LEGITIMATIONSPROBLEME DER LITERATURWISSENSCHAFT

Prof. Dr. Lutz Rühling
Zweifel an der Legitimität der Literaturwissenschaft

Der Literaturwissenschaft (allgemeiner: den Geisteswissenschaften) wird oftmals – zumal in Zeiten knapper Finanzen – seitens der Politik, aber auch seitens anderer Wissenschaften (insbesondere der Naturwissenschaften) mit Skepsis begegnet.

In der Regel wird zwar nicht die Produktion und Rezeption von Kunst in Frage gestellt, wohl aber Sinn und Zweck der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Literatur. Dabei wird meistens bezweifelt, dass die Literaturwissenschaft die zwei Kriterien erfüllt, die für eine (gute) Wissenschaft (etwa die Medizin) als konstitutiv betrachtet werden:

1. Jede (gute) Wissenschaft sollte mittel- oder unmittelbar zur Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen beitragen (›praktische Wissenschaften‹).
2. Jede (gute) Wissenschaft sollte zu unserem Wissen beitragen, wie die Welt beschaffen ist (›theoretische Wissenschaften‹).

Die Einwände gegen die Literaturwissenschaft richten sich darauf, dass diese weder das erste noch das zweite Kriterium erfülle. Kritiker postulieren also, dass die Literaturwissenschaft weder zur Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen (These 1) noch zu unserem Wissen, wie die Welt beschaffen ist (These 2), beiträgt.

Zur Verteidigung der Literaturwissenschaft

Gegen These (1) sprechen akzidentelle extrinsische Gründe (= Zwecke, um deretwegen eine Tätigkeit ausgeführt wird und die selbst wieder Mittel zu anderen Zwecken sind, allerdings nicht die einzigen). Und zwar trägt Literaturwissenschaft bei zur

1. Stärkung der Argumentationsfähigkeit
2. Stärkung der schriftlichen und mündlichen Ausdrucksfähigkeit
3. Erhöhung der Sensibilität.

Nachteil dieses Arguments: Diese Gründe überzeugen nicht ganz, da diese Kompetenzen eher Nebeneffekte des literaturwissenschaftlichen Studiums sind. Wären sie Hauptzweck, müssten sie gezielter gefördert werden.

Gegen These (2) sprechen intrinsische Gründe (= Zwecke, um deretwegen eine Tätigkeit ausgeführt wird und die selbst nicht wieder Mittel zu anderen Zwecken sind): Literaturwissenschaft kann allein um der Literatur willen betrieben werden. Die Literaturwissenschaft vermittelt Wissen über die Beschaffenheit der Welt, indem sie Literaturgeschichtsschreibung betreibt, d.h. Fakten zusammenträgt, die etwa den Entstehungskontext eines Werks erschließen.

Nachteil dieses Arguments: Eine in dieser Weise auf positivistische Literaturgeschichtsschreibung reduzierte Literaturwissenschaft wäre a) langweilig und ginge b) an der literaturwissenschaftlichen Praxis vorbei, die meistens mehr leistet, als Fakten zu sammeln und zusammenzustellen.

In diesem ›Mehr‹ liegen essenzielle extrinsische Gründe zur Verteidigung der Literaturwissenschaft (= Zwecke, um deretwegen eine Tätigkeit ausgeführt wird und die selbst wieder Mittel zu anderen Zwecken sind, und zwar die einzigen oder doch die hauptsächlichen): Literaturwissenschaft beschäftigt sich mit Interpretation.

Bei der Interpretation wird der Text als eine Art Rätsel betrachtet (wobei es nicht darauf ankommt, ob und inwieweit der Autor den Text als Rätsel konzipiert hat oder ob wir als Rezipienten den Text als Rätsel konstruieren). Die Interpretation bezeichnet das Ergebnis der Rätsel-Lösung, den Versuch also, den Text unter einen Oberbegriff zu bringen, herauszufinden, was der Text exemplifiziert. Dies geschieht mit Hilfe von Kontextwissen und Theorien.

Interpretation führt zu Erkenntnissen, die wir ausschließlich bzw. hauptsächlich und in einer spezifischen Weise durch Literatur erlangen. Durch Interpretation erhalten wir etwa die Erkenntnis, dass ein Gedicht z.B. Traurigkeit ausdrückt, und zugleich die Erkenntnis, dass sich Traurigkeit gerade in dieser Weise, d.h. in einem Gedicht, manifestieren kann (wir erfahren also eine neue Facette von Traurigkeit). Das Besondere an den durch Interpretation gewonnenen Erkenntnissen liegt darin, dass sie durch Reflexion gewonnen werden.

Eine so verstandene Literaturwissenschaft trägt bei zur

1. Bildung
→ Dadurch, dass wir beispielsweise etwas über Trauer lernen, bereichern wir unsere Persönlichkeit und nehmen unsere Umwelt differenzierter wahr.

2. Psychologie
→ Durch Interpretation erkennen wir psychologische Gesetzmäßigkeiten; für viele Zeiten gibt es keine anderen als literarische Quellen, um zu erschließen, wie Menschen gelebt und gefühlt haben.

3. Soziologie
→ Durch die Beschäftigung mit Literatur lassen sich Formen des menschlichen Zusammenlebens erschließen. (Siehe hierzu auch die Einheit über Literatursoziologie)

4. Kulturwissenschaft
→ Literaturwissenschaft trägt zum Beispiel dazu bei, fremde Kulturen zu verstehen; darüber kann wiederum die eigene Kultur besser verstanden und – vor allem – relativiert werden. (Vertiefend hierzu der Einführungstext in die Cultural Studies)

5. Philosophie
→ Da sich in literarischen Texten die Frage nach dem guten Leben, nach der Auffassung von Glück etc. stellt, kann Literaturwissenschaft als Propädeutik zur praktischen Philosophie verstanden werden.

Diese Erkenntnisse lassen sich für die Literaturgeschichtsschreibung fruchtbar machen, sodass sich eine vertiefte Literaturgeschichtsschreibung ergibt. Die so in Literaturgeschichtsschreibung eingebettete Interpretation leistet einen Beitrag zur Strukturierung der Welt, zur Orientierung des Einzelnen in der (als chaotisch empfundenen) Welt.

 Zur gegenwärtigen Diskussion um die Literaturwissenschaft

Frühwald, Wolfgang [u.a.]: Geisteswissenschaften heute: eine Denkschrift. Frankfurt/M. 1996 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 973).

Griesheimer, Frank/Prinz, Alois (Hgg.): Wozu Literaturwissenschaft? Kritik und Perspektiven. Durchgesehener Nachdruck der 1. Auflage Tübingen 1992 (UTB für Wissenschaft: Uni-Taschenbücher; 1640).

Huntemann, Willi: Ist die Literaturwissenschaft (noch) eine Kunstwissenschaft? Ein metakritischer Versuch. In: CONVIVIUM 2001, S. 267-288 [direkt zur Diskussion im Schiller-Jahrbuch]. Kommt der Literaturwissenschaft ihr Gegenstand abhanden? Diskussion im Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft. Jahrgänge 42 (1998), S. 457-507, 43 (1999), S. 447-487, 44 (2000), S. 333-358.

Mittelstraß, Jürgen: Krise und Zukunft der Geisteswissenschaften. In: Natur- und Geisteswissenschaften – zwei Kulturen? Herausgegeben von Helmut Reinalter. Innsbruck [u.a.] 1999, S. 55-79.

Prinz, Wolfgang/Weingart, Peter (Hgg.): Die sog. Geisteswissenschaften: Innenansichten. Frankfurt/M. 1990 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 854).

 Zum Begriff der ›Interpretation‹

Culler, Jonathan: The Pursuit of Signs. Semiotics, literature, deconstruction. With a new preface by the author. London – New York 2001 [1981] [insbesondere Kapitel 1: »Beyond Interpretation«: kritisch zum Stellenwert der ›Interpretation‹ für die Literaturwissenschaft].

Danto, Arthur C.: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst. Übersetzt von Max Looser. Frankfurt/M. 4 1999 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 957) [The transfiguration of the commonplace: a philosophy of art. Cambridge/Mass. 1981].

Goodman, Nelson: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie. Übersetzt von Bernd Philippi. Frankfurt/M. 2 1998 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 1304) [Languages of art: an approach to a theory of symbols. London 1969] [zum Begriff der ›Exemplifikation‹].