Systemtheorie

Prof. Dr. Albert Meier

Auch die Systemtheorie ist keine ›Methode‹ im strengen Sinn, sondern ein wissenschaftliches Beschreibungskonzept, von dem sich philologisch profitieren lässt (v.a. aufgrund der leistungsfähigen Terminologie). Als literaturwissenschaftlich relevantester Vertreter der Systemtheorie kann Niklas Luhmann gelten. Seine einschlägig wichtigsten Hauptwerke sind Die Kunst der Gesellschaft (1995) und Die Gesellschaft der Gesellschaft (1997).

Die zugrundeliegende Leitidee ist: ›draw a distinction!‹. Soziale Systeme definieren sich demnach immer in Unterscheidung von ihrer jeweiligen Umwelt. Kunst/Literatur als System produziert sich demnach immer selbst durch Kunst/Literatur, nicht durch Moral oder Wahrheit.

Jedes System kann dabei anhand von Leitdifferenzen beschrieben werden, die ausdifferenzierte Systeme gegen andere abgrenzen und nicht auf andere Systeme übertragbar sind: z. B. ›gut‹/›böse‹ für Moral, ›schön‹/›hässlich‹ für Kunst, ›heilig‹/›profan‹ für Religion. Systeme differenzieren sich historisch immer stärker aus, werden in ihrer Besonderheit gegenüber anderen Systemen deutlich, lassen sich reflektieren und theoretisieren. Mithilfe des Begriffs der ›Ausdifferenzierung‹ lassen sich so vor allem historische Prozesse beschreiben (z.B. Ausdifferenzierung literarischer Gattungen).

Durch Wahrnehmung und Reflexion einer Umwelt nimmt man sich selbst als System wahr. Die Selbstbeobachtung setzt dabei Fremdbeobachtung voraus und umgekehrt. Beobachtung als Basisaktivität aller sozialen Verhältnisse und Interaktionen kann als einfache Beobachtung (System → Umwelt; z. B. das Lesen eines Buches) sowie als Beobachtung 2. Grades (System beobachtet sich selbst beim Beobachten; z. B. Selbstbeobachtung des Lesers beim Lesen) erfolgen. Systeme werden in der Systemtheorie als autopoietisch = selbtstherstellend begriffen:

“Als autopoietisch wollen wir Systeme bezeichnen, die die Elemente, aus denen sie bestehen, durch die Elemente, aus denen sie bestehen, selbst produzieren und reproduzieren.” (Luhmann 2008, S. 56).

Das System ›Maus‹ generiert und reproduziert sich beispielsweise aus Mäusen – das Einschleusen von Katzen wäre kontraproduktiv.

Luhmann folgert, dass die Systemtheorie z.B. eine zwar abstrakte, aber trennscharfe Abgrenzung des Systems ›Kunst‹ bzw. ›Literatur‹ gegen andere Systeme (z.B. ›Moral‹ oder ›Politik‹) erlaubt.  Weil sich das ausdifferenzierte System ›Kunst‹/›Literatur‹ als ›autopoietisches‹ System selbst durch Kunst/Literatur produziert, lassen sich alle Einmischungsversuche anderer Systeme begriffstheoretisch zurückweisen: ›Moral‹, ›Recht‹, ›Wirtschaft‹, ›Politik‹ besitzen keine Zugangsberechtigung, weil sie anhand anderer Codes/Leitdifferenzen funktionieren.

Auf diese Weise lassen sich auch ›kleinere‹ Systeme begrifflich scharf erfassen und abgrenzen, beispielsweise im Bereich der literarischen Gattungen: Die Gattung ›Sonett‹ ist ›ausdifferenziert‹, sobald ihre Differenz zu anderen Gattungen – beispielsweise der ›Ode‹ – klar beschrieben werden kann.

Gedankenspiel einer systemtheoretischen Beschreibung der Entstehung ›romantischer‹ = neuzeitlicher Dichtung

Prämisse: ›Romantik‹ meint ursprünglich ›Dichten in der Volkssprache‹ (d.h. in den vielen Ableitungen aus dem Lateinischen: Italienisch – Französisch – Spanisch etc.)

Basis-Beobachtung (›draw a distinction!‹): Um 1300 vollendet sich – zunächst in Italien – die Ausdifferenzierung der ›Neuzeit‹ gegenüber dem ›Altertum‹; neuzeitliche Dichter entwickeln eine ›Beobachtung zweiten Grades‹, indem sie sich ihrer Differenz zum ›klassischen‹ Altertum bewusst werden.

⇒ Dante Alighieri schreibt mit seiner Divina Commedia ein modernes (= christliches) Epos in Variation des antiken Vorbilds.
⇒ Die Neuzeit setzt eine Differenz zur Antike und definiert sich auf diese Weise als System, dessen Umwelt als ›Antike‹ beobachtet werden kann!

→ Beobachtung zweiter Ordnung: Selbsterkenntnis als ›nicht-antik‹
→ Bewusstsein der ›Neuzeit‹: Dichtung in Volkssprache (›romanisch‹)
→ Romantik: ursprünglich ›Dichten in der Volkssprache‹

Durch die Distinktion zwischen Neuzeit und Altertum wird der Dichtung eine neue Differenz einkopiert:

griechisch-lateinische Klassik
(nur Spezialisten zugänglich und folglich elitär)

volkssprachliche Moderne
(allgemein verständlich und folglich populär)

Erst durch die (Selbst-)Beobachtung ›zweiter Ordnung‹ kann sich die neuzeitliche Dichtung in ihrer Differenz zum Altertum begreifen. Als Leitdifferenz der ›modernen‹ Literatur ergibt sich der binäre Code ›populär‹/›nicht-populär‹).

Auf diese Weise lässt sich ›Romantik‹ als ›Pop‹-Projekt erkennen, das sich um 1800 wiederholt: Abgrenzung der ›nördlichen‹ Dichtung gegen die Hegemonie der romanischen (= ital./frz.) Dichtung, die sich in Analogie zur Antike zu einer neuen ›Klassik‹ entwickelt hat. (→ ›Romantik‹ im engeren Sinn einer deutschen ›Kunst‹- bzw. ›Literatur‹-Epoche im frühen 19. Jahrhundert). Alle Besonderheiten ›romantischer‹ Kunst/Poesie lassen sich insofern aus der Basis- Abgrenzung gegen jeweils eine ›Klassik‹ erkennen, d.h. aus dem Bewusstsein einer Differenz von ›neu‹ vs. ›alt‹

Zusammenfassung

Im Unterschied zur Zeichen-Theorie des Poststrukturalismus, der als transzendentale Reflexion immer in Aporien führt, spielt der Zeichen-Begriff für die Systemtheorie keine Rolle: Hier geht es um eine möglichst objektive Beschreibung von Sachverhalten in historischer Perspektive, d.h. im Hinblick auf geschichtliche Wandlungen. – Bei allen grundsätzlichen Differenzen liegt doch eine elementare Affinität zwischen Systemtheorie und Poststrukturalismus vor: Auch die Systemtheorie verzichtet kategorisch auf Metaphysik und verabschiedet daher gleichermaßen die ›Subjekt‹-Idee!

Die Leistungsfähigkeit der extrem abstrakten Systemtheorie resultiert aus einer ungemein zweckmäßig einsetzbaren Terminologie, die auch für literaturwissenschaftliche Fragestellungen von großem Nutzen sein kann.

Luhmann, Niklas: Autopoiesis des Bewußtseins. In: Soziologische Aufklärung 6: Die Soziologie und der Mensch. 3. Auflage. Wiesbaden 2008, S. 56–108.

Krause, Detlef: Luhmann-Lexikon. Eine Einführung in das Gesamtwerk von Niklas Luhmann. 3., neu bearbeitete und erweiterte Auflage Stuttgart 2001

Plumpe, Gerhard/Werber, Niels (Hgg.): Beobachtungen der Literatur. Aspekte einer polykontexturalen Literaturwissenschaft. Opladen 1995