Lyrik: Literaturgeschichtliche Grundlagen und Analyse-Strategien

Prof. Dr. Albert Meier
Vorbemerkung

1) Literarische Formen besitzen eine ›Eigengesetzlichkeit‹, d.h. die Wahl einer literarischen Form hat Rückwirkungen auf den Gehalt bzw. Sinn eines Textes (ein bestimmter Stoff eignet sich nicht für jede Gattung)! Jonathan Culler hält hierzu fest: : »I can’t pick up my old chemistry textbook and read it as a novel.« (Culler 1997, S. 26) Als ›Roman‹ lässt sich ein Chemie-Buch in der Tat nicht lesen, wohl aber z.B. als Gedicht-Sammlung!

2) ›Gedichte‹ sind nicht immer bzw. nicht notwendigerweise ›lyrisch‹ (mit ›lyrisch‹ sind bestimmte poetische Eigenschaften gemeint, die sich auch in Dramen oder in Prosa finden können)!

3) Bei der Analyse von Lyrik geht es zuallererst um die Beobachtung von ›Unwahrscheinlichkeiten‹, d. h. von Regelmäßigkeiten (Metrik, Reim, Strophenform), wie sie in der Normalsprache nicht vorkommen.

Literaturgeschichtlicher Exkurs: Dreiteilung der literarischen Formen (›Naturformen‹) nach Goethe (1819)

»Es gibt nur drei echte Naturformen der Poesie: die klar erzählende, die enthusiastisch aufgeregte und die persönlich handelnde: Epos, Lyrik und Drama.« (Goethe 1994, S. 206) Dabei können die drei Formen durchaus gleichzeitig auftreten (vor allem in der Ballade, die epische, lyrische und dramatische Elemente vereint).

›Naturformen‹ ließen sich dementsprechend als apriorisch vorgegebene, logisch systematisierbare Dichtweisen definieren, die jeweils in unterschiedlicher Weise realisiert werden und sich insofern für historische Entwicklungen öffnen.

Zum Lyrik-Begriff

Die Antike kennt keinen Sammelbegriff für ›Lyrik‹ (nur Spezialfälle wie Dithyrambos, Rhapsodie o.Ä.); ein solcher wurde erst in der Neuzeit entwickelt; in der Romantik gilt die Lyrik als poetische Leitgattung. Der auf altgriech. ›lyra‹ (harfenartiges Zupfinstrument) zurückgehende Begriff bezieht sich ursprünglich auf Dichtungen, die zur Leier gesungen wurden (Oden, Hymnen). Im 18. Jahrhundert ist das Adjektiv ›lyrisch‹ als Analogiebildung zu ›(poésie) lyrique‹ aus dem Französischen ins Deutsche übernommen worden.

Eigenschaften von Lyrik:

• Musikalität/Singbarkeit (musikalische Qualität hat mehr Gewicht als Semantik; Primat der Form gegenüber dem Inhalt)
• Abweichungen von der Alltagssprache (Inversionen, konsistente Metrik, evtl. Reim, pathetischer Ton)
• einzige Perspektive: das lyrische Ich
• Simultaneität der einzelnen Elemente (Chronologie spielt keine Rolle; die Elemente bilden ein organisches Ganzes)
• Kürze
• Homogenität des Tons
• Absolutheitscharakter (Bezug zur Wirklichkeit (Raum und Zeit) spielt keine Rolle)

→ provisorische Definition: Lyrik ≈ singbare Dichtung

Lyrik als ›Gefühlsausdruck‹?

Goethe bestimmt Lyrik als die ›enthusiastisch aufgeregte‹ Dichtart, d.h. als Gefühlsausdruck, vgl. etwa Eduard Mörikes 1829 entstandenes Gedicht Er ist’s. Aber nicht jedes Gedicht transportiert einen Gefühlsausdruck, vgl. z.B. kontrastierend Ernst Jandls lichtung.

Er ist’s

Frühling läßt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte;
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen.
– Horch, von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja du bist’s!
Dich hab ich vernommen!

lichtung

manche meinen
lechts und rinks
kann man nicht
velwechsern.
werch ein illtum!

Seit dem 19. Jahrhundert (Edgar Allan Poe/Charles Baudelaire) gibt es eine Gegenthese zur Definition von Lyrik als ›Gefühlsausdruck‹. Gottfried Benn, der sich an die Position von Edgar A. Poe anlehnt, schreibt dazu in seinem Vortrag Probleme der Lyrik (Universität Marburg, 21.08.1951):

»[…] die Öffentlichkeit lebt nämlich vielfach der Meinung: da ist eine Heidelandschaft oder ein Sonnenuntergang, und da steht ein junger Mann oder ein Fräulein, hat eine melancholische Stimmung, und nun entsteht ein Gedicht. Nein, so entsteht kein Gedicht. Ein Gedicht entsteht überhaupt sehr selten – ein Gedicht wird gemacht. Wenn Sie vom Gereimten das Stimmungsmäßige abziehen, was dann übrigbleibt, wenn dann noch etwas übrigbleibt, das ist dann vielleicht ein Gedicht.«
(Benn  1989, S.  505/6)

Benn akzentuiert das rationale Kalkül des Autors beim Verfassen eines Gedichts. Wie bei Goethe soll der Leser in ›Aufgeregtheit‹ versetzt werden; im Unterschied zu Goethes Modell ist der Dichter bei Benn selber aber nicht ›aufgeregt‹, sondern bleibt ›kühl‹.

Einige Kategorien der Lyrik-Analyse

Jede Analyse eines Gedichtes sollte mit der Suche nach Regelmäßigkeiten in Strophen, Metrik und Reim beginnen:

Wichtigste Taktarten (›Versfüße‹)

Bei der Analyse der Taktarten (›Versfüße‹) ist der grundlegende Unterschied zwischen quantitierender und akzentuierender Metrik zu beachten. Während die Dichtung der griechisch-römischen Antike auf dem Unterschied zwischen ›langen‹ und ›kurzen‹ Silben gründet (›quantitierend‹), arbeitet die neuzeitliche Dichtung (in Deutschland seit Martin Opitz, 1624) mit der Differenz von ›betonten‹ und ›unbetonten‹ Silben (›akzentuierend‹).

Die wichtigsten Taktarten sind:
Jambus (steigend) x x́ (›Kamel‹)
Trochäus (fallend) x́ x (›Katze‹)
Anapäst (steigend) x x x́ (›Elefant‹)
Daktylus (fallend) x́ x x (›Eidechse‹)

Beispiel zur Analyse der Metrik in einem Gedicht:

Zum Reim in diesem ›realistischen‹, daher metaphernfreien Gedicht lässt sich feststellen:

• Endreime (immer betont)
• in jeder Strophe das gleiche Schema: a b a a b
• Variation zwischen 1. und 3. Strophe: ›Meer‹ wird von a zu b (bzw. f)
• Korrespondenz: Schluss von Vers 1 und Vers 15 ist identisch (›Meer‹)

Durch diese Klangkorrespondenzen wird ein musikalischer Effekt erzeugt, der die Semantik des Gedichts potenziert. Dazu kommen weitere Stilmittel, die als eine Art ›Binnenreime‹ angesehen werden können: Alliteration (vgl. “drückt die Dächer” V.3), Anapher (vgl. “Und” V. 2+4; “Du” V. 12+15) und Epipher (vgl. “Meer V. 1+4; “Stadt V. 2+5). Die Strophen bestehen aus je fünf Versen variierender Länge (diese Variationen wiederholen sich regelmäßig − Ausnahme: Vers 7). Es handelt sich insgesamt um eine freie, aber regelmäßige Strophenform.

Bei der Analyse der Metrik stellt sich grundsätzlich die Frage, ob ein eher steigender (Jamben / Anapäste) oder ein eher fallender Rhythmus (Trochäen / Daktylen) vorliegt. Auf diese Frage gibt es häufig keine eindeutige Antwort, weil die schlichte Silbenzählung eventuell dem Klangeindruck widerspricht − im vorliegenden Storm-Gedicht  ist es daher sinnvoll, die jeweils erste Silbe eines Verses als ›Auftakt‹ zu begreifen und dadurch aus der Silbenzählung herauszunehmen (Die Stadt hat einen ›fallenden‹ Rhythmus: Trochäen mit Auftakt).

Storms Gedicht wird aus biografischen Gründen oftmals auf Husum bezogen. Das ist jedoch irreführend, weil es im Text keine konkreten Hinweise darauf gibt. Durch die parallelen Oppositionen (Stadt/Meer, Einst/Jetzt, Stadt/Ich, Reizlosigkeit/Faszination) wird vielmehr eine melancholische Stimmung erzeugt, die keine Nordsee-Erfahrung voraussetzt.

Beispiele für metrische Formen

Die einzelnen Versformen sind durch eine spezifische Verwendung der Taktarten gekennzeichnet und besitzen zudem typischen Charakter für bestimmte literarische Epochen und Formen:

Alexandriner: sechs Jamben − in der Regel mit Mittelzäsur (kurze Pause in der Mitte) und paarweise gereimt. Der Alexandriner ist die dominierende Versform der französischen Dichtung und daher in deutscher Sprache überall dort gebräuchlich, wo man sich an französischen Vorbildern orientiert (speziell in der Dichtung des 17. Jahrhunderts).

Beispiel: Andreas Gryphius: Es ist alles Eitel (1637/43)

DU sihst/ wohin du sihst / nur Eitelkeit auff erden.
Was diser heute baut / reist jener morgen ein:
Woitz und Städte stehn / wird eine Wisen seyn
Auff der ein Schäfers-Kind wird spilen mit den Herden.


Hexameter: sechs Daktylen (die zu Trochäen verkürzt sein können) − ohne Reim! Der Hexameter ist die dominierende Versform antiker Epen und in der deutschen Dichtung erst im 18. Jahrhundert aufgegriffen worden.

Beispiel: Friedrich Gottlieb Klopstock: Der Messias (1751-1773)

Sing, unsterbliche Seele, der sündigen Menschen Erlösung,
Die der Messias auf Erden in seiner Menschheit vollendet,
Und durch die er Adams Geschlechte die Liebe der Gottheit
Mit dem Blute des heiligen Bundes von neuem geschenkt hat.


Pentameter (›Fünfmesser‹): Achtung: Da es im Deutschen kaum echte Spondeen (zwei lange und betonte Silben) gibt, weicht der Pentameter der deutschen Dichtung von den antiken Vorbildern ab (vgl. etwa ›Voll-Mond‹, das wir nur mit Betonung auf der 1. Silbe sprechen können: ›Vóllmond‹).

klassischer Pentameter: 2 Daktylen – 1 Spondeus – 2 Anapäste / deutscher Pentameter: 6 Hebungen! Der Spondeus wird ersetzt durch eine betonte Silbe, auf die eine Diärese (= kurze Sprechpause) folgt. Der letzte Versfuß besteht aus einer betonten Silbe.

Beispiel für einen Pentameter: Schiller: Xenien

»Aber der | große Mo- | ment || findet ein | kleines Ge- | schlecht


Blankvers: fünf Jamben ohne Reim (›blank verse‹). Der Blankvers wird in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus der englischen Dramenliteratur (Shakespeare!) in die deutsche Dichtung übernommen und bildet die dominierende Versform des ›klassischen‹ Dramas bei Lessing, Goethe und Schiller und (seit Lessings Nathan der Weise). Der Blankvers vereint vereint metrische Regelmäßigkeit und natürlichen Sprechrhythmus

Beispiel: Johann Wolfgang Goethe: Torquato Tasso (1790)
TASSO (mit einem Buche, in Pergament geheftet.)
Ich komme langsam, dir ein Werk zu bringen,
Und zaudre noch es dir zu berreichen.


Knittelvers: vier Hebungen (jambisch und trochäisch gemischt) mit Reim. Die typisch ›deutschen‹ (= nicht ›romanischen‹) Knittelverse haben seit dem Verdikt durch Martin Opitz als niedere Versform gegolten und seitdem meist nur noch in parodistischer Absicht bzw. zur Charakterisierung niederer Schichten (z. B. Bauern) Verwendung gefunden.

Beispiel: Friedrich Schiller: Wallensteins Lager (1800)

BAUERNKNABE.
Vater, es wird nicht gut ablaufen,
Bleiben wir von dem Soldatenhaufen.
Sind Euch gar trotzige Kameraden;
Wenn sie uns nur nichts am Leibe schaden.5
(Erster Aufzug, v. 1-4)


Beispiele für Strophenformen

Zentral ist die Unterscheidung zwischen den reimlosen Strophenformen der griechisch-römischen Dichtung (z. B. Ode / Hymne / Distichon) und den gereimten Strophenformen der neuzeitlichen (insbesondere italienisch-französischen) Dichtung (z. B. Sonett / Stanze). Weniger bedeutsam für die deutsche Lyrik sind dagegen ›germanische‹ (z. B. Nibelungen-Strophe / Meistersang-Strophe) und ›orientalische‹ (z. B. Ghasel) Strophenformen.


Ode: Bei der Ode handelt es sich um Vierzeiler unterschiedlicher Form, die sich nicht reimen. Die Odenform wurde vor allem in der 2. Hälfte des 18. Jh. in die deutsche Dichtung übernommen und ist in semantischer Hinsicht in Deutschland durch ihren hohen, pathetischen Ton gekennzeichnet.

Beispiel: Friedrich Gottlieb Klopstock: Der Zürchersee (1750)

Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht
Auf die Fluren verstreut, schöner ein froh Gesicht,
Das den großen Gedanken
Deiner Schöpfung noch einmal denkt.

Von des schimmernden Sees Traubengestaden her,
Oder, flohest du schon wieder zum Himmel auf,
Komm in rötendem Strahle
Auf dem Flügel der Abendluft,

[…]


Ellegischen Distichon: Als Strophenform der klassischen Antike ist das zweizeilige Distichon ungereimt und besteht ursprünglich aus einem Hexameter und Pentameter. Der eigentlich 5-hebige Pentameter wird in deutschsprachigen Distichen allerdings leicht abgewandelt: Der Pentameter ist hier ebenfalls mit 6 Hebungen versehen, wobei allerdings in der Mitte der Zeile zwei Hebungen aufeinandertreffen.

Friedrich Schiller: Das Distichon

Das Distichon

Im Hexameter steigt des Springquells flüssige Säule,
Im Pentameter drauf || fällt sie melodisch herab.


Sonett: Das Sonett besteht üblicherweise aus 14 gereimten Versen, die sich zumeist (vor allem in deutschsprachigen Form) in zwei Quartette und zwei Terzette untergliedern. Als moderne (d.h. ›nichtklassische‹) Strophenform entstand es um 1250 am Hof des Stauferkaisers Friedrich II. in Palermo und dominiert im deutschen Barock, in der Romantik sowie im Expressionismus. Auch in der zeitgenössischen Lyrik – wie bspw. bei Robert Gernhardt – findet es noch Verwendung. Im vorliegenden Beispiel sind allerdings durch − ironisierende − Enjambements (Zeilensprünge bei denen syntaktische Einheit über die Strophen- bzw. Zeileneinheit hinausgeht) die Quartette und Terzette nicht sauber voneinander getrennt.

Beispiel: Robert Gernhardt: Materialien zu einer Kritik an der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs (1981)

Sonette find ich sowas von beschissen
so eng, rigide, irgendwie nicht gut;
es macht mich ehrlich richtig krank, zu wissen,
daß wer Sonette schreibt. Daß wer den Mut

hat, heute noch so’n Scheiß zu bauen;
allein der Fakt, daß so ein Typ das tut,
kann mir echt den ganzen Tag versauen.
Ich hab da eine Sperre. Und die Wut

darüber, daß so’n abgefuckter Kacker
mich mittels seiner Wichserein blockiert,
schafft in mir Aggressionen auf den Macker.

Ich tick nicht, was das Arschloch motiviert.
Ich tick es echt nicht, will’s echt nicht wissen.
Ich find Sonette unheimlich beschissen.


Stanze: Im Gegensatz zur klassisch-italienischen Form (acht unbetont endende Elfsilbler) wird die Stanze im Deutschen ein wenig abweichend verwendet: als jambischer Fünftakter, abwechselnd betont und unbetont endend. Reimschema: ab ab ab cc.

Beispiel: Novalis: Hymnen an die Nacht Nr. 5 (1800)


Ghasel (arabisch: ›Gespinst‹): Kennzeichnend für diese orientalische Strophenform sind Langverse unterschiedlicher Zahl, die jeweils in zwei Halbverse zerfallen, wobei alle zweiten Verse durch den gleichen Reim verbunden sind (Reimschema in deutschen Ghaselen: aa ba ca da …).

Beispiel: August Graf von Platen: Ghasel Nr. 2 (1821)

Beispiel einer Analyse zur Bestimmung der Strophenform:

Georg Britting: Apfelbäume im Herbst (1942)

Apfelbäume im Herbst

Eitel macht sie es nur, daß sie auf Krücken gehn!
Schon riß blutend ein Zweig, weil ihm die Last zu schwer:
Ohne stützende Stangen
Brächten nie sie die Ernte heim.

Männer kommen wohl so aus der Gefahr zurück,
Mühsam humpelnd am Stock, lachend und rot vor Stolz:
Gerne zeigen die Sieger
Ihre glänzenden Wunden her.

a) Metrik: Prüfung der Strophen auf Regelmäßigkeit

— ∪ — ∪ ∪ — | — ∪ ∪ — ∪ —
— ∪ — ∪ ∪ — | — ∪ ∪ — ∪ —
— ∪ — ∪ ∪ — ∪
— ∪ — ∪ ∪ — ∪ —

→ Befund: Beide Vierzeiler weisen dieselbe metrische Struktur auf!

b) Kulturbereich (Kriterium: Reime oder nicht?): ›antik‹ (reimlos); ›germanisch‹ (z.B. Stabreim); ›romanisch‹ (Endreime)
→ Befund: antike Strophenform!

c) Verszahl pro Strophe

Ergebnis: Es handelt sich um eine asklepiadeische Ode.

Einige wichtige Stilmittel

a) Metapher (›Übertragung‹): Ersetzung eines Ausdrucks durch einen anderen aufgrund von semantischer Ähnlichkeit → ›uneigentlicher‹ bzw. bildhafter Ausdruck (z.B.: Motorhaube, Staatsschiff)

davon zu unterscheiden:

b) Metonymie: Ersetzung eines Wortes durch ein anderes, das zu ihm in tatsächlicher räumlicher, zeitlicher, kausaler oder ähnlicher Beziehung steht (vs.: bloßer Vergleich bei der Metapher)
z.B.: ›Autor‹ statt ›sein Werk‹ (»im Goethe lesen«), ›Gefäß‹ statt ›Inhalt‹ (»ein Glas trinken«)

Den Unterschied von Metapher und Metonymie erklärt Viktor Šklovskij in seinem Aufsatz Die Kunst als Verfahren (1916) wie folgt:

»Ich gehe auf der Straße und sehe, daß ein vor mir gehender Mann mit Schlapphut ein Päckchen fallen gelassen hat. Ich rufe ihn an: ›He, Schlapphut, du hast dein Päckchen verloren!‹ Dies ist das Beispiel eines Bildes, das eine rein prosaische Trope darstellt. Ein anderes Beispiel. Eine Abteilung von Soldaten steht in Reih und Glied. Der Zugführer sieht, daß einer von ihnen schlecht, einfach unmöglich, dasteht, und sagt ihm: ›He, Schlapphut, wie stehst du da!‹ Das ist ein Bild, das eine dichterische Trope darstellt. (In dem einen Fall war das Wort Schlapphut eine Metonymie, im anderen eine Metapher […]).« (Šklovskij 1969, S. 7/9)

c) Personifikation = Art der Metapher; Vermenschlichung von abstrakten Begriffen, Eigenschaften und leblosen Dingen (z.B. ›Mutter Natur‹; die weibliche Darstellung der ›Justitia‹ als Personifikation der Gerechtigkeit)

Benn, Gottfried: Gedichte in der Fassung der Erstdrucke. Mit einer Einführung herausgegeben von Bruno Hillebrand. Frankfurt/M. 1982 (Gottfried Benn: Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke. Vier Bände. Textkritisch durchgesehen und herausgegeben von Bruno Hillebrand), S. 29.

Benn, Gottfried: Probleme der Lyrik. In: Ders.: Essays und Reden in der Fassung der Erstdrucke. Mit einer Einführung herausgegeben von Bruno Hillebrand. Frankfurt/M. 1989 (Gottfried Benn: Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke. 4 Bände. Textkritisch durchgesehen und herausgegeben von Bruno Hillebrand), S. 505-535.

Britting, Georg: Sämtliche Werke. Bd. 1 bis 3 herausgegeben von Walter Schmitz, Bd. 4 und 5 herausgegeben von Ingeborg Schuldt-Britting. Bd. 4: Gedichte 1940 bis 1964. München – Leipzig 1996, S. 194.

Culler, Jonathan: Literary Theory. A Very Short Introduction. Oxford – New York 1997.

Goethe, Johann Wolfgang: Naturformen der Dichtung. In: Ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Herausgegeben von Friedmar Apel [u.a.]. Abteilung I: Sämtliche Werke. Bd. 3/1: West-Östlicher Divan. Herausgegeben von Hendrik Birus. Frankfurt/M. 1994 (Bibliothek deutscher Klassiker; 113), S. 206-208.

Jandl, Ernst: Gesammelte Werke. Bd. I: Gedichte 1. Herausgegeben von Klaus Siblewski. Darmstadt – Neuwied 1985, S. 249.

Mörike, Eduard: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Nach den Originaldrucken zu Lebzeiten Mörikes und nach den Handschriften. Bd. I. Mit einem Nachwort, Anmerkungen, Bibliographie und Zeittafel von Helmut Koopmann. Darmstadt 1997, S. 684.

Schiller, Friedrich: Xenien. In: Sämtliche Werke in zehn Bänden (Berliner Ausgabe). Herausgegeben von Hans-Günther Thalheim und einem Kollektiv von Mitarbeitern. Bd. I: Gedichte. Bearbeitet von Jochen Golz. Berlin – Weimar 1980, S. 289.

Schiller, Friedrich: Das Distichon. In: Sämtliche Werke in zehn Bänden (Berliner Ausgabe). Herausgegeben von Hans-Günther Thalheim und einem Kollektiv von Mitarbeitern. Bd. I: Gedichte. Bearbeitet von Jochen Golz. Berlin – Weimar 1980, S. 398.

Šklovskij, Viktor: Die Kunst als Verfahren. In: Texte der russischen Formalisten. Band I: Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. Herausgegeben von Jurij Striedter. München 1969, S. 2-35.

Braak, Ivo: Poetik in Stichworten. Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe. Eine Einführung. 7., überarbeitete und erweiterte Auflage von Martin Neubauer. Unterägeri 1990 (Hirts Stichwortbücher).

Burdorf, Dieter: Einführung in die Gedichtanalyse. 2., überarbeitete und aktualisierte Auflage Stuttgart – Weimar 1997.

Frey, Daniel: Einführung in die deutsche Metrik mit Gedichtmodellen, für Studierende und Deutschlehrende. München 1996 (UTB für Wissenschaft: Uni-Taschenbücher; 1903).

Genette, Gérard: Einführung in den Architext. Stuttgart 1990.

Meier, Albert: Lyrisch – episch – dramatisch. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Herausgegeben von Karlheinz Barck [u.a.]. Bd. 3: Harmonie-Material. Stuttgart – Weimar 2001, S. 709-723.