Literarische Formen: ›lyrisch‹ − ›episch‹ − ›dramatisch‹

Prof. Dr. Albert Meier

Literarische Formen folgen jeweils einer Eigengesetzlichkeit. Umso wichtiger ist es, die entscheidenden idealtypisch zu definieren, um konkrete Texte daran spiegeln und auf diese Weise auch genauer beobachten zu können.

Die Differenzierung zwischen den drei Hauptformen ›lyrisch‹, ›episch‹ und ›dramatisch‹ geht bis auf die klassische Antike zurück (damals allerdings noch ohne klaren Begriff für ›Lyrik‹). Der älteste Beleg hierfür findet sich bei Platon, der in seiner Politeia danach unterscheidet, ob der Dichter unmittelbar selbst spricht (Dithyrambos/Chorlyrik), zugunsten von Figuren gänzlich abwesend ist (Drama) oder seine Rede mit personaler Darstellung verschränkt (Epos). Die erzählende Dichtung stellt für Platon also eine Mischform aus Lyrik und Drama dar.

»[…] daß nämlich die eine Form der Dichtung und Märchenerzählung ganz in Nachahmung besteht, die Tragödie nämlich […] und die Komödie, die andere aber ganz in der persönlichen Kundgebung des Dichters; man trifft sie vorzugsweise in den Dithyramben an; eine dritte Form aber, aus beiden vereinigt, findet sich in der epischen Dichtkunst, aber auch sonst vielfältig […].« (Platon  1982, S. 98, V. 394 a-c.).

Wie immer bei dieser Art von Allgemeinbegriffen (siehe Einheit zum Epochen- und Gattungsbegriff) ist die Unterscheidung logisch-abstrakt zwar stichhaltig, findet sich in der Literatur jedoch nur selten rein realisiert. Als einen Extremfall einer solchen Grenzüberschreitung der literarischen Formen bezeichnet Goethe die Gattung der Ballade (Bsp.: Der Erlkönig von 1782): Sie ist ›lyrisch‹, weil in kunstvoller, gebundener Sprache verfasst, erzählt eine in sich geschlossene Geschichte (›episch‹) und verwendet Wechselreden von Figuren (›dramatisch‹).

»Es gibt nur drey ächte Naturformen der Poesie: die klar erzählende, die enthusiastisch aufgeregte und die persönlich handelnde: Epos, Lyrik und Drama.« (Goethe 2005, S. 356).

Lyrisch

Goethe bezeichnet das Lyrische als die ›enthusiastisch aufgeregte‹ Dichtart. Sie ist geprägt von Begeisterung und sinnlicher Intensivität, die einem Gefühl Ausdruck verleihen und sich auf den Leser übertragen will (wie in Mörikes Er ist’s). Ein solcher Gefühlsausdruck ist aber nicht in jedem Gedicht vorhanden (siehe Morgensterns Das ästhetische Wiesel) und unterscheidet somit den Spezialfall ›Lyrik‹ vom Oberbegriff ›Gedicht‹.

Eduard Mörike – Er ist’s (9. März 1829)

Frühling läßt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte;
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen.
– Horch, von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja du bist’s!
Dich hab ich vernommen!

Christian Morgenstern – Das ästhetische Wiesel

Ein Wiesel
saß auf einem Kiesel
inmitten Bachgeriesel.

Wißt ihr
weshalb?

Das Mondkalb
verriet es mir
im Stillen:

Das raffinier-
te Tier
tat’s um des Reimes willen.

Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal ist die Musikalität oder Singbarkeit, woraus sich auch die Etymologie erklärt: Der Begriff ›Lyrik‹ geht auf das altgriechische Wort ›lyra‹ (harfenartiges Zupfinstrument) zurück und bezeichnet ursprünglich Dichtungen, die zur Leier gesungen wurden (Oden, Hymnen). Erst im frühen 18. Jahrhundert ist das Adjektiv ›lyrisch‹ als Analogbildung zur ›(poésie) lyrique‹ aus dem Französischen ins Deutsche übernommen worden.

Charakteristika der Lyrik sind eine artifizielle Sprache (Metrik, Reim, Inversionen, Bildlichkeit) und die Homogenität des Tons, die eine spezifische Stimmung vermittelt. Typisch sind ebenfalls eine gewisse Musikalität, da in der Lyrik der Klang wichtiger ist als die Semantik und die Ganzheitlichkeit der Perspektive des lyrischen Ichs.

Außerdem zeichnet sich Lyrik durch Kürze aus. Essentiell ist jedoch vor allem die Referenzlosigkeit des Lyrischen, die ihr einen Absolutheitscharakter verleiht (ein Frühlingsgedicht wie Mörikes Er ist’s lässt sich auch im Winter lesen, kann also nicht durch äußere Umstände falsifiziert werden).

Episch

Schon Goethes Beschreibung des Epischen als ›klar erzählende‹ Naturform macht deutlich, dass diese kontrollierter bzw. distanzierter als das Lyrische ist. In der allgemeinen Definition bedeutet ›episch‹ erzählend und impliziert eine ganze Geschichte aus Anfang, Mitte und Ende. Das Epische besitzt aber stets drei Dimensionen: Jemand (Erzähler) erzählt jemandem (Zuhörer) etwas (Geschichte).

Wie dies zu verstehen ist, illustriert zum Beispiel der Anfang aus Georg Büchners 1839 erschienener Erzählung Lenz:

“Den 20. ging Lenz durch’s Gebirg. Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen. Es war nasskalt, das Wasser rieselte die Felsen hinunter und sprang über den Weg. Die Äste der Tannen hingen schwer herab in die feuchte Luft. Am Himmel zogen graue Wolken, aber alles so dicht, und dann dampfte der Nebel herauf und strich schwer und feucht durch das Gesträuch, so träg, so plump.” (Georg Büchner 1987, S. 3).

Wenn also in der Lyrik ein Ich sich ›ausdrückt‹, so wird in der Epik von jemandem etwas für andere wiedergegeben. Das erklärt auch das ›epische Präteritum‹, da sich eine Geschichte bereits ereignet haben muss, um erzählt werden zu können. Es entsteht also eine Distanz zwischen dem Geschehen und seiner wiederholenden Darstellung. Ohne den zusätzlichen Aspekt der ›epischen Breite‹ jedoch würde man eine Geschichte nicht als ›episch‹ akzeptieren.

Da von einer zentralen Instanz aus erzählt wird, stellt sich immer die Frage nach der Gültigkeit bzw. Subjektivität des Erzählten (Beispiel: Wie verlässlich/glaubwürdig ist ein Erzähler, der seine Geschichte mit folgenden Worten beginnt: »Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt […]« (so beginnt Günter Grass’ Roman Die Blechtrommel von 1959).

Dramatisch

›Drama‹ wird als Oberbegriff für die konträren Gattungen ›Tragödie‹/›Trauerspiel‹ und ›Komödie‹/›Lustspiel‹ verwendet.

Gemeinsames Charakteristikum ist die (körperliche) Präsenz der handelnden und sprechenden Akteure. Wenn also in der Lyrik ein Ich sich ›ausdrückt‹ und in der Epik einem Publikum etwas erzählt wird, so führt das Drama etwas ›vor‹ (bzw. ›auf‹)‹ und zeichnet sich insofern durch ›Gegenwärtigkeit‹ aus. Das ›Dramatische‹ ist also allgemein gekennzeichnet durch die Präsenz der Figuren bei gleichzeitiger Abwesenheit des Autors.

Zusammenfassung

In der lyrischen Form wird etwas ausgedrückt, in der epischen etwas von jemandem für jemanden wiedergegeben und in der dramatischen etwas vor jemandem getan. Dies sind jedoch Idealtypen, die selten in reiner Form auftauchen (vgl. etwa Brechts Konzept eines ›epischen‹ Theaters).

Büchner, Georg: Lenz. Herausgegeben von Gerhard Schaub. Stuttgart 1987 (rub 8180)

Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan [1819]. Studienausgabe. Hrsg. von Michael Knaupp. Durchgesehene und bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart 2005 (rub 6785).

Platon: Der Staat. Politeia. Übersetzt und herausgegeben von Karl Vretska. Durchgesehene, verbesserte und bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart 1982 (rub 8205), S. 98, V. 394 a-c.