Vorlesung: Philosophie und Poesie der Postmoderne (WS 2014/15)
Professor Dr. Albert Meier

Nach der Postmoderne: Post-Postmoderne?

Die Literatur der Postmoderne zeichnet sich durch ein ›freies Spiel‹ der Zeichen, arbeitet also konsequent mit Ironie und vermeidet daher eindeutige Sinnzuweisungen. Umberto Ecos Erfolgsroman Il nome della rosa (1980) stellt die ideale Verkörperung dieses Konzepts dar und lässt die zentralen Schreibweisen der Postmoderne an sich ablesen: Eklektizistisches Zitieren, mehrfache Codierung, Popularität und ›Lust am Text/Lesen‹.

Neue ›Ernsthaftigkeit‹

In der Gegenwartsliteratur sind seit den 1990er Jahren jedoch Tendenzen zu beobachten, die das Stichwort ›Postmoderne‹ nicht mehr sachgerecht erfasst (vgl. u. a. die ironie-kritischen Äußerungen von David Foster Wallace: E Unibus Pluram, 1993; Jedediah Purdy: For Common Things, 1999). Statt Ironie steht nun die ›Ernsthaftigkeit‹ des Textes im Vordergrund, indem ein konkreter Wirklichkeitsbezug hergestellt wird (›Relevanz‹). Auch der empirische Autor bzw. Realien aus seinem Leben werden stärker ins Zentrum des Textes gerückt, ohne dabei allerdings eine authentisch-biographische Zielrichtung zu verfolgen.

Realismus-Forderungen

In der deutschen Debatte konzentriert sich die Kritik an der Postmoderne vor allem auf die Forderung nach einem wieder ›realistischen‹ Schreiben. Alban Nikolai Herbst (Kybernetischer Realismus, 2008) und Matthias Politycki (Relevanter Realismus, 2005) plädieren für eine zwar nicht mimetische, aber doch realistische Literatur, die gerade über ihre evidente Konstruiertheit deutlich auf die Lebenswelt verweist (Politycki: ›inszenierter Realismus‹).

Die in der Postmoderne verwischte Grenze zwischen E- und U-Literatur (elitär/anspruchsvoll: ernst vs. populär/trivial: unterhaltend) erlangt bei Alban Nikolai Herbst wieder Gültigkeit: Literatur soll anspruchsvoll und ›ernsthaft‹ sein, um die Leser aus ihrer Alltagswelt herausholen zu können.

Für diese Art neuen Schreibens (gebräuchlich sind die Bezeichnungen ›Post-Postmoderne‹, ›Transmoderne‹ und ›Metamoderne‹) kann Michel Houellebecqs Les particules élémentaires (1999), das ähnlich wie Ecos Roman breit rezipiert worden ist, als eventuelles Initialereignis benannt werden; Vorläufer sind Bret Easton Ellis’ Less than zero (1985) und John F. D. Salingers The Catcher in the Rye (1951).

Alban Nikolai Herbst: Isabella Maria Vergana. Novelle (2005)

Isabella Maria Vergana ist formal als Novelle gestaltet. Damit wird auf eine charakteristische und anspruchsvolle Erzählform zurückgegriffen, die ihren Höhepunkt im 19. Jahrhundert gehabt hat. Die in der Novellentradition obligatorische ›Rahmung‹ des Erzählten wird durch eine Erinnerungssituation gewährleistet; die Auseinandersetzung mit der novellentypischen Symbolik ist im Granatapfel erkennbar, den der Protagonist verzehrt (seit der Antike ein Sinnbild für die Verbindung von Erotik und Tod – vgl. den Mythos der geraubten Persephone/Proserpina) und wird im Text in Verbindung mit dem Motiv der Vergewaltigung und Ermordung von Isabella Maria Vergana durch den Ich-Erzähler gebracht, der den Namen seines Autors trägt und explizite biografische Übereinstimmungen mit ihm aufweist. Montageartige Erzählweise und Verschränkung des empirischen Autors mit dem Ich- Erzähler lassen den Text als post-postmodern charakterisieren.

David Foster Wallace: E Unibus Pluram (1993)

»So then how have irony, irreverence, and rebellion come to be not liberating but enfeebling in the culture today’s avant-garde tries to write about? One clue’s to be found in the fact that irony is still around, bigger than ever after thirty long years as the dominant mode of hip expression. It’s not a mode that wears especially well.

Anyone with the heretical gall to ask an ironist what he actually stands for ends up looking like a hysteric or a prig. And herein lies the oppressiveness of institutionalized irony, the too-successful rebel: the ability to interdict the question without attending to its content is tyranny.

The next real literary ›rebels‹ in this country might well emerge as some weird bunch of ›antirebels,‹ born oglers who dare to back away from ironic watching, who have the childish gall actually to endorse single-entendre values. Who treat old untrendy human troubles and emotions in U.S. life with reverence and conviction.«

[Wallace, David Foster: E unibus pluram: Television and U.S. Fiction. In: The Review of Contemporary Fiction. 1993, S. 151-194
(http:// jsomers.net/DFW_TV.pdf (letzter Zugriff: 03.02.2015)).]


Harald Schmidt: »Nach der Ironie das Pathos« (Der Spiegel, 8. Mai 2000)

»Schon wieder gebe ich ein Millionen-Dollar-Berufsgeheimnis unentgeltlich an den SPIEGEL weiter: Nach der Ironie kommt das Pathos. Und: Diese Zeit ist schon angebrochen. Ich bin pathosfähig.«

[Harald Schmidt im Spiegel-Gespräch: »Nach der Ironie das Pathos«. In: Der Spiegel Nr. 19 vom 8. Mai 2000 (http://magazin.spiegel. de/EpubDelivery/spiegel/pdf/16358474 (letzter Zugriff: 03.02.2015)).]


Christoph Dallach: Gitarren gegen die Ironie (Der Spiegel, 5. März 2001)

»Harte Rockmusik, oft totgesagt, ist zurück in den Hitlisten: US-Bands wie Limp Bizkit mixen dröhnenden Rock’n’Roll erfolgreich mit Rap und Techno zum ›Nu Metal‹.«

[Dallach, Christoph: Gitarren gegen Ironie. In: Der Spiegel Nr. 20 vom 5. März 2001 (http://magazin.spiegel.de/Epub Delivery/spiegel/pdf/18649949 (letzter Zugriff: 03.02.2015)).]


Vgl. Stefan Ertz: Schilda und die Schildbürger

»Thaten der obgemelten Schildbürger in Mesopotamia hinter Utopia gelegen«.

[Vgl. Ertz, Stefan: Schilda und die Schildbürger. In: Euphorion 59 (1965), S. 386-400, hier S. 392.]


Friedrich Schlegel: Gespräch über die Poesie (1800)

»Mit der Ironie ist durchaus nicht zu scherzen.«

[Schlegel, Friedrich: Gespräch über die Poesie. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Herausgegeben von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Zweiter Band. Erste Abteilung: Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801). Herausgegeben und eingeleitet von Hans Eichner. München – Paderborn –Wien – Zürich 1967, S. 284-351, hier S. 370.]


Friedrich Schlegel: Über die Unverständlichkeit (1800)

»Endlich die Ironie der Ironie. Im allgemeinen ist das wohl die gründlichste Ironie der Ironie, daß man sie doch eben auch überdrüssig wird, wenn sie uns überall und immer wieder geboten wird.«

[Schlegel, Friedrich: Über die Unverständlichkeit. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Herausgegeben von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Zweiter Band. Erste Abteilung: Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801). Herausgegeben und eingeleitet von Hans Eichner. München – Paderborn –Wien – Zürich 1967, S. 363-372, hier S. 369.]


Schlegel, Friedrich: Fragmente zur Poesie und Literatur

»Die vollendete absolute Ironie hört auf Ironie zu seyn und wird ernsthaft. -«

[Schlegel, Friedrich: Fragmente zur Poesie und Literatur. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Herausgegeben von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Sechzehnter Band. Erster Teil. Mit Einleitung und Kommentar herausgegeben von Hans Eichner. München – Paderborn –Wien – Zürich 1981. S. 144.]


Matthias Politycki: Relevanter Realismus (2005)

»Die Forderung nach mehr Relevanz leiten wir nicht nur aus unserem Alter ab, sondern auch aus dem Zustand einer ›unheimlich‹ gewordenen Welt. Ihre Bewohnbarkeit beizubehalten und weiter zu erschließen, ist die Aufgabe des Romans. Dies setzt voraus, daß der Schreibende eine erkennbare Position bezieht, die moralische Valeurs mit ästhetischen Mitteln beglaubigt.«

[Politycki, Matthias: Relevanter Realismus. In: Politycki, Matthias: Vom Verschwinden der Dinge in der Zukunft. Bestimmte Artikel. Hamburg 2007, S. 102-106, hier S. 104.]


»Ein aus dem Druck zeitgenössischer Erfahrung resultierendes Erzählen könnte versuchsweise als ›Relevanter Realismus‹ bezeichnet werden. Ebenso weit entfernt von Pseudoavantgarde wie von Zeitgeisterei, arrangiert der Relevante Realist seinen Stoff so kunstvoll zur Fiktion, daß sie beim oberflächlichen Lesen mit einem Abbild der Wirklichkeit verwechselt werden könnte: inszenierter Realismus. Darunter freilich wirkt das, was wir als Standpunkt von jedem wesentlichen Buch fordern, wirkt die ästhetisch-moralische Verantwortung eines Schriftstellers, der alles Stoffliche arrangiert, um damit ein ästhetisches Ziel zu erreichen.«

[Politycki: Relevanter Realismus (Anm. 8), S. 105.]


Friedrich Nietzsche: Nachgelassenes Fragment (1886/87)

»Gegen den Positivismus, welcher bei dem Phänomen stehen bleibt, es giebt nur ›Thatsachen‹, würde ich sagen: nein, gerade Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen. Wir können kein Factum ›an sich‹ feststellen: vielleicht ist es ein Unsinn, so etwas zu wollen. ›Es ist alles subjektiv‹ sagt ihr: aber schon das ist Auslegung, das ›Subjekt‹ ist nichts Gegebenes, sondern etwas Hinzu-Erdichtetes, Dahinter-Gestecktes.«

[Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino
Montinari. Band 12. München 1980, S. 315.]


Maurizio Ferraris: Manifesto del nuovo realism (2012)

»Per me il richiamo al realismo non ha dunque significato vantare un risibile monopolio filosofico del reale, non troppo diverso dalla pretesa di privatizzare l’acqua. È stato piuttosto sostenere che l’acqua non è socialmente costruita; che la sacrosanta vocazione decostruttiva che sta al cuore di ogni filosofia degna di questo nome deve misurarsi con la realtà, altrimenti è un gioco futile; e che ogni decostruzione senza ricostruzione è irresponsabilità«

[Ferraris, Maurizio: Manifesto del nuovo realismo. Roma – Bari 2012, S. XI.]


»Für mich hat der Rückbezug auf den Realismus also nicht die Bedeutung, ein lächerliches philosophisches Monopol auf das Reale zu beanspruchen, was kaum anders wäre als die Forderung, Wasser zu privatisieren. Es geht eher darum, darauf zu bestehen, dass das Wasser nicht sozial konstruiert ist; dass die unantastbare dekonstruktivistische Berufung, die im Zentrum aller Philosophie steht, die dieses Namens würdig ist, sich an der Wirklichkeit messen muss, sonst ist sie ein nichtiges Spiel; und dass jede Dekonstruktion ohne Rekonstruktion verantwortungslos ist.«

[Ferraris, Maurizio: Manifest des Neuen Realismus. Aus dem Italienischen von Malte Osterloh. Frankfurt am Main 2014 (Recht als
Kultur 6), S. 14.]


Markus Gabriel: Warum es die Welt nicht gibt (2013)

»Der Neue Realismus ist also zunächst einmal nichts weiter als der Name für das Zeitalter nach der Postmoderne.«

[Gabriel, Markus: Warum es die Welt nicht gibt. Berlin 2013, S. 10.]


»Die Postmoderne wollte uns weismachen, die Menschheit leide seit der Prähistorie unter einer gigantischen kollektiven Halluzination, der Metaphysik.«

[Gabriel: Warum es die Welt nicht gibt (Anm. 13), S. 10.]


»Die Postmoderne ist allerdings nur eine weitere Variante der Metaphysik. Genau genommen handelte es sich bei ihr um eine sehr allgemeine Form des Konstruktivismus.«

[Gabriel: Warum es die Welt nicht gibt (Anm. 13), S. 11.]


»Der Neue Realismus geht vielmehr davon aus, dass wir die Welt so erkennen, wie sie ist.«

[Gabriel: Warum es die Welt nicht gibt (Anm. 13), S. 13.]


Alban Nikolai Herbst: Kybernetischer Realismus (2008)

»Meine Frage ist: Wie muß eine zeitgenössische Dichtung aussehen, wenn sie ihrer Zeit entsprechen und ihr dabei nicht nur ein Spiegel sein, sondern sie auch maßgeblich mitformen will?«

[Herbst: Kybernetischer Realismus (Anm. 17), S. 81.]


»Was ich einen Kybernetischen Realismus nenne, löst die postmodernen Ästhetiken ab, indem er ihre poetischen Ergebnisse bündelt und mit (über)lebensfähigen Theoremen der Moderne vereinigt […].«

[Herbst, Alban Nikolai: Kybernetischer Realismus. Heidelberger Vorlesungen. Heidelberg 2008, S. 44.]


»Ich spreche pathetisch, spreche von Dichtung, nicht von Schriftstellerei. Es ist wichtig, auf diesem Unterschied wiederzubeharren wie insgesamt darauf, dass es einen Unterschied zwischen den sogenannten E- und U-Künsten gibt, einen Unterschied der Tiefe, der Bedeutung, auch der Härte und des Risikos. Mit dieser Meinung stehe ich diametral gegen den allgemeinen Trend. Selbstverständlich sind auch aus der Pop-Kultur Kunstwerke hervorgegangen; die aber würde ich unterdessen den E-Künsten zurechnen. Kunst ist immer E. U-Künste lassen sich nur im Plural nennen. Subsumieren wir die großen U-Kunstwerke weiter unter U, geht ihre widerständige, progressive Kraft unter der Macht der Vermarktbarkeit und des Labelings in die Knie.«

[Herbst: Kybernetischer Realismus (Anm. 17), S. 81.]


»Wenn man nicht, wie es aber den Anschein hat, die Kategorie des Widerstands als eines grundwirkenden Elements aller Kunst anheimgeben will, bleibt den Künsten deshalb gar nichts anderes übrig, als sich auf das deutliche Risiko ihres Untergangs hin gegen leichte Konsumierbarkeit zu stemmen.«

[Herbst: Kybernetischer Realismus (Anm. 17), S. 5f.]


»Der wirkungsästhetische Moment meiner Positionen richtet sich gegen Funktionalität, nicht gegen ästhetische Wirkung.«

[Herbst: Kybernetischer Realismus (Anm. 17), S. 8.]


»In diesem Sinn wird sich eine Kunst, die sowohl nach-postmodern ist wie dem Prinzip des Widerstands verpflichtet, prinzipiell gegen die ökonomisch orientierten Rahmen richten, das heißt, sie wird Genres mischen. Es ist zum Beispiel ein eminent politischer Akt, Allerpersönlichstes, sagen wir Sexualität, in allgemeine Themen zu implantieren und sich nicht nach der üblichen Kategorisierung zu richten. Zugleich nimmt das einige Momente der frühen Moderne wieder auf, etwa das Collage-Verfahren; dies auch schon deshalb, weil die Vollendung des Marktanspruchs derart rigide auf Urheberschaften beharrt. Kunst, die an einer nach-postmodernen Ästhetik ausgerichtet ist, wird vermischen.«

[Herbst: Kybernetischer Realismus (Anm. 16), S. 33.]


»Nun bin ich mit dem Ergebnis konfrontiert, daß gerade diese Erzählung einige Leser zwar fasziniert, die meisten aber abstößt, zumindest verstört, obwohl ihnen allen sehr bewußt ist, bis zu welchem Maß hier die technischen Mittel beherrscht sind. Die Handlung dieser Erzählung ist dabei von mir nicht geplant, geschweige gewollt gewesen, doch ließ es sich ihren Konsequenzen nicht ausweichen, ich hätte denn aus Gründen politischer Correctness etwas verfälschend weggebogen, das sich ganz narrativ-logisch ergab. Im Fall der Vergana ist es eben gerade die Beherrschung der technischen Mittel gewesen, die die Erzählung nicht nur überhaupt erst möglich gemacht, sondern das, was da aus mir aufstieg, hatte aus mir aufsteigen lassen und es schließlich erzwang.«

[Herbst: Kybernetischer Realismus (Anm. 16), S. 16.]


Alban Nikolai Herbst: Isabella Maria Vergana (2005)

»In Linz ist mir Dionysos begegnet.«

[Herbst, Alban Nikolai: Isabella Maria Vergana. Novelle. In: Herbst, Alban Nikolai: Die Niedertracht der Musik. Dreizehn Erzählungen. Köln 2005, S. 163-189, hier S. 163.]


»Der Mann bot auf dem Pfarrplatz Granatäpfel an, drei riesige Berge, die sich mit sonstigem Obst, mit Birnen, Äpfeln und, in der Farbe eines sehr hellen Blutes, mit frühen Kirschen hatten schmücken lassen. Einer der Granatäpfel war aufgeplatzt, und sein inneres, sehr viel tieferes Rot rief nach mir. Ich blieb stehen, wandte mich dem Stand zu und sah mir die frische, lockende Fruchtwunde an. Es konnte noch gar keine Granatäpfel geben, selbst im Orient werden die ersten nicht vor September angeboten.«

[Herbst: Isabella Maria Vergana (Anm. 24), S. 163.]


»Langsam schritt ich weiter, sah mich zweidreimal um, alles sehr ungewöhnlich langsam für mich. Gab mir einen Ruck. Schritt beeilt voran. Wollte mir die Füße vertreten, vielleicht zur ARS ELECTRONICA über die Donaubrücke hinüber, die nach den Nibelungen heißt. […] Ich ging auch hinüber, aber wie einer träumt. Blieb vor dem Gebäude stehen, gar nicht lange, kehrte um. Wegen des Granatapfels verzichtete ich darauf, mir zu Mittag eine Kleinigkeit auf die Hand zu nehmen.«

[Herbst: Isabella Maria Vergana (Anm. 24), S. 164f.]


»Noch kleben meine Hände. Und auf den Lippen liegt der Geschmack. Nicht einmal ein schwarzer Kaffee hat das Metall hinwegbekommen können. Es ist früher Vormittag. Ich bange, daß man den Zug anhalten, daß man mich herausholen wird. In Passau werde ich umsteigen müssen. Mit Anselm Wagner, der noch in Linz bleiben mußte, indes ich bloß die Zeit zur Abfahrt meines Nachtzugs überbrücken wollte, habe ich die Tanzshow Maria Verganas besucht. Heute weiß ich, daß mich der Granatapfel dazu bewog, den ich diesen ganzen Mittag über mit mir herumgetragen und erst auf dem Symposium bei Ruthners Vortrag aufgegessen habe.«

[Herbst: Isabella Maria Vergana (Anm. 24), S. 165.]


»Ich brach die Frucht, brach sie wieder. Und lutschte und biß kerniges Fruchtfleisch aus der Schale. Die Oberlippe bis unter die Nase, mein Kinn, die vorderen Wangen werden ausgesehen haben wie blutverschmiert.«

[Herbst: Isabella Maria Vergana (Anm. 24), S. 165.]


»Wie lange bin ich nachher durch die Stadt geirrt, dabei war ich völlig klar. Der Zug war seit über vier Stunden verpaßt. Keine Ahnung, wann der nächste fuhr. […] Ich lief und lief. Die Straßen waren unbelebt. Man sah von oben herunter, sah zu, wie ich ein Stück verhallen ließ, das mir der Obstverkäufer untergeschoben hatte. Es war nichts weiter nötig gewesen, als mir zwei Finger auf die Schulter zu legen und mich einen halben Granatapfel essen zu lassen.
Ich habe Maria Vergana erwürgt. Sie schlug mich. Sie zerkratzte mein Gesicht, meinen Hals, meinen Oberkörper. Nicht nur mit den Fingern. Sie nahm, wie eine Katze fuchtelnd, selbst die Zehennägel hinzu. Und sie biß, als wir nachts über den Rasen rollten, zur Donau hinab, an den am Hang zwischen Lentos-Museum und Brucknerhaus aufgerichteten Skulpturen vorbei. Keiner von uns beiden schrie. Wir sprachen auch nicht.
Als sie bewegungslos unter mir lag, eine Brust und den nassen Unterleib frei, Rock und Bluse in Fetzen, den zerrissenen BH halb überm dunklen, verschorften Gesicht, lief ich davon.«

[Herbst: Isabella Maria Vergana (Anm. 24), S. 168f.]


»Denn fast unmittelbar begriff ich, der Vergana schon einmal begegnet zu sein. Offenbar, als sie Kind war. Aber ich, dachte ich, in einem anderen, als ein anderer. Bis heute habe ich keinen Fuß auf den südamerikanischen Kontinent gesetzt, doch, mit Do einmal, im Urlaub auf St. Lucia und kurz auch auf Dominica. Doch die Szene mit dem Mädchen hatte ich da nicht erlebt. Dennoch gehörte sie so eng zu mir wie irgend eines meiner Organe. Die Halluzination war tatsächlich Erinnerung, zwar die eines Fremden, doch war der zugleich ich selbst. Er mochte dem Kind werweißwas versprochen haben.«

[Herbst: Isabella Maria Vergana (Anm. 24), S. 173.]


»Dieses erlebte ich in der Nacht auf den 23. Mai des jetzigen Jahres 2004 und skizzierte die Ereignisse während meiner Rückfahrt. Seither sind mehr als drei Monate verstrichen, und es war von alledem nirgendwo etwas zu hören. Es gab keine Nachrichten in der Presse, keine Suchmeldung im Fernsehen.«

[Herbst: Isabella Maria Vergana (Anm. 24), S. 189.]


»Bis auf ein paar kleine Narben links an der Brust, die Verganas Zähne erkennen lassen, sind meine Striemen jetzt verheilt. Die Spuren fallen allerdings unter der Behaarung nicht auf. Deshalb habe ich mich mittlerweile beruhigt. Dem ist sogar ein leiser Triumph beigemischt, der etwas Auserwähltes hat. Denn meine Schulter haben die zwei Finger berührt. Ich bin es gewesen, der in den Granatapfel schaute. Ich nahm ihn entgegen. Ich aß von ihm. Und ich b e s c h l o ß das Stück.«

[Herbst: Isabella Maria Vergana (Anm. 24), S. 189.]


»Bitte begehen Sie jetzt keinen Irrtum. So wirklich meine Erinnerungen an damals sind und so wenig ich sie als meine eigenen leugnen kann, so sicher ist, ich kann mich nur wiederholen, daß ich, Alban Nikolai Herbst, niemals in Venezuela gewesen bin. Ich trug damals einen anderen, einen bis heute verschütteten Namen. Wahrscheinlich hat auch die Vergana nicht Vergana geheißen. Sie stellte ihren Namen wie ich den meinen einem Geschehen zur Verfügung, das durch uns beendet werden wollte und Jahrzehnte zurückliegen mag. […] Woran ich mich erinnere, ist also die Geschichte eines anderen, eines, den ich niemals kennenlernte, der ich vorletzte Nacht aber wurde. Doch ist das nicht letztlich der Charakter einer jeden Erinnerung?«

[Herbst: Isabella Maria Vergana (Anm. 24), S. 181.]