›Gender Studies‹

Prof. Dr. Karin Hoff

Die Gender Studies (engl. ›gender‹ = ›Geschlechtsidentität‹) widmen sich der Erforschung der Geschlechterrollen und des Geschlechterverhältnisses. Sie sind interdisziplinär (berühren etwa die Gebiete der Soziologie, Psychologie und Pädagogik) und international ausgerichtet (insbesondere in den USA und in Frankreich entwickelt).

Obgleich man auch von ›Feministischer Literaturwissenschaft‹ spricht, handelt es sich bei den Gender Studies um keine weitere literaturwissenschaftliche Methode, die von anderen Ansätzen präzis zu unterscheiden wäre. Sie definieren sich hauptsächlich über ihren Gegenstand (Frauen, Weiblichkeit, Geschlechterdifferenz) und können selbst unterschiedliche Analysemethoden verwenden (z.B. sozialgeschichtlich, textimmanent, strukturalistisch, diskursanalytisch oder dekonstruktivistisch vorgehen).

Historische Wurzeln

Die historischen Wurzeln der Gender Studies liegen in der politisch motivierten Frauenbewegung, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts formiert und für die Rechte von Frauen (Wahlrecht, freie Berufswahl etc.) eingesetzt hat. In den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts hat diese Emanzipationsbewegung einen weiteren bedeutenden Schub erhalten.

Im kulturellen Bereich rückten weibliche Autoren und ein weibliches Publikum in den Blickpunkt; unter anderem entstanden Frauenbuchläden und auf Frauen konzentrierte Buchreihen.
Einen ›Meilenstein‹ der Frauenforschung bildet der Essay A Room of One’s Own (1929) von Virginia Woolf. In einem fiktiven Gedankenmodell fragt sie, ob William Shakespeare nicht eine Schwester namens Judith Shakespeare gehabt haben könnte, und richtet den Blick auf aus dem literaturgeschichtlichen Kanon ausgeschlossene Autorinnen. Laut Woolf sind Frauen zwar Gegenstand der Literatur (als literarische Figuren), nehmen aber nicht aktiv am Literaturbetrieb teil bzw. werden von diesem ignoriert.

Gegenstand der so genannten Women’s Studies ist demzufolge zunächst eine Revision der ›männlichen‹ Literaturgeschichtsschreibung. In einem – mit Woolf – ›archivwissenschaftlichen‹ Ansatz konzentrieren sie sich auf die Aufarbeitung der Geschichte weiblicher Autoren. Dabei machen sie vor allem auf den als minderwertig empfundenen sozialen und kulturellen Status von Frauen aufmerksam, etwa auf die Tatsache, dass Autorinnen oftmals gezwungen waren, unter männlichem Pseudonym zu publizieren.

Die so entstandenen ›Frauenliteraturgeschichten‹ orientieren sich teilweise an etablierten Modellen (etwa einer nationalliterarischen Darstellung), gehen aber häufig explizit international und interdisziplinär vor (vgl. Gnüg/Möhrmann), indem sie beispielsweise die sozialen und kulturellen Kontexte berücksichtigen, unter denen die Autorinnen geschrieben haben.

Zuweilen ergibt sich durch diesen veränderten Fokus auch eine andere Epocheneinteilung als in der – bislang an männlichen Autoren orientierten – tradierten Literaturgeschichtsschreibung (vgl. etwa die fünfbändige gesamtskandinavische Frauenliteraturgeschichte Nordisk kvindelitteraturhistorie. Herausgegeben von Elisabeth Møller Jensen [u.a.]. København 1993-1998).

Women’s Studies

Bevorzugter Forschungsgegenstand der Women’s Studies sind diejenigen literarischen Ausdrucks- und Repräsentationsformen, die oft von Frauen verwendet worden sind bzw. die als weiblich angesehen werden, etwa die Briefwechsel zwischen Frauen, Memoiren, Tagebücher und literarische Salons. Auch die Betrachtung der Literatur als Medium spezifisch weiblicher Lebensumstände und -erfahrungen gehört in diesen Kontext.

Darüber hinaus wird eine Neulektüre der von Männern verfassten literarischen Werke vorgenommen und das darin transportierte Frauenbild untersucht. Oftmals findet sich darin das stereotype Bild der Frau als Muse oder Opfer; demgegenüber akzentuieren die Women’s Studies andere Frauen-Modelle, etwa kämpferische Frauen wie die im Alten Testament geschilderte Judith, die den feindlichen Belagerer Holofernes enthauptet, nachdem sie mit ihm geschlafen hat.

Die Women’s Studies unterliegen einem methodischen Problem: Indem sie die Gleichstellung der Geschlechter und eine veränderte Wahrnehmung der festgeschriebenen Rollenmuster fordern, intendieren sie zwar eine Aufhebung der Differenz zwischen Mann und Frau; indem sie aber die ›weibliche‹ Seite der Literatur(geschichte) hervorheben, schreiben sie den Unterschied in gewisser Weise fort (dies hat Niklas Luhmann kritisch angemerkt).

Die Geschlechterdifferenz

Die Geschlechterdifferenz selbst nehmen die so genannten Gender Studies in den Blick. Sie unterscheiden zwischen (biologischem) sex und (kulturell/sozial bedingtem und daher historisch wandelbarem) gender:

»On the whole, Western society is organised around the assumption that the differences between the sexes are more important than any qualities they have in common. When people try to justify this assumption in terms of ›natural‹ differences, two separate processes become confused; the tendency to differentiate by sex, and the tendency to differentiate in a particular way by sex. The first is genuinely a constant feature of human society but the second is not, and its inconstancy marks the division between ›sex‹ and ›gender‹: sex differences may be ›natural‹, but gender differences have their source in culture, not nature.« (Oakley 1985, S. 189)

Waren die Women’s Studies von einer spezifischen Körperlichkeit von Frauen ausgegangen, so verstehen die Gender Studies ›Weiblichkeit‹ nicht (nur) als biologischen Status, sondern primär als soziales, psychologisches und kulturelles Konstrukt. Sie betonen also:

»Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.« (de Beauvoir 1990, S. 265).

Die Geschlechterrollen und das Geschlechterverhältnis unterliegen nach diesem Verständnis historischen Veränderungen. Die Gender Studies nehmen die Gründe des jeweiligen Geschlechterverhältnisses in den Blick und fragen nach darin virulenten Machtstrukturen (nach Strategien etwa, Frauen aus dem kulturellen Bereich auszuschließen).

In vielen Kulturen ist die Hierarchie zwischen ›männlich‹ und ›weiblich‹ schon auf der sprachlichen/rhetorischen Ebene festgeschrieben (vgl. etwa im Französischen: ›l’homme‹ = ›Mann‹; ›Mensch‹), wie bereits der deutsche Philosoph und Soziologe Georg Simmel beobachtet hat:

»Der schöne Gedanke einer menschlichen Kultur, die nicht nach Mann und Weib fragt, ist historisch nicht realisiert, der Glaube daran entstammt dem gleichen Gefühl, das in so vielen Sprachen für Mensch und Mann dasselbe Wort setzte.« (Simmel 1985, S. 161)

Der französische Anthropologe und Strukturalist Claude Lévi-Strauss hat darauf hingewiesen, dass in vielen Kulturen die Dichotomie Kultur/Natur mit der Dichotomie Mann/Frau identifiziert wird und dass der Bereich der Kultur (und damit: des Mannes) als höherwertig gilt; auch in unserem Kulturraum galt die Rolle der Frau im privaten Bereich (Stichwort: ›Hausfrau und Mutter‹) lange Zeit als minderwertig gegenüber der Rolle des Mannes im öffentlichen Bereich (z.B. im Arbeitsleben).

écriture féminine

In den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts gab es eine Diskussion darüber, ob sich die – kulturell bedingte – Differenz zwischen den Geschlechtern in einer frauenspezifischen literarischen Schreibweise, einer écriture féminine, niederschlägt.

Die in Frankreich lehrenden Literaturwissenschaftlerinnen Luce Irigaray und Hélène Cixous betonen, dass sich die u.a. in der Rhetorik beobachteten Zuschreibungen von Geschlechtern auch in der literarischen Sprache wieder finden lassen. Aufgrund der literarischen Traditionen sowie der Wirkungsmacht der (kulturell) festgeschriebenen Differenzen schreiben Männer und Frauen ihrer Ansicht nach anders (meistens wohl: unbewusstst).

Die ebenfalls in Frankreich lehrende Psychoanalytikerin und Literaturwissenschaftlerin Julia Kristeva hat in ihrer Studie zur Revolution der poetischen Sprache (La révolution du langage poétique. Paris 1974) demgegenüber untersucht, inwiefern sich weibliche Schreibweisen auch bei Männern nachweisen lassen.

Im daran anschließenden sog. Dekonstruktiven Feminismus geht es in der jüngeren Zeit darum zu zeigen, wie die gewohnte Sprechweise verschiedene, auch einander widersprechende Bedeutungen hervorbringt, die eine eindeutige Festlegung auf eine ›männliche‹ oder ›weibliche‹ Schreibweise unmöglich erscheinen lassen.

Einigkeit besteht aber darüber, dass die im kulturellen Gedächtnis und Bewusstsein verankerten Geschlechter-Bilder nicht natürlich, sondern ›gemacht‹, also konstruiert sind:

»Weiblichkeit ist keine ›natürliche‹ Kategorie, sondern eine rhetorische.« (Menke 1992, S. 441)

Die Gender Studies reflektieren die spezifischen Verfahren der Ausgrenzung bestimmter Gruppen. Daher wird gender oft im Zusammenhang mit ebenfalls hierarchisierenden und auf Ausgrenzung beruhenden Kategorien wie class und race diskutiert. Dabei wird davon ausgegangen, dass kulturelle Bedeutung über die Geschlechterdifferenz bestimmt wird.

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