Strukturalismus und strukturale Textanalyse

Prof. Dr. Marianne Wünsch
Vorbemerkungen

Der Strukturalismus ist ein internationales und interdisziplinäres Phänomen (berührt die Sozialwissenschaften, die Psychologie, Ethnologie etc.). Er hat seine Wurzeln vor allem a) im Programm einer strukturalen Linguistik von Ferdinand de Saussure (1916) sowie b) im russischen Formalismus (vgl. die Lerneinheit zum Formalismus).

Aus den regionalen Ansätzen entwickelten sich vor allem drei lokale Strukturalismen:
1. der tschechische Strukturalismus (u.a. Mukařovský)
2. der französische Strukturalismus (u.a. Lévi-Strauss, Barthes, Foucault, Genette)
3. der sowjetische Strukturalismus (u.a. Lotman)
In Deutschland wurde der Strukturalismus seit den späten 60er Jahren (im Zuge der Studentenrevolte) rezipiert

Definition ›Strukturalismus‹

Eine strukturale Methode versucht, die Gegenstände der nicht-naturwissenschaftlichen Bereiche als Systeme zu beschreiben und zu interpretieren, die in komplexen Relationen zu ihren – wiederum als System beschreibbaren – Umwelten stehen.  Als System können in der Literaturwissenschaft aufgefasst werden:

jeder einzelne literarische Text (ein Gedicht, ein Drama, eine Erzählung etc.)

einzelne Texttypen bzw. Gattungen (z.B. definiert sich das barocke Trauerspiel durch eine Menge an Regeln, etwa zum Personal und zur Stilebene)

die Gesamtmenge der Gattungen (Gattungssystem)

eine historische Epoche (= Literatursystem eines bestimmten Zeitraums als Abstraktion von der Gesamtmenge der Texte einer Epoche)

Als System beschreibbar ist folglich jede relativ autonome und abgeschlossene, methodisch isolierbare Entität. Ein System besteht aus a) einer Menge von Elementen (als kleinste Einheiten) und b) den Relationen zwischen den Elementen. Die Struktur eines Systems bezeichnet die Gesamtmenge der Relationen zwischen den Elementen.

Anmerkungen:
1. ›Element‹, ›Relation‹, ›Struktur‹ und ›System‹ sind relationale Begriffe. Wie sie gefüllt sind, hängt von der jeweiligen Fragestellung ab. Untersucht man beispielsweise Figuren und ihre Psychologie in einem Erzähltext, so bildet die Figur ein System, während die Elemente die Merkmale dieser Figur bezeichnen; untersucht man hingegen etwa die sozialen Strukturen in diesem Erzähltext, so sind die Figuren die Elemente dieses Systems.

2. Der Begriff der ›Struktur‹ ist nicht zu verwechseln mit dem des ›Aufbaus‹ oder der ›Form‹ eines Textes. Er ist abstrakter und umfassender. Zum Beispiel haben Texte Strukturen auf der formalen wie inhaltlichen Ebene.

Strukturalismus in der Literaturwissenschaft

Wichtig für den literaturwissenschaftlichen Strukturalismus ist die Auffassung eines Textes (und zwar sowohl eines literarischen als auch eines nicht-literarischen Textes) als zeichenhafte Äußerung. Die Semiotik (= Theorie von Zeichen im Allgemeinen und von Kommunikation mittels Zeichen) ist also ein integraler Bestandteil des Strukturalismus (insbesondere bei de Saussure und Titzmann). Literatur kann als spezielles Zeichensystem verstanden werden. Jurij M. Lotman bezeichnet Literatur als »sekundäres modellbildendes System«.

›Sekundär‹ bedeutet, dass Literatur auf der Basis von und mit Hilfe von sprachlichen Zeichen ein neues semiotisches System aufbaut, in dem die Bedeutungen der normalsprachlichen Zeichen für neue Bedeutungen funktionalisiert werden können. ›Modellbildend‹ meint, dass literarische Texte nicht einfach nur einen beliebigen individuellen Sachverhalt darstellen, sondern dass diese Darstellung zugleich eine Verallgemeinerungsfähigkeit beansprucht: Der Text konstruiert das Modell einer Welt. Zum Beispiel gestalten barocke Märtyrerdramen nicht nur den heroischen Untergang eines christlichen Individuums, sondern ein Modell für das exemplarische Verhalten eines Christen in der Welt.

Innerhalb des literaturwissenschaftlichen Strukturalismus unterscheidet man eine Vielzahl von Ansätzen, unter anderem:
1. die strukturale Textanalyse (Titzmann)
2. die strukturale Erzähltheorie (Lotman)
3. die strukturale Literaturgeschichtsschreibung

Strukturale Textanalyse

Die strukturale Textanalyse geht davon aus, dass es keine literaturspezifischen Probleme der Textanalyse gibt, dass also die methodischen Probleme bei Dichtung und Sachtexten gleich sind. Sie kann folglich auf alle Fächer angewandt werden, die es mit sprachlichen Äußerungen zu tun haben. Die Aufgabe der strukturalen Textanalyse besteht in der Rekonstruktion der Bedeutung eines Textes. Dabei geht es nicht darum zu rekonstruieren, was der Autor oder der Rezipient gedacht haben mag, sondern was der Text bedeutet. Es geht um intersubjektiv nachweisbare Bedeutungen.

Prämissen der strukturalen Textanalyse:
a) eine Beschreibungssprache (= eine Menge von intersubjektiv verstehbaren – definierten – Begriffen)
b) die Kenntnis des jeweiligen historischen Stands der natürlichen Sprache, dessen sich der Text bedient
c) die Kenntnis des kulturellen Wissens, dessen sich der Text bedient oder von dem er gegebenenfalls abweicht (= was die Zeitgenossen des Textes sich im Prinzip denken konnten)

Kulturelles Wissen (kW) bezeichnet die Gesamtmenge der Annahmen über die Realität in der Kultur eines bestimmten Zeitraums (reicht vom Alltagswissen bis zum Wissen der Theologie, Philosophie, Naturwissenschaften etc., beinhaltet ferner Normen, Geschlechterrollen, Auffassungen über metaphysische Instanzen etc.). Eine wissenschaftliche Interpretation im Sinne der strukturalen Textanalyse läuft also auf eine Rekonstruktion der Bedeutung hinaus, die der Text für einen optimal kompetenten Zeitgenossen hat. Die Bedeutung ist dann die Gesamtmenge der Folgerungen, die sich aus der sprachlichen Struktur des Textes unter Zuhilfenahme von kulturellem Wissen ableiten lassen. (Siehe auch den Einführungstext in die Cultural Studies)

Strukturale Erzähltheorie

Die französische strukturale Erzähltheorie unterscheidet bei Texten mit einer narrativen Struktur zwei Ebenen:

1. die histoire: das ›Was‹ des Erzählens; die erzählte Geschichte, d.h. die vom Text abstrahierbare Menge von Ereignissen in ihrer rekonstruierten logisch-chronologischen Ordnung

2. den discours: das ›Wie‹ des Erzählens; die Formen der Präsentation, mittels derer eine Geschichte dargeboten wird (z.B. unter Berücksichtigung der Reihenfolge, der Erzählperspektive)

Die traditionelle Erzähltheorie (Stanzel, Lämmert u.a.; in der modernen Fortsetzung: Genette) beschäftigt sich mit Elementen des discours. Die meisten Ansätze der strukturalen Erzähltheorie befassen sich aber mit Strukturen der histoire. Die Untersuchung narrativer Strukturen ist dabei gattungsunabhängig, da sich narrative Strukturen auch außerhalb von Erzähltexten, etwa in journalistischen Texten, im Film oder Fernsehen, in der Werbung etc. finden.

Die Grenzüberschreitungstheorie nach Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte (8. Kapitel)

Zur Bestimmung dessen, was eine narrative Struktur sein könnte, welche Bedingungen also erfüllt sein müssen, damit man sagen kann, ein Text erzähle eine Geschichte (oder: eine Geschichte sei abstrahierbar vom Text), gibt es verschiedene Ansätze. Lotman etwa geht davon aus, dass alle Kulturen räumliche Kategorien immer auch metaphorisch für nicht-räumliche Sachverhalte verwenden, vgl. etwa die Bezeichnungen ›rechts‹/›links‹ für politische Gruppierungen oder die Kategorien ›Überich‹, ›Ich‹, ›Unterbewusstsein‹ bei Freud.

Lotman nimmt ferner an, dass räumliche Strukturen gern semantisiert werden, d.h. dass räumlichen (= topografischen) Ordnungen zusätzliche, nicht-räumliche Merkmale zugeschrieben werden. Nach Lotman liegt eine narrative Struktur genau dann vor, wenn der (verbale oder non-verbale) Text (mindestens) ein ›Ereignis‹ mitteilt. Ein Ereignis liegt seinerseits genau dann vor, wenn eine Figur über die Grenze zwischen zwei semantischen Räumen versetzt wird; diese Grenzüberschreitung kann die Figur willentlich und aktiv oder unwillentlich und passiv vornehmen (z.B. LebenTod: willentlich: Selbstmord; unwillentlich: Ermordung).

Der Begriff des semantischen Raums umfasst bei Lotman verschiedene Sachverhalte, die hier differenziert werden:

a) Innerhalb der dargestellten Welt der Äußerung können verschiedene Teilräume – z.B. Stadt vs. Land – koexistieren; sofern nichts Weiteres hinzukommt, handelt es sich nur um die topografische Ordnung der dargestellten Welt.

b) Eine solche topografische Ordnung kann durch die Zuordnung nicht-räumlicher Merkmale an Räume semantisiert werden (semantisierter Raum), was eine erste Variante semantischer Räume (sR) darstellt, z.B. – siehe das Schema unten –, indem den zwei oder mehr Räumen Bewohner mit oppositionellen Merkmalen zugeordnet werden.

c) Denken wir uns nun eine solche Menge von Merkmalen, wie sie in b) zur Semantisierung topografischer Räume verwendet worden ist, als gegeben, aber nicht an einen topografischen Raum gebunden, so ergäben sich abstrakte semantische Räume, bei denen der Raumbegriff nurmehr im mathematisch-topologischen Sinne verwendet ist.

Ein Beispiel:

Im Falle bloß topografischer Räume sind mit diesen keine weiteren Merkmale verbunden, im Falle semantisierter Räume fällt die räumliche Ordnung mit einer nicht-räumlichen zusammen, im Falle abstrakter semantischer Räume ist die semantische Ordnung primär, die räumliche Ordnung kann fehlen.

Definition ›semantischer Raum‹: = Menge zusammen auftretender und untereinander korrelierter, für den Text relevanter, semantischer Größen, die bezüglich mindestens eines Merkmals in Opposition zu (mindestens) einer zweiten solchen Menge stehen (im obigen Beispiel sind sR1 und sR2 in allen Merkmalen oppositionell)

Normale und Meta-Ereignisse:
Lotman unterscheidet zwischen zwei Klassen von Ereignissen: Bei normalen Ereignissen überschreitet eine Figur die Grenze zwischen zwei semantischen Räumen; die Ordnung der dargestellten Welt bleibt aber insofern unangetastet, als vor wie nach dem Ereignis dieselben semantischen Räume existieren.

Metaereignisse sind Ereignisse, bei denen durch das Ereignis nicht nur eine Figur in einen anderen semantischen Raum übergeht, sondern das System der semantischen Räume, d.h. die ideologische Ordnung der dargestellten Welt, transformiert wird.

Ein Ereignis kann je nach Kontext ›normales‹ und ›Metaereignis‹ sein. Im Barockdrama etwa ist ein politischer Umsturz kein Metaereignis, da lediglich ein Herrscher ausgetauscht wird, die Struktur des Systems aber konstant bleibt. Im expressionistischen Drama hingegen wird nicht nur ein Zustandswechsel des Helden, sondern die Substitution einer alten Weltstruktur durch eine neue angestrebt. In längeren Texten gibt es meist nicht nur ein Ereignis, sondern mehrere Ereignisse, die in einer Ereignishierarchie stehen. Dabei gelten folgende Grundsätze:

1. Ein Ereignis, bei dem eine irreversible Grenzüberschreitung stattfindet, ist höherrangig als ein Ereignis, bei dem die Grenzüberschreitung rückgängig gemacht werden kann (Beispiel: die Grenzüberschreitung LebenTod im Vergleich zum Diebstahl eines Gegenstands, der zurückgelegt wird).

2. Ein Ereignis, bei dem eine als unmöglich erachtete Grenzüberschreitung stattfindet, ist höherrangig als ein Ereignis, bei dem eine mögliche Grenzüberschreitung stattfindet (Beispiel: die Grenzüberschreitung TodLeben (z.B. im Wiedergänger-Motiv) im Vergleich zur Grenzüberschreitung Leben Æ Tod).

3. Das als unwahrscheinlicher geltende Ereignis ist höherrangig als das wahrscheinlichere (Beispiel: Inzest im Vergleich zu Diebstahl; wichtig: abhängig vom kulturellen Wissen).

4. Das Ereignis, das eine hochrangige Norm verletzt, ist höherrangig als ein Ereignis, das eine niederrangige Norm verletzt (wichtig: abhängig vom Text und vom kulturellen Kontext; Beispiel: bei Erasmus von Rotterdam im frühen 16. Jahrhundert rangiert der Ehebruch noch vor Mord und Diebstahl, heute gilt er als niederrangig).

Barthes, Roland: Introduction à l’analyse structurale des récits. In: Communications 8 (1966), S. 1-27.

Bremond, Claude: Die Erzählnachricht. In: Jens Ihwe (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Bd. 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft, II. Frankfurt/M. 1972, S. 177-217 [Le Message narratif. In: Communications 4 (1964), S. 4-32].

Bremond, Claude: Logique du récit. Paris 1973.

Genette, Gérard: Die Erzählung. München 2 1998 [Figures III. Paris 1972].

Greimas, Algirdas Julien: Elemente einer narrativen Grammatik. In: Strukturalismus in der Literaturwissenschaft. Herausgegeben von Heinz Blumensath. Köln 1972, S. 47-67.

Grimm, Petra: Filmnarratologie. Eine Einführung in die Praxis der Interpretation am Beispiel des Werbespots. München 1996 (Diskurs Film: Bibliothek; 10).

Lévi-Strauss, Claude: vgl. ausführliche Angaben in Titzmann [1980].

Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. München 4 1993 [1972] [insbesondere Kapitel 8].

Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München 3 2002.

Prince, Gerald: A grammar of stories: an introduction. The Hague 1973.

Propp, Vladimir: Morphologie des Märchens. Herausgegeben von Karl Eimermacher. Frankfurt/M. 2 1982 [1975] (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 131) [Sammelband, der nicht nur Propps grundlegenden Beitrag von 1928 enthält, sondern auch die wichtigsten
späteren Rezensionen im Rahmen des französischen Strukturalismus].

Renner, Karl N.: Der Findling. Eine Erzählung von Heinrich von Kleist und ein Film von George Moorse. Prinzipien einer adäquaten Wiedergabe narrativer Strukturen. München 1983 [Teil I und II].

Titzmann, Michael: Semiotik der Literaturwissenschaft. In: Handbuch der Semiotik. Bd. 3. Herausgegeben von Roland Posner. Berlin – New York 2002 [im Erscheinen].

Todorov, Tzvetan: Poetik der Prosa. Frankfurt/M. 1972.

Todorov, Tzvetan: Die Kategorien der literarischen Erzählung. In: Strukturalismus in der Literaturwissenschaft. Herausgegeben von Heinz Blumensath. Köln 1972, S. 263-294.

Einen Überblick zum Stand und den Ansätzen in der strukturalen Erzähltheorie sowie reichhaltige Literaturangaben findet man bei Michael Titzmann: Struktur, Strukturalismus. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Begründet von Paul Merker und Wolfgang
Stammler. Herausgegeben von Klaus Kanzog und Achim Masser. Bd. 4: Sl-Z. Berlin – New York 2 1984, S. 256-278.