Poetiken des 20. Jahrhunderts

Prof. Dr. Albert Meier
Das neue Bewusstsein von Literatur im 20. Jahrhundert

Im 20. Jahrhundert werden viele literaturtheoretische Positionen entweder neu entwickelt oder radikalisiert. Als besonders bemerkenswert können die der deutschsprachigen Autoren Hugo von Hofmannsthal und Gottfried Benn sowie der Franzosen Jean-Paul Sartre und Roland Barthes gelten.

Zentralproblem ihrer Überlegungen ist die Frage, in welchem Verhältnis Wörter und Dinge zueinander stehen (bzw. welches Verhältnis zwischen der Gebrauchssprache des Alltags und der poetischen Sprache besteht). Gemeinsam ist ihnen die Problematisierung des aristotelischen Mimesis-Konzepts, demzufolge Kunst und Literatur die Lebenswelt nachahmen. Demgegenüber hebt die Literaturtheorie der Moderne des 20. Jahrhunderts die Eigenständigkeit von Literatur hervor und sieht in der Nachahmung allenfalls einen Spezialfall; Mimesis ist jedenfalls nicht mehr der entscheidende Begriff.

Ähnlich wie es in der Bildenden Kunst nach 1900 zur Entwicklung einer abstrakten = gegenstandslosen Malerei kommt, lässt sich auch in der Literatur eine Tendenz zur Abstraktion beobachten. Es wird zwar – zwangsläufig – semantisiertes Material verwendet; trotzdem gilt es zu beachten, dass man es in der Dichtung − trotz desselben Wort- und Syntax-Materials − mit einer eigenständigen Art von Sprache zu tun hat.

Hugo von Hofmannsthal

Das Bewusstsein der eigenständigen Sprache in der Poesie taucht im deutschsprachigen Raum zuerst bei von Hofmannsthal auf:

Es führt von der Poesie kein direkter Weg ins Leben, aus dem Leben keiner in die Poesie. Das Wort als Träger eines Lebensinhaltes und das traumhafte Bruderwort, welches in einem Gedicht stehen kann, streben auseinander und schweben fremd aneinander vorüber, wie die beiden Eimer eines Brunnens. (von Hofmannsthal 1979, S. 16)

Ein besonders wichtiges Dokument zur Sprachauffassung des von der französischen Moderne (Baudelaire, Mallarmé, Rimbaud) beeinflussten Hofmannsthal ist Ein Brief (1902; zumeist als ›Chandos-Brief‹ zitiert). Darin schreibt der angebliche Verfasser, der fiktive Dichter Philipp Chandos, an den Philosophen Francis Bacon über sein dichterisches Verstummen:

Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen. Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu besprechen, und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen. Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte »Geist«, »Seele« oder »Körper« nur auszusprechen. […] die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze. (von Hofmannsthal 1991, S. 49 f.)

Der Chandos-Brief ist jedoch bei weitem mehr als nur ein Ausdruck von Sprachskepsis. Er ist Entwurf einer Poetik der Sprach-Mystik, wonach es in der Dichtung auf Erlebnisse jenseits der Alltagswelt bzw. der Alltagssprache ankommt:

In diesen Augenblicken wird eine nichtige Kreatur, ein Hund, eine Ratte, ein Käfer, ein verkrümmter Apfelbaum, ein sich über den Hügel schlängelnder Karrenweg, ein moosbewachsener Stein mir mehr, als die schönste, hingebendste Geliebte der glücklichsten Nacht mir je gewesen ist. Diese stummen und manchmal unbelebten Kreaturen heben sich mir mit einer solchen Fülle, einer solchen Gegenwart der Liebe entgegen, daß mein beglücktes Auge auch ringsum auf keinen toten Fleck zu fallen vermag. (von Hofmannsthal 1991, S. 52)

Poesie wird zum Medium der Erfahrung mystischer Gegenwart und unmittelbarer sprachlicher Sinnlichkeit, die als autonome Realität jegliche Zeichenhaftigkeit hinter sich lässt. In diesem Verständnis ermöglicht sie Hofmannsthal – im Gegensatz zu seinem Lord Chandos – ein Weiterschreiben.

Jean-Paul Sartre

Der französische Philosoph Sartre vertritt Anfang der Fünfziger Jahre mit der Forderung einer politisierten Literatur (›littérature engagée‹) eine Position, die nur auf den ersten Blick als Gegensatz zur Konzeption Hugo von Hofmannthals erscheint.

Entscheidender Ausgangspunkt für Sartre ist die Gegenüberstellung von Poesie und Prosa. Während Prosa sich der Alltagssprache bedient und wegen ihrer Zeichenhaftigkeit für politisches Engagement einsetzbar ist, entzieht sich die Sprache der Poesie jeglicher Funktionalisierung und kann nicht engagiert sein: »Les poètes sont des hommes qui refusent d’utiliser le langage.« (›Die Dichter sind Menschen, die sich weigern, die Sprache zu benutzen.‹) (Sartre 1964, S. 63)

Für den Dichter sind also die Worte selbst Gegenstände (»objets«), während sie sie für den Prosa-Schriftsteller Bezeichnungen für Gegenstände bleiben (»désignations d’objets«). (Sartre 1964, S. 70)

Gottfried Benn: Probleme der Lyrik

In einem einflussreichen Vortrag an der Universität Marburg (21. 8 1951) hat sich Benn gegen gängige Vorstellungen von Lyrik gewandt und demgegenüber ihren artifiziellen Charakter betont:

[…] die Öffentlichkeit lebt nämlich vielfach der Meinung: da ist eine Heidelandschaft oder ein Sonnenuntergang, und da steht ein junger Mann oder ein Fräulein, hat eine melancholische Stimmung, und nun entsteht ein Gedicht. Nein, so entsteht kein Gedicht. Ein Gedicht entsteht überhaupt sehr selten − ein Gedicht wird gemacht. Wenn Sie vom Gereimten das Stimmungsmäßige abziehen, was dann übrigbleibt, wenn dann noch etwas übrigbleibt, das ist dann vielleicht ein Gedicht. (Benn 2001, S. 9 f.)

Beeinflusst von Edgar Allan Poe (The Philosophy of Composition, 1846; The Poetic Principle, 1850) steht für Benn fest: »Das neue Gedicht, die Lyrik, ist ein Kunstprodukt.« (Benn 2001. S. 10)

Er nennt vier »diagnostische Symptome« (Benn 2001, S. 17), anhand deren sich die Modernität eines Gedichts bestimmen lässt (Andichten / ›Wie‹ (=Vergleiche) / Farben / seraphischer Ton). Entscheidend sind für ihn bei einem Gedicht nicht Semantik bzw. Inhalte, sondern die Form, weil davon die sinnliche Überzeugungskraft abhängt.

Roland Barthes’ These vom ›Tod des Autors‹ (1968)

Der poststrukturalistische Philosoph wendet sich in seinem viel beachteten Aufsatz gegen die traditionelle Idee vom ›Autor‹.

Im Unterschied zur üblichen Auffassung, die den ›Autor‹ als eine Art ›Vater‹ seines Textes (also als ›Autorität‹ über sein Kind) versteht, betont Barthes das unkontrollierbare Eigenleben des Textes (das lateinische Wort für ›Gewebe‹), dessen Bedeutung nicht vom Autor als gottähnlichem Schöpfer, sondern von den Lesern bestimmt werde; der Verfasser eines Textes gilt Barthes lediglich als ›Schreiber‹, der bereits vorhandenes Textmaterial kopierend mischt und neu verbindet: »Der Text ist ein Gewebe aus Zitaten, die aus tausend Brennpunkten der Kultur hervorgegangen sind.« (Barthes 2000, S. 190)

Als terminologische Alternative zu ›Autor‹: bietet Barthes SCRIPTEUR (nicht ›écrivain‹) an und verknüpft den Tod des Autors mit der Geburt des Lesers: Jeder Leser hat seine eigene Art der Lektüre, ohne dabei durch die eventuelle Autor-Intention eingeschränkt zu sein. Für die literaturwissenschaftliche Arbeit folgt aus dieser Sichtweise der Verzicht auf Interpretationen mit Absolutheitsanspruch, die einen Text ›dechiffrieren‹ wollen. Vielmehr kommt es darauf an, das jeweilige ›Gewebe‹ zu analysieren und zu ermitteln, aus welchen Text-Materialien es besteht und wie dieses zusammengesetzt ist.

Hofmannsthal, Hugo von: Poesie und Leben. In: Ders.: Reden und Aufsätze I. 1891–1913. Herausgegeben von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt am Main 1979(=Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden 8), S. 13–19, hier S. 16.

Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Herausgegeben von Rudolf Hirsch, Christoph Perels und Heinz Röllecke. Band. XXXI: Erfundene Gespräche und Briefe. Herausgegeben von Ellen Ritter. Frankfurt am Main 1991, S. 45–55.

Jean-Paul Sartre: Qu’est-ce que la littérature? In: Ders: Situations, II. [Paris] 1964, S. 55–330.

Gottfried Benn: Probleme der Lyrik. In: Ders.: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe. in Verbindung mit Ilse Benn † herausgegeben von Gerhard Schuster (Bde. I-V) und Holger Hof (Bd. VI). Bd. VI: Prosa 4. Stuttgart 2001, S. 9–44.

Roland Barthes: Der Tod des Autors. In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Herausgegeben und kommentiert von Fotis Jannidis u.a. Stuttgart 2000 (rub)18058, S. 190.

Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief (1902)

»Mir erschien damals in einer Art von andauernder Trunkenheit das ganze Dasein als eine große Einheit: geistige und körperliche Welt schien mir keinen Gegensatz zu bilden, ebensowenig höfisches und tierisches Wesen, Kunst und Unkunst, Einsamkeit und
Gesellschaft; in allem fühlte ich Natur […].«

[Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Herausgegeben von Rudolf Hirsch, Christoph Perels und Heinz Röllecke. Band. XXXI: Erfundene Gespräche und Briefe. Herausgegeben von Ellen Ritter. Frankfurt am Main 1991, S. 45–55, hier S. 47.]


»Seither führe ich ein Dasein, das Sie, fürchte ich, kaum begreifen können, so geistlos, so gedankenlos fließt es dahin; ein Dasein, das sich freilich von dem meiner Nachbarn […] kaum unterscheidet und das nicht ganz ohne freudige und belebende Augenblicke ist.«

[Hofmannsthal: Ein Brief, S. 50.]


»Eine Gießkanne, eine auf dem Felde verlassene Egge, ein Hund in der Sonne, ein ärmlicher Kirchhof, ein Krüppel, ein kleines Bauernhaus, alles dies kann das Gefäß meiner Offenbarung werden. Jeder dieser Gegenstände und die tausend anderen ähnlichen, über die sonst ein Auge mit selbstverständlicher Gleichgültigkeit hinweggleitet, kann für mich plötzlich in irgend einem Moment, den herbeizuführen auf keine Weise in meiner Gewalt steht, ein erhabenes und rührendes Gepräge annehmen, das auszudrücken mir alle Worte zu arm scheinen.«

[Hofmannsthal: Ein Brief, S. 50.]


»[…] nämlich weil die Sprache, in welcher nicht nur zu schreiben, sondern auch zu denken mir vielleicht gegeben wäre, weder die lateinische noch die englische noch die italienische oder spanische ist, sondern eine Sprache, von deren Worten mir auch nicht eines bekannt ist, eine Sprache, in welcher die stummen Dinge zu mir sprechen, und in welcher ich vielleicht einst im Grabe vor einem unbekannten Richter mich verantworten werde.«

[Hofmannsthal: Ein Brief, S. 54.]


Jean-Paul Sartre: Qu’est-ce que la littérature? / Was ist Literatur? (1947)

»L’écrivain […] c’est aux significations qu’il a affaire. Encore faut-il distinguer: l’empire des signes, c’est la prose; la poésie est du côté de la peinture, de la sculpture, de la musique.« (›Es sind die Bedeutungen, womit es der Schriftsteller zu tun hat. Noch einmal gilt es zu unterscheiden: Das Reich der Zeichen, das ist die Prosa; die Poesie steht auf der Seite der Malerei, der Bildhauerei, der Musik.‹)

[Jean-Paul Sartre: Qu’est-ce que la littérature? In: Ders: Situations, II. [Paris] 1964, S. 55–330, hier S. 63.]


»La prose est utilitaire par essence; je définirais volontiers le prosateur comme un homme qui se sert des mots.« (›Prosa ist ihrem Wesen nach benutzbar; ich möchte den Prosaschreiber geradezu als einen Menschen definieren, der sich der Wörter bedient.‹)

[Sartre: Qu’est-ce que la littérature?, S. 70.]


»Mais personne ne saurait supposer un instant qu’on puisse écrire un bon roman à la louange de l’antisémitisme.« (›Niemand könnte auch nur für einen Augenblick unterstellen, dass sich ein guter Roman zum Lobpreis des Antisemitismus schreiben ließe.‹)

[Sartre: Qu’est-ce que la littérature?, S. 112]


Gottfried Benns Probleme der Lyrik (1951)

»Aber die Form ist ja das Gedicht. Die Inhalte eines Gedichtes, sagen wir Trauer, panisches Gefühl, finale Strömungen, die hat ja jeder, das ist der menschliche Bestand, sein Besitz in mehr oder weniger vielfältigem und sublimem Ausmaß, aber Lyrik wird daraus nur wenn es in eine Form gerät, die diesen Inhalt […] trägt, aus ihm mit Worten Faszination macht. Eine isolierte Form, eine Form an sich, gibt es ja gar nicht. Sie ist das Sein, der existentielle Auftrag des Künstlers, sein Ziel.«

[Gottfried Benn: Probleme der Lyrik. In: Ders.: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe. in Verbindung mit Ilse Benn † herausgegeben von Gerhard Schuster (Bde. I-V) und Holger Hof (Bd. VI). Bd. VI: Prosa 4. Stuttgart 2001, S. 9–44, hier S. 21.]


Roland Barthes: La mort de l’Auteur (1968)

»Wir wissen jetzt, dass ein Text keine Aneinanderreihung von Wörtern ist, die eine einzige, gewissermaßen ›theologische‹ Bedeutung freisetzen (was die ›Botschaft‹ des Autor-Gottes wäre); ein Text ist vielmehr ein vieldimensionaler Raum, in dem sich unterschiedliche Schreibweisen, keine davon original, vermählen und bekämpfen: Der Text ist ein Gewebe aus Zitaten, die aus tausend Brennpunkten der Kultur hervorgegangen sind.«

[Roland Barthes: Der Tod des Autors. In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Herausgegeben von Fotis Jannidis u.a. Stuttgart 2000, S. 190.]


»Wenn wir dem Schreiben seine Zukunft verschaffen wollen, dann wissen wir, dass die Erzählung davon umgedreht werden muss: die Geburt des Lesers ist mit dem Tod des Autors zu bezahlen.«

[Barthes: Der Tod des Autors, S. 193.]


»In der vielfältigen Schrift gilt es, in der Tat, alles zu entwirren, aber nichts zu entziffern.«

[Barthes: Der Tod des Autors, S. 191.]