im Konzert des um 1900 literarisch Möglichen, einschließlich dann auch kontext-befreiter Nonsens-Varianten.
Wagners Meistersinger selbst realisieren diesen bürgerlichen Kunstbegriff nur um den Preis der Eliminierung Beckmessers, der Verdrängung des ‚Unsinns‘, der gleichsam als Kopierfehler gerade dem Vertreter der starren, regelgeleiteten Kunst unterläuft, die er damit selbst ad absurdum führt, lässt sich der ‚Unsinn‘ doch kaum mehr leugnen.

Wagners Text verdeutlicht also auch ‚Unsinn‘ als Kehrseite von Stolzings Lied:

Und hier nun eine Synopse von Sachs‘-Stolzings Liedtext und dem Text, den Beckmesser daraus generiert und vorträgt:

Die Verballhornung des latent utopischen, ‚Kunst‘ und ‚Leben‘ versöhnenden Kunstkonzepts setzt Nonsens und – als Dystopie zum Paradies – die Ich-Instanz als Gehenkten, Hinzurichtenden frei – die Versöhnung von ‚Kunst‘ und ‚Leben‘ gelingt Beckmesser jedenfalls nicht. Seine Fehlrezeption des Sachs-Textes erweist sich als Ergebnis seiner Vergesslichkeit, aber zugleich als kreativ. Sie kann im Patrizier-Kontext des ‚Meistergesanges‘ jedoch nur zu Verärgerung, Spott und Stigmatisierung einer ‚komisch-lächerlichen‘ Figur führen, die im Sängerwettstreit ebenso wenig Erfolgschancen hat wie im Werben um die junge Eva Pogner.

Exkurs: Thomas Mann

Ein Seitenblick auf Thomas Manns Kunstkonzeption um 1900 mag den Befund literaturgeschichtlich vertiefen und zugleich einmal mehr den Kontext der Avantgarden um die Jahrhundertwende beleuchten: Die Synthese von toter Schrift-Kunst (Beckmesser als scheiternder Hüter der Regeln) und dem ‚Rausch‘ des Lebens und der Erotik (Stolzings Liebesaffekte) bleibt bei Thomas Mann dem zur »Synthese selbst« hochstilisierten ›Dichter‹ (analog Hans Sachs) vorbehalten, der »eisige Geistigkeit und verzehrende Sinnenglut«, ›tote‹ Kunst und ›Leben‹ (Tonio Kröger, 1903) zu versöhnen vermag. Letzteres verspricht der bürgerliche ›Dichter‹ Tonio Kröger bekanntlich in seinem abschließenden Brief an Lisaweta Iwanowna, den er aus sicherer Distanz aber in Hörweite der rauschenden Stimme der Natur verfasst (»Während ich schreibe, rauscht das Meer zu mir herauf«), nachdem er sich verbal (im Dialog mit Lisaweta) und nonverbal artikuliert hat (»innerer Sang an das Meer«), sowohl festlich-rauschhafte Szenen mit Tanz und Musik beobachtet hat (auch das »Meer tanzte«) als auch den Hotelier und einen Polizisten beim Lesen in seiner unveröffentlichten Novelle, die seine bürgerliche Existenz verbürgt.

Thomas Manns Toni Kröger arbeitet am gleichen utopischen ‚Projekt‘ wie Richard Wagners Hans Sachs, nämlich der Versöhnung von ‚Kunst‘ und ‚Leben‘; Thomas Manns Erzählungen spielen die Probleme, die damit einhergehen, variantenreich durch, wobei weniger die Subversion der Ordnung durch ‚Unsinn‘ oder Bedeutungsverlust thematisiert wird. Hervorgehoben werden stattdessen die affektiven Kosten, die unzüchtig-unmoralische Trieb-Kehrseite solch utopischer ‚Kunst‘. Sie kennen hoffentlich alle Der Tod in Venedig (1912):
Der Erfolgsautor Aschenbach erlebt in Gegenwart Tadzios (»im Angesicht des Idols und die Musik seiner Stimme im Ohr«) den synästhetischen kairos, also den einzigartigen Glücksmoment eines »zeugende[n] Verkehr[s] des Geistes mit einem Körper«, und formt geschriebene Sprache nach Bild und Stimme Tadzios zu einem singulär »schöne[n] Werk«, empfindet dessen Produktionsumstände aber als ebenso unmoralisch wie die geträumten sexuellen Ausschweifungen danach.

Christian Morgenstern

Das dritte Beispiel haben Sie vielleicht schon erkannt: Das große Lalula aus Christian Morgensterns Galgenliedern:

Das Motto der Galgenlieder lautet übrigens: „Im ächten Manne ist ein Kind versteckt: das will spielen.“ (Zitat aus Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, 1885). Es ‚rahmt‘ und deutet auch diesen Text, der mit seinem Sprachmaterial ‚spielt‘. Lautliche Äquivalenzen und morphologische Wiederholungen sind wieder farbig markiert.

Das ästhetische Wiesel

Auch ein Blick auf Morgensterns implizit selbstreferentielles Gedicht vom ästhetischen Wiesel ist vor dem Hintergrund von Beckmessers „Galgenlied“ und Thomas Manns Poetologie durchaus erhellend, da sich dessen textinterne Motivierung und ‚Erklärung‘ eines dargestellten Sachverhaltes (warum sitzt Wiesel auf Kiesel?) sowohl auf eine nicht existente (scherzhafte? märchenhafte? ‚absurde‘?) Instanz, nämlich das ‚Mondkalb‘ beruft, als auch eigentlich auf die Regeln der Poesie selbst („um des Reimes willen“ – also l’art pour l’art, Kunst/Künstlichkeit/Raffiniertheit um des Raffinements, um der Kunst willen).

Der Reim ‚Wiesel/Kiesel‘ – also die pure Regelkonformität – ist (noch) nicht das Problem. Wenn die Regeln aber reflexiv werden, also im Text selbst thematisiert und letztlich hinterfragt werden – Beobachtung 2. Ordnung (für diejenigen unter Ihnen, die mit der ‚Systemtheorie‘ des Soziologen Niklas Luhmann ein wenig vertraut sind) – , dann treten Erwartungsbrüche, die potentiell komischen Effekte des ‚Absurden‘ auf – oder besser: dann entsteht eine kurzschlüssige (insgeheim paradoxe) Selbstreferenz, die sich mit absurder Fremdreferenz (‚Mondkalb‘) auf eine Realität außerhalb des Gedichts bezieht, die ‚verrät‘, warum sich ein Wiesel so verhält, wie es sich im Gedicht verhält, also so, als existiere es nur in diesem Gedicht, was wiederum zutrifft. Dieses Wiesel hier, das „ästhetische Wiesel“, tut es nur aus besagten, reim-bezogenen Gründen!

Eine stärkere Verunklarung der ‚diegetischen’, also der textinternen Realitäts- und Sprech-Ebenen als etwa in Morgensterns ästhetischem Wiesel (1905) lässt sich kaum in einem Gedicht verwirklichen. Der immer wieder von neuem syntagmatisch zu durchlaufende Zirkel entfaltet eine Paradoxie zwischen ‚Text-Innen’ (sich reimende Signifikanten) und ‚Text-Außen’ (die bezeichnete ‚Realität’ des ‚Kiesels’) und verfehlt damit ein erzählbares Sujet ebenso wie ihr tautologisch leeres Gegenstück. Streng genommen unterbricht die Sprechsituation des Gedichts nämlich dessen ‚ungetrübte’ Selbstreferenz durch den Rekurs auf das „Mondkalb“ als externem Informationsgaranten – das Wort diente übrigens in der Frühen Neuzeit (ab dem 15. Jahrhundert) als Bezeichnung für missgebildete Kälber.

Solche Kippfiguren von Fremd- und Selbstreferenz werden nicht erst in den Avantgarden des 20. Jahrhundert, dort aber mit Vorliebe, literarisch zelebriert und variiert. Und gerade die selteneren Extremfälle einer autologisch kurzschlüssigen, tautologisch weitgehend desemantisierten – leeren, ‚reinen‘ – Selbstreferentialität von Gattungen (Gerhard Rühms Sonett, siehe unten!) oder verbalsprachlicher Bezeichnung sind zu vielzitierten, oft aber auch mutwillig aus dem rahmenden Kontext gerissenen Ikonen der Moderne erhoben worden – so natürlich der Satz “rose is a rose is a rose is a rose” aus dem Gedicht Sacred Emily in dem 1922 veröffentlichten Buch Geography and Plays der US-amerikanischen Autorin von Gertrude Stein (1874-1946).
Auf den Allround-Künstler Gerhard Rühm (geboren 1930), einem der letzten lebenden Protagonisten der neoavantgardistischen ‚Wiener Gruppe‘, wird noch mehrfach zurückzukommen sein: Sein Sonett aus dem Jahr 1955 illustriert an dieser Stelle vorerst nur eine Variante weitgehend bedeutungsreduzierter Selbstbezüglichkeit, die jedoch – auch diese Unterscheidung ist wichtig – keine primären Verständnisprobleme aufwirft, also weder Neologismen aufweist noch mit ihrem graphemischen, phonologischen, morphologischen und lexikalischen ‚Material‘ spielt.

Morgenstern wie Wagner wären vor dem Hintergrund einer nicht unterbrochenen, vollständig ‚reinen‘ oder leeren Selbstreferenz also als Übergangsphänomene anzusehen, folgen die Meistersinger und das Wiesel doch in abstracto noch dem gleichen Prinzip: Regelreflexion (Sachs‘ Reform, seine moderaten Regelbrüche bei Wagner; die selbstreflexive Erfüllung des Reimprinzips bei Morgenstern) diskreditiert die unreflektierte, selbstverständliche Einhaltung der Kunstregeln und treibt zugleich Potentiale der Desemantisierung und der paradoxen Selbstreferenz hervor: Beckmesser als kritisierend ‚beckmessernder‘ Kunstnorm-Hüter, der auf Regeleinhaltung in der Kunst pocht, ist am Ende ebenso gescheitert wie sein ‚Lied‘ als unfreiwillige Nonsenspoesie.
Tradierte, lebensferne Kunstnormen (Beckmesser) und die gefühlvoll expressive Regellosigkeit Stolzings münden in den vermeintlich perfekten Kompromiss des Kunstliedes von Hans Sachs und bringen gleichsam als Abfallprodukt einen ‚Nonsens‘-Beckmesser hervor: ‚Nonsens‘ also als Kollateraleffekt literarischer Modernisierung, als Preis des Wandels, der von der traditionell starren Beckmesser-Kunst zur Hans Sachs‘schen Gefühlskunst führt?

Erst der Surrealismus wird schließlich diese Potentiale wieder re-normalisieren, soll heißen: auf einen kohärenzstiftenden Deutungsdiskurs (u.a. Sigmund Freuds Tiefenpsychologie) beziehen.
Wenn, so könnte man weiter folgern, das Funktionieren der Kunst hinterfragt, wenn es reflektiert wird, ihre Routinen angehalten werden, was bei Morgenstern und in den Meistersingern zum Thema geworden ist, entsteht eine andere (‚vollkommenere‘: Sachs) oder jedenfalls selbstreflexiv kohärente Kunst (Morgensterns Wiesel-Gedicht). Beide Varianten werden aber die damit zugleich freigesetzten Nonsens-Potentiale nicht mehr los – ob sie wollen (Meistersinger: Flucht zurück?) oder nicht (Morgensterns Flucht nach vorn).

Halten wir vorerst drei verschiedene Arten der Kommunikationsunterbrechung fest, die mit unterschiedlich starken Erwartungsprovokationen einhergehen:
Grimmelshausens ‚Baldanders‘ rekurriert parodistisch auf die seit dem Mittelalter sprachmagisch und mystisch (z.T. kabbalistisch) kodierten, enigmatischen ‚Gattungen‘, also Rätsel, graphemische (Grenze zum Ikonischen) und lautliche Sprachspiele (Grenze zur Musik) und dechiffriert sie zum einen zu einer poetologische Aussage („Magst dir selbst einbilden, wie es einem jeden ding ergangen, hernach einen discours daraus formirn, und davon glauben, was der wahrheit ähnlich ist, so hastu was dein närrischer vorwitz begehret“), zum anderen in eine scherzhafte Aussage, die den Wunderglauben ad absurdum führt.
Im Wagner-Beispiel sind ebenfalls semantische Neologismen zu beobachten (u.a. „Bleisaft“ und „Leberbaum“ anstelle von Sachs‘ ‚Lorbeerbaum‘ auf dem ‚Parnaß‘: es gibt übrigens einen afrikanischen ‚Leberwurstbaum‘, aber keinen Leberbaum!), die aber morphologisch als Komposita korrekt gebildet und nicht auf der Ebene von Graphemen, Phonemen und morphologischen Neubildungen angesiedelt sind. Sie verdanken sich einem Lese-, Memorier-, Verstehens- und Kopier-Fehler Beckmessers, der die von ihm eigentlich favorisierte traditionelle regelkonforme Kunst ohne subjektiven Lebens- und Traumbezug ebenso wenig zu reproduzieren vermag wie das Lied von Sachs, das beides zu verbinden versucht. Dessen subversiv ‚unsinnige‘ und jedenfalls weitgehend sinnbefreite, nur vordergründig zu verlachende Kehrseite bringt genau dieser Fehler des Traditionshüters zur Erscheinung.
Kehrseite der ‚Utopie‘ einer Vereinigung, Annäherung von Kunst und Leben ist somit der ‚Unsinn‘, der Nonsens – die Kehrseite von Thomas Mann ist die Avantgarde, wenn Sie so wollen!
‚Nonsens‘ und Verstehensbarrieren als Kommunikationsunterbrechung können zwar innerhalb der Meistersinger-Handlung noch eliminiert – Beckmesser wird verjagt und mit ihm die Korrelation von Regelkunst und Nonsens, und die Ich-Instanz in Beckmessers Lied wird hingerichtet! – nicht aber literaturgeschichtlich auf Dauer verdrängt werden.

Und Morgensterns spielerisch komische Variante kombiniert Sprach- und Zeichenmaterial immerhin noch metrisch und syntaktisch kohärent – syntagmatisch ‚sinnvoll‘ – zu Neologismen mit partiellen Bedeutungsinseln („silzuzankunkrei“: ‚Zank‘). Im Falle des ‚Wiesels‘ werden überdies die Prinzipien traditioneller Gedichtkunst auf zirkuläre und insofern paradoxe Weise realisiert – das Werk ist selbstreferentiell geschlossen, Außenbezüge sind nur auf absurde, kontrafaktische Weise möglich (‚Mondkalb‘) und die intern simulierte Kommunikation der Sprechinstanz mit dem monströsen ‚Mondkalb‘ ist eigentlich überflüssig, da es nur ‚verrät‘, was sowieso evident ist – nämlich dass sich ein traditionelles, „raffinier-tes“ Kunst-Gedicht reimt.
Morgenstern ist kein Dadaist, aber er offenbart das spielerisch subversive Potential der tradierten Hochkunst und ihrer Prinzipien.