Dramen-Analyse

Prof. Dr. Albert Meier
Definitionsversuche

Aristoteles definiert das Drama (am Sonderfall der Tragödie) als Nachahmung (Mimesis) nicht von »Menschen, sondern von Handlung und von Lebenswirklichkeit« (Aristoteles  1991, S. 21 – 6. Kapitel). Goethe wiederum (1819) definiert das ›Drama‹ als die »persönlich handelnde« Naturform der Poesie (vgl. Goethe  1994, S. 206). Zentrales Charakteristikum ist ›Präsenz‹ der Akteure: ihr Sprechen und/oder Handeln ereignet sich unmittelbar, d.h. nicht in Abhängigkeit von einer höheren Ordnungsinstanz (sinngemäß: der Autor ist ›abwesend‹, seine Figuren aber sind gegenwärtig). Das Drama ›zeigt‹ somit etwas (bzw. ›führt vor‹), während in der Lyrik ein Ich ›spricht und in der Epik ein Erzähler ›berichtet‹. (vgl. auch die Einheit zu den literarischen Grundformen).

Wortgeschichte

›Drama‹ (sinngemäß: ›Schauspiel‹) kommt von griech. δρὰμα (dráma: ›Tat‹, das auf das Verb δραν (›Hände betätigen‹/›tun‹) zurückgeht).

In der Alltagssprache meint ›Drama‹/›dramatisch‹ ein krisenhaft zugespitztes, sehr ernstes (eventuell tödliches) Ereignis, das für die betroffenen Personen mit erheblichem Leid/Schmerz verbunden ist und auch – an sich unbeteiligte – Dritte heftig berührt (Bsp.: ›Ehedrama‹/›Drama im englischen Königshaus‹). Als literaturwissenschaftlicher Terminus meint ›Drama‹ heute den Oberbegriff, der die unterschiedlichen Dramenformen zusammenfasst (›Drama‹ = Tragödie + Komödie + Mischformen etc.).

Kurze Dramen-Geschichte
Griechisches Altertum

Entwicklungsgeschichte: Unter nach wie vor ungeklärten Umständen ist die Tragödie offenbar im Zusammenhang mit Dionysos-Riten entstanden, d.h. aus (rauschhaften) Chor-Gesängen hervorgegangen (Etymologie von ›Tragödie‹: Bocksgesang). – Die eigentliche Geburt des ›Dramas‹ ist darin zu sehen, dass dem Chor ein Schauspieler (Protagonist) als Dialog-Partner gegenübergestellt wurde; diese Leistung soll 534 v. Chr. – der historisch freilich nicht fassbare – ›Thespis‹ vollbracht haben.

Die drei ›Klassiker‹ der ›attischen Tragödie‹ haben die Konstellation ›Chor/Protagonist‹ weiter differenziert: Aischylos (525/4-456/5 v. Chr.) hat einen zweiten Schauspieler (Deuteragonist) eingeführt. Er kann somit als erster Dramatiker gelten, der das zuvor übliche Bühnenpersonal (Rezitator + Chor) um einen Schauspieler erweiterte und so die Basis für eine dramatische Handlung schuf.  Sophokles (497/6-406/5 v. Chr.) etabliert einen dritten Schauspieler (Tritagonist) ; Euripides (ca. 480-ca. 406 v. Chr.) hat die Figuren psychologisch verfeinert bzw. ›natürlicher‹ gemacht.

Soziale Funktion der Tragödie: Zentrale Leistung des griechischen Theaters war die Vermittlung von Gemeinschaftserfahrungen: Tagelange Aufführungen (immer von Musik begleitet) ließen mythische Geschichten als Historien gegenwärtig werden und diese in ihrer ebenso lokalen wie aktuellen Relevanz erleben – solche Kollektiv-Ereignisse waren elementar für das Identitätsbewusstsein als Bürger einer bestimmten Stadt.

Aufführungspraxis: Tragödien wurden in der Regel als Tetralogien aufgeführt: Auf drei Tragödien, die stofflich zusammenhingen (vgl. die Orestie des Aischylos), folgte ein abschließendes Satyr-Spiel, das einen derb-obszönen Kontrapunkt zum Tragödien-Pathos setzte.

Komödien: Die Komödie geht auf Phallos-Kulte zurück, karikiert die menschliche Triebhaftigkeit und führt satirische Gegenwartssituationen vor. In ihrer Konzeption lässt sich die Komödie ex negativo aus der Tragödie ableiten: Während die Tragödie historisch entlegene Handlungen (Mythen) gestaltet, zeigt die Komödie die konkrete Lebenswirklichkeit der Gegenwart; statt der tragischen ›Idealisierung‹ übertreibt die Komödie die Bedingungen des Alltagsrealismus; im Unterschied zur Pathos/Katharsis-Strategie der Tragödie zielt die Komödie durch Karikatur (= ›negative‹ Idealisierung: Übertreibung des Falschen) auf Satire und Gesellschaftskritik. Der griechische Komödien-Klassiker ist Aristophanes (ca. 445–ca. 385 v. Chr.); eine Komödien-Theorie ist aus dem griechischen Altertum nicht überliefert (die Poetik des Aristoteles ist nur fragmentarisch erhalten – Kapitel zur Komödie sind offenbar verloren).

Die aristotelische ›Katharsis‹-Idee

Tragisch ist das Schicksal eines trotz seiner hamartia (Mangel/Schwäche) sittlich hoch stehenden Helden, der gerade seiner moralischen Überlegenheit wegen zwangsläufig in einen elementaren Konflikt widersprüchlicher Pflichten gerät: Orest muss beispielsweise seinen Vater rächen, kann dies aber nur durch den Mord an seiner Mutter tun – die Erfüllung der einen sittlichen Pflicht bedingt also zugleich den Verstoß gegen eine andere, gleichrangige Pflicht.

Dieser tragische Konflikt hat bei den beteiligten Figuren pathos (Leiden/Schmerz) zur Folge, was bei den Zuschauern die beiden – sehr heftigen – tragischen Affekte phobos (Schaudern) und eleos (Jammer) hervorruft.

Katharsis meint (dem derzeitigen Konsens in der Altphilologie zufolge) die Reinigung der Zuschauer von ihrer Anfälligkeit für die tragischen Affekte ›phobos‹/›eleos‹: Indem man diese Affekte sehr heftig durchlebt, reagiert man sich zugleich ab, woraus eine seelische Stabilisierung resultiert (vgl. den gesundheitsfördernden Effekt einer Purgation durch Abführmittel, der ebenfalls als ›Katharsis‹ bezeichnet wurde).

»Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, wobei diese formenden Mittel in den einzelnen Abschnitten je verschieden angewandt werden – Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt.« (Aristoteles 1991, S. 19 – 6. Kapitel)

Neuzeitliche Dramengeschichte

Die Renaissance (ungefähr ab dem 16. Jh.) greift auf das antike Theater zurück und entwickelt daraus dramaturgische Vorschriften für die modernen Autoren. Dabei wird vor allem der Versuch unternommen, die – eigentlich bloß deskriptive – Poetik des Aristoteles ›normativ‹ auszudeuten, d.h. daraus verbindliche ›Regeln‹ abzuleiten.

Das gilt insbesondere für die so genannten aristotelischen Einheiten der Handlung, des Ortes und der Zeit, die in Lodovico Castelvetros Poetica d’Aristotele vulgarizzata, et sposta (Poetik des Aristoteles, in die ›italienische‹ Volkssprache übertragen und kommentiert. Wien 1570) vorbereitet worden sind: Dramen müssen demzufolge eine Haupthandlung aufweisen (Neben-Handlungen dürfen nicht gleichrangig sein, sondern als ›Episoden‹ untergeordnet bleiben), sich innerhalb eines begrenzten Raumes abspielen (z.B.: in einer Stadt) und nur eine relativ kurze Zeitspanne umfassen (möglichst nicht mehr als einen Tag).

Der französische Klassizismus (doctrine classique) führt die Ansätze der italienischen Renaissance-Poetik weiter und entwickelt ein streng rationales Regel-System, das als unbedingt verbindlich gilt (vgl. das Zentral-Postulat aus Nicolas Boileau-Despréaux’ IX. Épître: »rien n’est beau que le vrai« = »nur das Wahre ist schön«, d.h. das, was ›vernünftig‹ motiviert ist).

Die Leit-Begriffe der ›doctrine classique‹ sind vraisemblance und bienséance:  vraisemblance bezeichnet die Verpflichtung des Theaters auf ›Wahr-Scheinlichkeit‹, d.h. auf die Illusion von ›Wahrheit‹. – Damit ist allerdings kein ›Realismus‹ im Sinne einer Übereinstimmung von trivialer Lebenswirklichkeit und dramatischer Darstellung gemeint, sondern die ›vernünftige‹ Gestaltung von Dramenhandlungen (alles muss kausal motiviert und daher auch rational kontrollierbar sein).

bienséance hingegen bezeichnet die Verpflichtung des Theaters auf ›Wohl-Anständigkeit‹ (vgl. das rhetorische Postulat des aptum bzw. decorum).  Auf der Bühne darf nur gezeigt werden, was den ›guten Sitten‹ der aristokratischen Gesellschaft konform ist – das gilt sowohl für generelle Normen wie die Ständeklausel (dass Tragödien-Handlungen an Fürstenhöfen lokalisiert sein müssen und nichthöfisches Personal nur in Komödien auftreten darf) als auch für Detail-Probleme der Sittlichkeit (in der Hochstil-Form der Tragödie darf z.B. von körperlichen Bedürfnissen keine Rede sein klassische Dämpfung).

Die dramaturgischen ›Regeln‹ des französischen Klassizismus sind zusammengefasst in La Pratique du Théâtre von François Hédelin, Abbé d’Aubignac (Paris 1657), die u.a. dem Dramenwerk Pierre Corneilles (1606-1684) zugrunde lag und auch in Deutschland bis weit ins 18. Jahrhundert hinein Gültigkeit besaß (z.B. für Gottsched).

Wichtigstes Ereignis der deutschen Dramen-Entwicklung im 18. Jahrhundert ist die Umorientierung vom Vorbild des französischen Klassizismus (Corneille/Molière/Racine/ Voltaire) zum neuen Muster ›Shakespeare‹. – Der Regelpoetik à la française wird ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das nicht-regelmäßige, folglich sinnlich intensivere und ›freiere‹ Theater der englischen Tradition entgegengehalten, das insbesondere das bienséancePrinzip nicht kennt:

Distanzierung von den ›aristotelischen Einheiten‹

 Umstellung von der Regelpoetik auf die ›Genie‹-Ästhetik (ein ›Genie‹ braucht keine Regeln und schafft dennoch faszinierende Werke)

 Sensualisierung des Theaters (in Abkehr vom französischen Rationalismus)

Vgl. hierzu u.a. Johann Gottfried Herders Invektive (1773) gegen die ›Einheit der Zeit‹, d.h. die Verpflichtung auf Dramenhandlungen, die in der Realität nicht länger als 12 bzw. 24 Stunden beanspruchen dürften:

»Hast du denn, gutherziger Uhrsteller des Drama, nie Zeiten in deinem Leben gehabt, wo dir Stunden zu Augenblicken und Tage zu Stunden; Gegenteils aber auch Stunden zu Tagen, und Nachtwachen zu Jahren geworden sind?« (Herder 1993, S. 517)

Wichtige Begriffe für die Analyse klassischer Dramen
Tragik oder ein tragischer Konflikt bestehen in einem unausweichlichen Konflikt zwischen zwei Rechtsprinzipien, die keine Versöhnungsmöglichkeit zulassen (Bsp.: Aischylos’ Orestie).

Peripetie (›Umkehr‹/›Wendepunkt/›Glückswechsel‹): Umkippen der Handlung (z.B. durch ›Anagnorisis‹), woraus dann der gute oder schlechte Ausgang  (Katastrophe) folgt.

Anagnorisis (»Ent-ver-kennung«)= topisches Handlungselement in klassizistischen Tragödien: eng zusammengehörige Figuren begegnen sich in einer krisenhaften Konfliktsituation bzw. erkennen sich in ihrer wahren Identität, woraus sich die Auflösung ergib (vgl. Goethes Iphigenie auf Tauris: Iphigenie erkennt in einem gefangenen Griechen, den sie als Priesterin opfern soll, ihren Bruder Orest: »zwischen uns sei Wahrheit«).

Botenbericht und Teichoskopie: Bei der Teichoskopie (›Mauer-Schau‹) beobachtet eine Figur gewissermaßen ›hinter der Bühne‹ – einen wichtigen Vorgang, den das Publikum nicht sehen kann, und schildert ihn in der Art eines ›Live‹-Berichts. Dieser poetische Trick dient entweder zur Umgehung technischer Probleme (an sich Nicht-Darstellbares, z.B. eine Schlacht, wird indirekt doch dargestellt) oder zur Steigerung der Affekt-Intensität (vgl. den höheren Affekt-Wert einer Fußball-Reportage im Radio im Vergleich zur Fernseh-Übertragung).Bei der Mauerschau ereignet sich das Erzählte gerade, beim Botenbericht ist es bereits geschehen. Hier tritt eine Figur als Bote auf, die von einem Ereignis in zeitlicher und räumlicher Distanz zur gespielten Gegenwart berichtet. Vgl. für eine Mauerschau Friedrich Schillers Die Jungfrau von Orléans (1801):

ISABEAU (zu einem Soldaten.)
Steig auf die Warte dort, die nach dem Feld
Hin sieht, und sag uns, wie die Schlacht sich wendet.
(Soldat steigt hinauf)
ISABEAU. Was siehest du?
SOLDAT. Schon sind sie aneinander.
Ein Wütender auf einem Barberroß,
Im Tigerfell, sprengt vor mit den Gendarmen.
JOHANNA.
Das ist Graf Dunois! Frisch, wackrer Streiter!
Der Sieg ist mit dir!
SOLDAT. Der Burgunder greift
Die Brücke an.
ISABEAU. Daß zehen Lanzen ihm
Ins falsche Herz eindrängen, dem Verräter!
SOLDAT.
Lord Fastolf tut ihm mannhaft Widerstand.
Sie sitzen ab, sie kämpfen Mann für Mann,
Des Herzogs Leute und die unsrigen.«

Stichomythie (›Zeilen-Rede): Dialog von Figuren, wobei Zeile/Vers für Zeile/Vers ein Sprecherwechsel stattfindet, was der rhetorischen Intensivierung dient. Vgl. folgende Passage aus Goethes ›klassizistischem‹ Schauspiel Torquato Tasso (V. 1397-1405):

TASSO. Bist du ein Edelmann wie ich, so zeig’ es.
ANTONIO. Ich bin es wohl, doch weiß ich wo ich bin.
TASSO. Komm mit herab, wo unsre Waffen gelten.

ANTONIO. Wie du nicht fordern solltest, folg ich nicht.
TASSO. Der Feigheit ist solch Hindernis willkommen.
ANTONIO. Der Feige droht nur, wo er sicher ist.
TASSO. Mit Freuden kann ich diesem Schutz entsagen.
ANTONIO. Vergib dir nur, dem Ort vergibst du nichts.
TASSO. Verzeihe mir der Ort daß ich es litt.

Analytisches Drama vs synthetisches Drama: Im analytischen Drama entsteht der entscheidende Konflikt des Dramas vor der gezeigten Handlung, so dass der Ausgang von vornherein determiniert ist (Bsp.: Sophokles‘ König Ödipus und Kleists Der zerbrochene Krug). Die Dramenhandlung dreht sich in diesem Fall um das des ursprünglichen Konflikts. Im synthetischen Drama entsteht der Konflikt in der gezeigten Entwicklung der Handlung, so dass sein Ausgang erst aus dem handlungsverlauf resultiert (Bsp.: Sophokles’ Antigone und Lessings Emilia Galotti).

Primat der Handlung/Primat des Charakters (plot driven character driven): Im ›klassizistischen‹ Drama herrscht ein ›Primat der Handlung‹ (vgl. Aristoteles’ Definition, die Tragödie sei ›keine Nachahmung von Menschen‹), d.h. die Wirkung erschließt sich über den Handlungsverlauf und speziell die Auflösung; in der Tradition Shakespeares orientiert sich das sensualistische Theater seit Diderot und Lessing demgegenüber am ›Primat des Charakters‹: die Wirkung ist über Empathie vermittelt, weil sich der Zuschauer in die psychologisch differenzierten ›Charaktere‹ einfühlen und mit diesen ›mit-leiden‹ kann.

Motivierung: Des Weiteren ist die Frage der Motivierung bzw. Kausalität der Handlung (der Figuren) entscheidend: Über das Mittel der Motivierung lässt sich beispielsweise das Zuschauerinteresse für eine Figur steigern/mindern (Sympathiesteuerung).

›Figur‹ und ›Charakter‹: Um die Figur vom Charakter zu unterscheiden, empfiehlt es sich der Blick auf die jeweilige Beschaffenheit: ›Figuren‹ sind nicht motiviert, ›Charaktere‹ hingegen besitzen eine psychologische Tiefen-Dimension. Zu fragen wäre demnachErfährt man etwas über die Vorgeschichte bzw. die Rahmenbedingungen des Handelns einer Dramenfigur oder nicht? ⇒ Figuren sind einfach so, wie sie sind – Charaktere sind in ihrer Besonderheit begründet und also so geworden; sie können daher auch empathetisch verstanden werden (d.h. durch ›Einfühlung‹). Während der Zuschauer zu einer Figur keinen direkten Kontakt aufbauen kann, ist ihm dies bei einem Charakter möglich. Da man etwas über seine Vorgeschichte u.ä. erfährt, wird das Verhalten eines Charakters psychologisch nachvollziehbar.

Informationsverteilung: Ein zentraler Aspekt der Dramen-Analyse ist die Frage der Informationsverteilung: Weiß das Publikum mehr als die Bühnenfiguren oder genauso viel bzw. weniger? Lessing hat in der Hamburgischen Dramaturgie (1767) dafür plädiert, Spannung durch ein Mehrwissen des Publikums zu erzeugen.

»Es ist wahr, unsere Überraschung ist größer, wenn wir es nicht eher mit völliger Gewissheit erfahren, dass Aegisth Aegisth ist, als bis es Merope selbst erfährt. Aber das armselige Vergnügen einer Überraschung! Und was braucht der Dichter uns zu überraschen? Er überrasche seine Personen, so viel er will; wir werden unser Teil schon davon zu nehmen wissen, wenn wir, was sie ganz unvermutet treffen muss, auch noch so lange vorausgesehen haben. Ja, unser Anteil wird um so lebhafter und stärker sein, je länger und zuverlässiger wir es vorausgesehen haben.« (Gotthold Ephraim Lessing – Hamburgische Dramaturgie, 48. Stück).

Nähe und Distanz: Zu unterscheiden sind in Bezug auf den Publikumskontakt die Dramaturgie der Distanz und die Dramaturgie der Nähe. Die Dramaturgie der Nähe lässt eine Identifikation mit den Figuren zu und arbeitet dafür mit dem Mittel der Einfühlung (Empathie). Diesem Ideal entspricht insbesondere die Gattung des ›bürgerlichen Trauerspiels‹ (Bsp.: Lessings Miss Sara Sampson)Die Dramaturgie der Distanz vermeidet mittels der Be-/Verwunderung (admiratio) eine Identifikation. Diesem Vorgehen entspricht wiederum das ›heroische Trauerspiel‹ (Bsp.: Gottscheds Sterbender Cato, Textausschnitt unten im Reiter Zitate).  In der Konsequenz herrscht im Fall der Dramaturgie der Distanz der Primat der Handlung vor, im Fall der Dramaturgie der Nähe der Primat des Charakters.

Poetische Gerechtigkeit ist dann gegeben, wenn sich das Ende eines Dramas mit geltenden moralischen Normen und Rechtsvorstellungen deckt (z.B. in Schillers Die Räuber im Unterschied zu Lessings Emilia Galotti).

Dauer: Entscheidend bei der Dramen-Analyse ist die Unterscheidung zwischen der Dauer der Aufführung und der Dauer der vorgeführten Handlung.

geschlossene und offene Form: Gustav Freytag beschreibt die abstrakte Gliederung einer Handlung im Drama in Form eines ›pyramidalen Baus‹. In Die Technik des Dramas (1863) benennt er deren Teile den fünf Akten entsprechend als

1. Exposition (Problemformulierung)

2. Steigerung (Konflikt ergibt sich)

3. Klimax (Wende-/Höhepunkt)

4. Umkehr/Peripetie (eventuell mit retardierendem Moment, Fall)

5. Katastrophe

Dies gilt im Großen und Ganzen für das sogenannte geschlossene bzw. ›tektonische‹ Drama, das von einem stetigen Zeitablauf und der Einhaltung der Ordnung geprägt ist (als technisches Mittel steht hierbei die ›liaison des scènes‹ = Verknüpfung der Auftritte zur Verfügung). Dem entgegen steht das ›atektonische‹ bzw. offene Drama. Gerade im postdramatischen Theater (wie z.B. von Samuel Beckett oder Heiner Müller) wird bewusst auf Kontinuität und Kausalität verzichtet (ebenso wie auf die Konstruktion von Charakteren).

Zusammenfassung

Die ›aristotelischen Einheiten‹ von Ort, Zeit und Handlung  sind vor allem für die Dramenproduktion des 17. bis 19. Jahrhunderts entscheidend. Während das Theater seit dem 18. Jh. auf Illusion setzt und versucht die Zuschauer vergessen zu lassen, dass sie im Theater sind, arbeitet modernes Theater immer wieder mit Mitteln der Illusionsbrechung. So spielen in Bertolt Brechts Konzeption des epischen Theaters‹ die konsequente Störung der Illusion und die Vermeidung von Täuschung eine entscheidende Rolle. Mittels sogenannter Verfremdungseffekte (V-Effekte) soll stets die Theatersituation bewusst gehalten werden.

»Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden, heißt zunächst einfach, dem Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte, Einleuchtende zu nehmen und über ihn Staunen und Neugierde zu erzeugen.« (Bertolt Brecht – Über experimentelles Theater (1939)

Episches Theater arbeitet konsequent anti-aristotelisch. (Vgl. auch Brechts Glosse für die Bühne im Reiter Zitate).

Johann Christoph Gottsched – Sterbender Cato (1732) Zweiter Aufzug, 3. 4. Auftritt

ARSENE.
Umsonst, Domitius. Doch welch ein Ungelücke!
Pharnaz erscheint allhier. Verdrießliches Geschicke!
Domitius geht ab.
Der vierte Auftritt.
Arsene. Phönice. Pharnaces.

PHARNACES.
Vernimm mich, Königinn, und fleuch mich nicht so sehr!

ARSENE.
Verfolgst du mich auch hier? und quälst du mich noch mehr?
Erweckt des Bruders Tod und ein gerechtes Sehnen,
Das meine Brust erfüllt, mir nicht schon tausend Thränen?
Heinrich von Kleists – Penthesilea (1808)
Inzwischen schritt die Königin heran,
Die Doggen hinter ihr, Gebirg und Wald
Hochher, gleich einem Jäger, überschauend;
Und da er eben, die Gezweige öffnend,
Zu ihren Füßen niedersinken will:
Ha! sein Geweih verrät den Hirsch, ruft sie,
Und spannt mit Kraft der Rasenden, sogleich
Den Bogen an, daß sich die Enden küssen,
Und hebt den Bogen auf und zielt und schießt,
Und jagt den Pfeil ihm durch den Hals; er stürzt:
Ein Siegsgeschrei schallt roh im Volk empor.
Jetzt gleichwohl lebt der Ärmste noch der Menschen,
Den Pfeil, den weit vorragenden, im Nacken,
Hebt er sich röchelnd auf, und überschlägt sich,
Und habt sich wiederum und will entfliehn;
Doch, hetz! schon ruft sie: Tigris! hetz, Leäne!.
Hetz, Sphinx! Melampus! Dirke! Hetz, Hyrkaon!
Und stürzt – stürzt mit der ganzen Meut, o Diana!
Sich über ihn, und reißt – reißt ihn beim Helmbusch,
Gleich einer Hündin, Hunden beigesellt,
Der greift die Brust ihm, dieser greift den Nacken,
Daß von dem Fall der Boden bebt, ihn nieder!
Er, in dem Purpur seines Bluts sich wälzend,

Rührt ihre sanfte Wange an, und ruft:
Penthesilea! meine Braut! was tust du?
Ist dies das Rosenfest, das du versprachst?
Doch sie – die Löwin hätte ihn gehört,
Die hungrige, die wild nach Raub umher,
Auf öden Schneegefilden heulend treibt;
Sie schlägt, die Rüstung ihm vom Leibe reißend,
Den Zahn schlägt sie in seine weiße Brust,
Sie und die Hunde, die wetteifernden,
Oxus und Sphinx den Zahn in seine rechte,
In seine linke sie; als ich erschien,
Troff Blut von Mund und Händen ihr herab.


Bertolt Brecht – Glosse für die Bühne (zur Uraufführung von Trommeln in der Nacht an den Münchner Kammerspielen, 29. 9. 1922)

»Diese Komödie wurde in München nach den Angaben Caspar Nehers vor folgenden Kulissen gespielt: Hinter den etwa zwei Meter hohen Pappschirmen, die Zimmerwände darstellten, war die große Stadt in kindlicher Weise aufgemalt. Jeweils einige Sekunden vor dem Auftauchen Kraglers glühte der Mond rot auf. Die Geräusche wurden dünn angedeutet. Die Marseillaise wurde im letzten Akt durch ein Grammophon gespielt. […] Es empfiehlt sich, im Zuschauerraum einige Plakate mit Sprüchen wie ›Glotzt nicht so romantisch‹ aufzuhängen.«

 

Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1991.

Goethe, Johann Wolfgang : Naturformen der Dichtung. In: Ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Herausgegeben von Friedmar Apel [u.a.]. Abteilung I: Sämtliche Werke. Bd. 3/1: West-Östlicher Divan. Herausgegeben von Hendrik Birus. Frankfurt/M. 1994 (Bibliothek deutscher Klassiker; 113), S. 206-208.

Herder, Johann Gottfried: Shakespear. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Herausgegeben von Günter Arnold [u.a.]. Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur. 1767-1781. Herausgegeben von Gunter E. Grimm. Frankfurt/M. 1993 (Bibliothek deutscher Klassiker; 95), S. 498-521.

Brauneck, Manfred: Die Welt als Bühne: Geschichte des europäischen Theaters. Bd. 1-3. Stuttgart [u.a.] 1993-1999.

Bray, René: La formation de la doctrine classique en France. Paris 1966.