Was ist Literatur? Was macht die Literaturwissenschaft?

Prof. Dr. Albert Meier
Was ist Literatur?

›Literatur‹ (im Sinne von ›Dichtung‹) ist ein ästhetischer Gegenstand, der sich ständig wandelt und daher nicht ›exakt‹ definiert werden kann. Dennoch können Merkmale benannt werden, die eine Wahrnehmung von Texten als Literatur provozieren:

a) Fiktionalität

Auch wenn Poesie zumeist (aber nicht zwangsläufig) ›mimetisch‹ = ›nachahmend‹ (von μίμησις / Mimesis = griech. ›Nachahmung‹) arbeitet und die Illusion erweckt, Menschen und deren Verhalten zu schildern, ist sie doch zuallererst in ihrer Eigengesetzlichkeit zu begreifen und darf nicht ohne konkreten Grund an den Regeln der Lebenswirklichkeit gemessen bzw. damit verwechselt werden.

Daher ist es möglich, in der Literatur Sätze zu formulieren, die in der Alltagswelt widersinnig wären. So heißt es z. B. in Thomas Hettches (*1964) Roman Nox (1995): »Da war ich längst tot«. (Hettche 1995, S. 11) Was in der materiellen Wirklichkeit undenkbar ist (dass ein Toter seiner Mörderin auf ihrem Weg durch Berlin folgt), kann trotzdem ERZÄHLT werden, weil Literatur nicht auf die Regeln der normalen Realität verpflichtet ist, sondern alternative Wirklichkeiten erfinden (FINGIEREN) darf.

Zwischen der Literatur und der Lebenswelt besteht also eine grundsätzliche Differenz, die darin gründet, dass Texte nicht aus Dingen, sondern aus ZEICHEN bestehen. Verdeutlicht wird das etwa in dem Gemälde (externer Link) Ceci n’est pas une pomme (›Das ist kein Apfel‹, 1964) von René Magritte (1898–1967), das nicht einen Apfel, sondern lediglich das BILD eines Apfels zeigt.

Schon Aristoteles hat im 9. Kapitel seiner Poetik (ca. 330 v. Chr.) bei der Unterscheidung zwischen historischen und literarischen Texten auf das wichtige Kriterium der Fiktionalität hingewiesen:

Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, daß sich der eine in Versen und der andere in Prosa mitteilt – man könnte ja auch das Werk Herodots in Verse kleiden, und es wäre in Versen um nichts weniger ein Geschichtswerk als ohne Verse –; sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte. (Aristoteles 1982, S. 29)

Literatur ist demnach immer fiktional, auch wenn sie (speziell in der Epoche des Realismus) die Lebenswelt möglichst genau wiedergeben will. In der Literatur darf deshalb ›gelogen‹ werden, ohne dass sich jemand daran stört. So fingiert etwa Shakespeare in seinem Drama The Winter’s Tale (vermutlich 1611 uraufgeführt) ein Böhmen, das am selben Meer wie Sizilien liegt. Diesen impliziten ›Pakt‹ zwischen Autor und Leser, den Anspruch auf Authentizität des Erzählten bei der Lektüre literarischer Texte zu ›suspendieren‹, beschreibt der englische Dichter Samuel Taylor Coleridge (1772-1834) mit der Formel »suspension of disbelief«.

b) Entpragmatisierung / Entfunktionalisierung

Das Kriterium der Fiktionalität reicht jedoch nicht aus, um die Eigenart von Literatur zu bestimmen. Entscheidend ist vielmehr, dass Literatur (im Sinne von Dichtung/Poesie) keinen direkten/materiellen Bezug zur Wirklichkeit hat bzw. diesen suspendiert. Wenn in Johannes Mario Simmels (1924–2009) Roman Es muß nicht immer Kaviar sein (1960) Kochrezepte eingefügt werden, so sind diese (in der Art einer Gebrauchsanweisung) zwar faktisch richtig und jeder Leser könnte nach ihrer Anleitung sachgerecht kochen. Im Kontext des Romans sind die Kochrezepte jedoch in einen speziellen ästhetischen Zusammenhang eingebettet: Wer sie dort liest, wird sie nicht als Rezepte gebrauchen (einen Roman liest man mit anderem Interesse als ein Kochbuch).

Ob ein Text ›poetisch‹ ist oder nicht, hängt mithin nicht nur davon ab, ob er fiktional ist oder nicht, sondern immer auch von dem jeweiligen Zusammenhang und den Rahmenbedingungen, die subjektiv variabel sein können: Begreift man einen Text als Handlungsanweisung oder nicht? Was ›literarisch‹ (= poetisch) ist, hängt also weniger von seiner unmittelbaren Bedeutung ab als von der Art und Weise, wie ein Leser ihn wahrnimmt: in praktischem Interesse oder nicht?

LITERARIZITÄT stellt also keine objektiv vorhandene Eigenschaft dar, sondern besteht in einem bestimmten Wahrnehmungsmodus bzw. in einer spezifischen Kommunikationssituation. Ein und denselben Text kann man daher als Gebrauchstext oder als Gedicht behandeln (je nachdem, wie bzw. ob er auf Wirklichkeit bezogen wird).

Das verdeutlicht Peter Handkes (geb.1942) Gedicht Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27. 1. 1968. Als literarisches ›ready-made‹ nach dem Vorbild der Bildenden Kunst (vgl. Marcel Duchamps Fountain) wird die fußballgeschichtlich authentische Aufstellung des 1. FC Nürnberg in einem Gedichtbuch nicht mehr direkt auf die Lebenswelt bezogen, während sie in anderem Zusammenhang (z.B. in einer Stadionzeitung) pragmatischen Wert hat (sie teilt dann mit, welcher Spieler auf welcher Position eingesetzt wird).

c) Es gibt aber objektive Eigenschaften, die eine ästhetische Wahrnehmung provozieren:

durch  Abweichung von Alltagstexten durch die grafische Anordnung (z.B. Verse). Zum Beispiel: Rolf Dieter Brinkmann: Einen jener klassischen

Einen jener klassischen

schwarzen Tangos in Köln, Ende des
Monats August, da der Sommer schon

ganz verstaubt ist, kurz nach Laden
Schluß aus der offenen Tür einer

dunklen Wirtschaft, die einem
Griechen gehört, hören, ist beinahe

ein Wunder: für einen Moment eine
Überraschung, für einen Moment

Aufatmen, für einen Moment
eine Pause in dieser Straße,

die niemand liebt und atemlos
macht, beim Hindurchgehen. Ich

schrieb das schnell auf, bevor
der Moment in der verfluchten

dunstigen Abgestorbenheit Kölns
wieder erlosch.

durch Abweichung von der Alltagssprache durch Unnatürlichkeit des Sprechens (Reim/Metrik/Inversionen etc.) Zum Beispiel: Andreas Gryphius: Einsambkeit

Einsambkeit

In dieser Einsambkeit / der mehr denn öden wüsten /
Gestreckt auff wildes Kraut / an die bemößte See :
Beschaw’ ich jenes Thal und dieser Felsen höh’
Auff welchem Eulen nur vnd stille Vögel nisten.

Hier fern von dem Pallast; weit von deß Pöbels lüsten /
Betracht ich : wie der Mensch in Eitelkeit vergeh’
Wie auff nicht festem grund’ all vnser hoffen steh’
Wie die vor abend schmähn / die vor dem tag vnß grüßten.

Die Höell / der rawe wald / der Todtenkopff / der Stein /
Den auch die zeit aufffrist / die abgezehrten bein.
Entwerffen in dem Mut vnzehliche gedancken.

Der Mauren alter grauß / diß vngebaw’te Land
Ist schön vnd fruchtbar mir / der eigentlich erkant /
Das alles / ohn ein Geist / den GOt selbst hält / muß wancken.

Folgendes lässt sich also festhalten:

Grundsätzlich lässt sich jeder Text als ›poetisch‹ = im ästhetischen Modus wahrnehmen, sofern er aus seinem lebensweltlichen Funktionszusammenhang herausgelöst, also entpragmatisiert wird. Ob etwas als Dichtung rezipiert wird, hängt nicht vom Inhalt, sondern von der Situation ab: ›Kunst‹/›Literatur‹ ist das, was ein Betrachter in einer bestimmten Situation ›als Kunst‹ (d.h. ohne direkten Bezug zur Lebenswirklichkeit) wahrnimmt.

Gleichwohl gibt es spezifische Eigenschaften von Texten, die eine ästhetische Rezeption ›als‹ Kunst nahe legen. So signalisiert insbesondere eine von der Alltagssprache abweichende Geformtheit (vgl. z. B. die Versstruktur von Rolf Dieter Brinkmanns Gedicht Einen jener klassischen) den poetischen Charakter eines Textes; Ähnliches leistet auch die symbolische Vernetzung, weil hier semantische Zusammenhänge konstruiert werden, wie sie in der Lebenswelt unwahrscheinlich sind (vgl. das Schaukel- Motiv in Fontanes Effi Briest).

Die Frage lautet nicht: Welche Eigenschaft muss ein literarischer Text haben, damit der Leser ihn als Dichtung wahrnimmt, sondern: Welche Eigenschaft muss eine Kommunikationssituation zwischen Leser und Text haben, damit der Leser den Text als Dichtung wahrnimmt?

Was ist Literaturwissenschaft?

In einer provisorischen Definition ließe sich ›Literaturwissenschaft‹ als der durch Theorie gebrochene Umgang mit Literatur verstehen. In der Terminologie der Systemtheorie von Niklas Luhmann kann Literaturwissenschaft als ›Beobachtung zweiter Ordnung‹ (›Lesen‹ = Beobachten eines Textes; ›Literaturwissenschaft‹ = Beobachtung dieses Beobachtens) beschrieben werden. Eine literaturwissenschaftliche Lektüre ist demgemäß nicht ›naiv‹; das ›Wie‹ des Textes ist grundsätzlich wichtiger als das ›Was‹.

»The main effect of theory is the disputing of ›common sense‹: common-sense views about meaning, writing, literature, experience.« (Culler  1997, S. 4)

Die Aufgabe der Literaturwissenschaft besteht also in der Komplizierung des Lesens, im Infragestellen des gesunden Menschenverstands.

Für den theoretisch reflektierten Umgang mit ›Literatur‹ stellt die Literaturwissenschaft ein weitläufiges Spektrum von Begriffen, Techniken, theoretischen Konzepten und Methoden zur Verfügung. Diese dienen zwar als Arbeitsinstrumente, müssen aber gleichwohl immer in dem Bewusstsein ihrer begrenzten Leistungsfähigkeit eingesetzt werden.

Insofern geschieht die ›wissenschaftliche‹ Lektüre als methodisch reflektiertes, d. h. rational kontrolliertes Lesen, wobei über die Wahrnehmung der Texte (Lesen als ›Beobachtung ersten Grades‹) hinaus auch die Bedingungen dieser Rezeption stets mitbedacht werden müssen (Selbstbeobachtung der Leser beim Lesen = ›Beobachtung zweiten Grades‹).

Literaturwissenschaftliche Betrachtungen besitzen selten Objektivität. Daher ist es umso zentraler, die eigene Vorgehensweise zu ›beobachten‹; auf diese Weise kann die subjektive Sicht (intersubjektiv) diskussionsfähig gemacht werden.

Literaturwissenschaft vs. Literaturkritik

Literaturwissenschaft unterscheidet sich grundsätzlich von Literaturkritik: Während Literaturkritik den Wert eines Textes zu beurteilen versucht (›gelungen‹ vs. ›misslungen‹), geht es in der Literaturwissenschaft um ganz andere Fragestellungen. Zu den Hauptaufgaben eines Literaturwissenschaftlers gehören neben der Analyse der ›Machart‹ (Erzähltechniken, Stile, Metrik, etc.) von Texten vor allem deren Auswertung und Einordnung in größere Zusammenhänge (›Literaturgeschichte‹), deren Verständnis (›Interpretation‹) sowie die Sicherung, bzw. das Herstellen und Kommentieren von zuverlässigen Textfassungen (›Edition‹).

Dabei kann auch die Literaturwissenschaft keine streng ›objektiven‹ Ergebnisse/Wahrheiten liefern. Ihre Rationalität (und damit ›Wissenschaftlichkeit‹) liegt vielmehr in der Notwendigkeit, das eigene Tun zu kontrollieren und nachvollziehbar zu begründen (Geschmacksentscheidungen müssen zumindest problematisiert werden). Insofern ist die Literaturwissenschaft keine Anwendungswissenschaft, sondern eine Reflexionswissenschaft: Statt nur zu ermitteln, ›wie‹ sich etwas verhält, hat man u.a. auch darüber nachzudenken, ›warum‹ man mit bestimmten Texten bestimmte Dinge nicht machen kann. Dabei wird in der Hauptsache nicht mehr nach dem WAS eines Textes gefragt, sondern nach seinem WIE.

Beispiel: literaturwissenschaftliche Fragestellungen

Eine unwissenschaftliche Lektüre z.B. von Theodor Storms Der Schimmelreiter (1888) versteht die Novelle als (gewiss fiktionale) Darstellung der Geschichte von Hauke Haien, der sich aus einfachen Verhältnissen zum Deichgrafen emporarbeitet und zuletzt mit seiner Familie zugrunde geht; hieran könnten sich Fragen nach einer etwaigen Schuld Hauke Haiens oder nach den gesellschaftlichen Lebensbedingungen seiner Zeit ergeben.

Eine literaturwissenschaftliche Analyse des Textes problematisiert diese Deutung hingegen: Genau besehen wird die Geschichte Hauke Haiens nicht einfach als Vorgang erzählt, sondern über drei in sich geschachtelte Erzählinstanzen mitgeteilt, was v.a. die Gültigkeit bzw. Glaubwürdigkeit der Binnengeschichte fragwürdig macht: Ein alter Mann erzählt von einer Erzählung, die er vor ca. 50 Jahren in einer Zeitschrift gelesen hat; darin ist erzählt worden, wie ein Schulmeister einem Reisenden die Geschichte von Hauke Haien erzählt hat, wobei hinzu gesagt wird, dass man diese Geschichte auch ganz anders erzählen könnte (nicht so rationalistisch-aufgeklärt, wie der Schulmeister das getan haben soll).

Es ergibt sich also bei genauerem Hinsehen eine hochkomplexe Erzählsituation, die nicht mehr erlaubt, die erzählte Geschichte beim Wort zu nehmen. Wichtiger ist vielmehr die Frage nach denjenigen Eigenschaften des Textes, die dessen einfaches Verständnis verhindern (es geht also nicht so sehr um die Geschichte als vielmehr darum, wie sie präsentiert wird: durch welche Erzähler mit welcher Gültigkeit? auf welchen Zeitebenen etc.).

Welche Ziele verfolgt das literaturwissenschaftliche Studium?

Lesen und Schreiben, d.h. den sachgerechten Umgang mit poetischen und auch nicht-poetischen Texten lernen

Erfassung und kritische Weitergabe von Informationen, Wahrnehmung von Zusammenhängen und Differenzen (Bezug auf den literaturwissenschaftlichen Forschungsdiskurs)

• Sensibilität und Präzision bei der Auseinandersetzung mit künstlerischen Gegenständen, insbesondere mit literarischen Texten (Analysekompetenzen)

Selbstreflexion über die eigene Methodik und analytische Verfahrensweise

… und zu guter Letzt: Ein erfolgreiches literaturwissenschaftliches Studium fußt maßgeblich auf der Lektüre möglichst vieler und vielfältiger Texte (auch in/aus anderen Sprachen)!

Quellennachweise:

Aristoteles: Poetik. Griechisch / Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982 (rub 7828).

Brinkmann, Rolf Dieter: Einen jener klassischen. In: Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1 & 2. Gedichte. Reinbek bei Hamburg 1975, S. 25.

Culler, Jonathan: Literary Theory. A Very Short Introduction. Oxford – New York 1997.

Gryphius, Andreas: Einsambkeit. In: Andreas Gryphius: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Herausgegeben von Marian Szyrocki und Hugh Powell. Bd. 1: Sonette. Herausgegeben von Marian Szyrocki. Tübingen 1963 (Neudrucke deutscher Literaturwerke; N.F. 9), S. 68.

Handke, Peter: Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27.1.1968. In: Ders.: Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt. Frankfurt am Main 1969 (edition suhrkamp 307), S. 59.

Hettche, Thomas: Nox. Roman. Frankfurt am Main 1995.

Simmel, Johannes Mario: Es muß nicht immer Kaviar sein. Zürich 1984.

 

Zu wissenschaftstheoretischen Grundlagen:

Helmut Balzert, Marion Schröder, Christian Schäfer: Was ist Wissenschaft? In: Wissenschaftliches Arbeiten. Ethik, Inhalt & Form wiss. Arbeiten, Handwerkszeug, Quellen, Projektmanagement, Präsentation. 2. Aufl. Berlin, Dortmund 2011, S. 5-49.

Habermas, Jürgen: “Philosophie und Wissenschaft als Literatur?”, in: Ders.: Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Ansätze. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1968, S. 242-263.

Harald Fricke: »Erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Grundlagen«. In: Thomas Anz (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Band 2: Methoden und Theorien. Stuttgart/ Weimar 2007, S. 41-54.

Zur Literaturwissenschaft

Alo Allkemper, Norbert O. Eke: Methoden der Literaturwissenschaft. In: Literaturwissenschaft. 7. Aufl. Paderborn 2021.