Antike Poetiken

Prof. Dr. Albert Meier

Antike Poetiken liegen allen späteren Literaturtheorien zugrunde und stellen somit ein unverzichtbares Basiswissen für Literaturwissenschaftler dar. Generell kann ›Poetik‹ als ›Theorie der Dichtung‹ verstanden werden; insofern bildet sie heute einen Teilbereich der ›Ästhetik‹ (= Philosophie der Kunst). Poetiken können sowohl normativ als auch deskriptiv sein. Zu ihren Hauptthemen zählen der Ursprung von Dichtung, deren gesellschaftliche Legitimation und Verhältnis zur Realität, die Definition und Hierarchisierung von Gattungen sowie die Formulierung von Regeln.

Die vier wichtigsten Kunst- bzw. Dichtungstheoretiker der klassischen Antike sind Platon, Aristoteles, Horaz und ›Longin‹. (Mit ›Longin‹ ist ein griechischer Anonymus gemeint, den man früher fälschlicher Weise mit Longinos identifiziert hat. Sein Text Peri hypsous (wörtlich: Über das Hohe) ist nur vage in das Jahr 40 n.Chr. zu datieren.) Die erste ›Poetik‹ im eigentlichen Sinne stammt von Aristoteles (384-322), der aber bereits auf Platons (428/27-348/47) Grundsatzkritik an Dichtung reagiert.

Platon

Platons Auffassung von Dichtung greift die Enthusiasmus-Theorie des Demokritos von Abdera (460-270 v.Chr.) auf. Aus dessen Behauptung, niemand könne »ohne Begeisterung und einen gewissen Wahnsinn« gut dichten, zieht Platon jedoch die Konsequenz, Dichtung als etwas Irrationales und damit als Gefahr für den Staat anzusehen.

Sokrates zu Ion:
»Denn ein leichtes Wesen ist ein Dichter und geflügelt und heilig, und nicht eher vermögend zu dichten, bis er begeistert worden ist und bewusstlos und die Vernunft nicht mehr in ihm wohnt. Denn so lange er diesen Besitz noch festhält, ist jeder Mensch unfähig zu dichten oder Orakel zu sprechen.« (Ion, 534 b)

Zum Verständnis von Platons Gedankengang ist seine Ideenlehre zu berücksichtigen: Die Dinge der konkreten, materiellen Welt werden − ihrer Vergänglichkeit wegen − nur als ›Abbilder‹ der ewigen, unveränderlichen Ideen (›Urbilder‹) verstanden. Weil Künstler insofern immer nur reale Dinge nachahmen, sind ihre Schöpfungen bloße ›Nachbilder‹ der ›Abbilder‹ − sie stehen also in einem noch größeren Abstand zu den ›Ideen‹. Außerdem erfinden die Dichter ›Lügen‹ über die Götter, weil sie diese gar zu vermenschlicht darstellen.

Aber auch in der Erregung allzu heftiger sinnlicher Wirkungen sieht Platon eine erhebliche Gefahr und hat daher in seinem idealen Staat (vgl. Politeia) keinen Platz für Dichter. Im realen Staat ist es seiner Ansicht nach erforderlich, die Künste streng zu kontrollieren.

Aristoteles

Die Poetik (ca. 335 v.Chr.) des Aristoteles ist als eine Reaktion auf Platons Verdikt gegen die Dichtung zu verstehen. Seine Poetik stellt die wirkungsmächtigste poetologische Schrift überhaupt dar, hat ihre Wirkung aber erst seit der Renaissance voll entfaltet. Bis ins späte 18. Jahrhundert hinein liegt die aristotelische Poetik insbesondere allen europäischen Dramentheorien (speziell für die Tragödienregeln) zugrunde. Erst die Genie-Theorie des 18. Jh. verdrängt sie und relativiert ihre Verbindlichkeit.

Aristoteles vertritt folgende Hauptthesen: Zunächst versteht er Nachahmung als ein angeborenes Grundbedürfnis des Menschen.

»Allgemein scheinen zwei Ursachen die Dichtkunst hervorgebracht zu haben, und zwar naturgegebene Ursachen. Denn sowohl das Nachahmen selbst ist den Menschen angeboren […] − als auch die Freude, die jedermann an Nachahmungen hat.« (Aristoteles 1999, S. 11).

Für Aristoteles ist damit aber kein grundsätzliches Wahrheitsproblem verbunden, weil er die platonische Ideenlehre nicht anerkennt. Aristoteles betont vielmehr die Differenz von ›Geschichtsschreibung‹ (Nachahmung des tatsächlich Geschehenen) und ›Dichtung‹ (Nachahmung des Möglichen/Wahrscheinlichen).

»[…] daß es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche.« (Aristoteles 1999, 29/31)

Im Gegensatz zu Platon kann Aristoteles der Dichtung – speziell der Tragödie – daher einen sozialen Nutzen zugestehen.

Seine Katharsis-Theorie beschreibt, wie mittels der Bewunderung der Zuschauer für einen Helden, der einen Fehler (›hamartia‹) begeht und dadurch Leid (›pathos‹) erlebt, Schauder (›phobos‹) und Jammer (›eleos‹) entstehen. Die Zuschauer steigern sich in die beiden tragischen Affekte ›Jammer‹ und ›Schauder‹ hinein und reagieren sich dadurch ab − das wird als emotionale Reinigung (›Katharsis‹) zum Zweck der psychischen Stabilisierung verstanden.

»Die Tragödie ist die Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, wobei diese formenden Mittel in den einzelnen Abschnitten je verschieden angewandt werden – Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt.« (Aristoteles 1999, S. 19)

Die drei ›aristotelischen Einheiten‹ von Zeit, Handlung und Ort haben lange Zeit die Dramentheorie geprägt. Obwohl Aristoteles das Theater seiner Zeit nur beschreibt, ist er seit seiner Wiederentdeckung im späten 15. Jahrhundert normativ ausgedeutet worden: ›Einheit der Zeit‹ meint, dass die ›dargestellte‹ Zeit der Aufführungsdauer möglichst nahe kommen soll; ›Einheit der Handlung‹ meint, dass jedes Drama ganzheitlich angelegt sein soll (also Anfang, Mitte und Ende umfasst) und ein zentraler Konflikt vorliegt; ›Einheit des Ortes‹ meint, dass die vorgeführte Handlung an einem einzigen Ort spielt (z. B: ›Königspalast‹). So schreibt Aristoteles über die Zeit:

»die Tragödie versucht, sich nach Möglichkeit innerhalb eines einzigen Sonnenumlaufes zu halten oder nur wenig darüber hinauszugehen; das Epos verfügt über unbeschränkte Zeit und ist also auch in diesem Punkte anders – obwohl man es hierin ursprünglich bei den Tragödien ebenso gehalten hatte wie bei den Epen« (Aristoteles 1999, S. 17)

Zur Handlung heißt es in der Poetik:

 »Demnach muß, wie in den anderen nachahmenden Künsten die Einheit der Nachahmung auf der Einheit des Gegenstandes beruht, auch die Fabel, da sie Nachahmung von Handlung ist, die Nachahmung einer einzigen, und zwar einer ganzen Handlung sein. Ferner müssen die Teile der Geschehnisse so zusammengefügt sein, daß sich das Ganze verändert und durcheinander gerät, wenn irgendein Teil umgestellt oder weggenommen wird.« (Aristoteles 1999, S. 27/29)

Horaz

Quintus Horatius Flaccus (Horaz, 65-8 v. Chr.) formuliert mit seiner Ars poetica eine Poetik, die selbst in Versen (Hexameter) niedergeschrieben ist. Auch wenn es sich um eine normative Poetik handelt, ist sie nicht philologisch streng durchgeführt, sondern witzig ironisch angelegt.

Horaz’ Ars poetica erläutert die Grundregeln jeder ›klassizistischen‹ Dichtung, wobei vier Punkte im Vordergrund stehen:

  • Musterhaftigkeit der Griechen (»vos exemplaria Graeca nocturna versate manu, versate diurna« (v. 268f.))
  • Verbindung von Unterhaltung und Belehrung (»Sinnbelehrend will Dichtung wirken oder herzerfreuend, oder sie will beides geben: was lieblich eingeht und was dem Leben frommt.«)
  • Einheitlichkeit und Schlichtheit der Gestaltung (»Kurz und gut, erschaffe, was du willst; nur sei es einartig und aus einem Guß.«)
  • Mäßigung bzw. Dämpfung (»Weder soll Medea ihre Kinder vor aller Augen schlachten noch der schändliche Atreus Menschenfleisch kochen«)

Als zentrales Richtmaß in Horaz‘ Literaturprogramm dient die gesunde Vernunft, die auch das Dichter-Ideal eines ›poeta doctus‹ voraussetzt − als zentraler Wert ergibt sich das ›decorum‹/›aptum‹.

»scribendi recte sapere est et principium et fons«
(»Die richtige Einsicht ist Ursprung und Quelle, um richtig zu schreiben.«)

›Longin‹

Longins Poetik, die erst seit dem 17. Jh. Verbreitung gefunden hat, bildet den wichtigsten Gegenpol zur klassizistischen Poetik des Horaz.

Der Anonymus postuliert das ›Erhabene‹ als ästhetischen Komplementärbegriff zum ›Schönen‹. Gemeint ist hiermit das Nicht-Schöne, aber durchaus ästhetisch Reizvolle, das in seiner Größe und Widersprüchlichkeit sinnliche Gewalt vermittelt (z.B. ein Sturm).

»Denn unsere Seele wird durch das wirklich Erhabene von Natur aus emporgetragen, schwingt sich hochgemut auf und wird mit stolzer Freude erfüllt, als hätte sie selbst geschaffen, was sie hörte.« (Longins  1988, S. 17)

Longin argumentiert, dass Poesie durch die poetische Bedeutung des Erhabenen definiert wird. Diese bewirkt eine ›Erschütterung‹, während Rhetorik demgegenüber auf Deutlichkeit verpflichtet ist. Die Überwältigung durch mitreißende Affekte ist die Aufgabe der Poesie. Von der Größe begeistert, wird der Zuhörer dieser nacheifern.

»Dann nämlich ist Kunst am Ziel, wenn sie Natur scheint; die Natur wieder ist vollendet, wenn sie die Kunst unmerkbar einschließt.« (Longins 1988, S. 61)

Weiterführende Literatur zu antiken Dichtungstheorien: Manfred Fuhrmann: Die Dichtungstheorie der Antike: Aristoteles – Horaz – ‚Longin‘. Eine Einführung. 2. überarbeitete und veränderte Auflage. Düsseldorf / Zürich 2003.

Platon

Sokrates zu Glaukon:
»›Also dieses werden uns drei Bettgestelle, das eine, das in der Natur seiende, von dem wir, denke ich, sagen würden, Gott habe es gemacht. Oder wer sonst?‹
›Niemand, denke ich.‹
›Eines aber der Tischler.‹
›Ja‹, sagte er.
›Und eines der Maler. Nicht wahr?‹« (Politeia X [597 b])

»[Hesiod, Homer und alle anderen Dichter] haben doch für die Menschen unwahre Erzählungen zusammengesetzt und vorgetragen und tragen sie auch noch vor.« (Politeia II [377 d])

»Ion. […] Wenn ich nämlich etwas ›Klägliches‹ vortrage, so füllen sich mir die Augen mit Tränen,
wenn aber etwas Furchtbares und Schreckliches, so sträuben sich die Haare aufwärts vor Furcht,
und das Herz pocht.
[…] Sokrates. Und weißt du wohl, dass ihr auch unter den Zuschauern
gar viele eben dahin bringt?« (Ion [535 d])

[Platon: Der Staat (Politeia). Durchgesehen, verbessert und bibliographisch ergänzt von Karl Vretska. Stuttgart 1982 (rub 8205); Platon: Ion. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Hellmut Flashar. Stuttgart 2002 (rub 8471).]


Aristoteles – Poetik

»Die Epik und die tragische Dichtung, ferner die Komödie und die Dithyrambendichtung sowie – größtenteils – das Flöten- und Zitherspiel: sie alle sind, als Ganzes betrachtet, Nachahmungen. Sie unterscheiden sich jedoch in dreifacher Hinsicht voneinander: entweder dadurch, daß sie durch je verschiedene Mittel, oder dadurch, daß sie je verschiedene Gegenstände, oder dadurch, daß sie auf je verschiedene und nicht auf dieselbe Weise nachahmen.« (5)

[Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1999 (rub 7828).]


Horaz – Ars poetica

»aut prodesse volunt aut delectare poetae /
aut simul et iucunda et idonea dicere vitae«
(»Sinnbelehrend will Dichtung wirken oder herzerfreuend, oder sie will beides geben: was lieblich eingeht und was dem Leben frommt.«)

»denique sit quodvis, simplex dumtaxat et unum« (540 − v. 23)
(»Kurz und gut, erschaffe, was du willst; nur sei es einartig und aus einem Guß.«)

»scribendi recte sapere est et principium et fons«
(»Die richtige Einsicht ist Ursprung und Quelle, um richtig zu schreiben.«)

»ne pueros coram populo Medea trucidet
aut humana palam coquat exta nefarius Atreus« (v. 185f.)
(»Weder soll Medea ihre Kinder vor aller Augen schlachten
noch der schändliche Atreus Menschenfleisch kochen«)

[Quintus Horatius Flaccus: Ars Poetica. Die Dichtkunst. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und mit einem Nachwort
herausgegeben von Eckart Schäfer. Stuttgart 1980 (rub 9421).]


›Longin‹ – Vom Erhabenen

»Das Großartige nämlich überzeugt die Hörer nicht, sondern verzückt sie; immer und überall wirkt ja das Erstaunliche / mit seiner erschütternden Kraft mächtiger als das, was nur überredet oder gefällt, hängt doch die Wirkung des Überzeugenden meist von uns ab, während das Großartige unwiderstehliche Macht und Gewalt ausübt und jeglichen Hörer überwältigt; auch sehen wir die
Kunst der Erfindung und die kluge Ordnung des Stoffes nicht an einer oder zwei Stellen, sondern im ganzen Gewebe der Rede kaum eben hervorschimmern, während das Erhabene, wo es am rechten Ort hervorbricht, den ganzen Stoff wie ein plötzlich zuckender Blitz zerteilt und schlagartig die geballte Kraft des Redners offenbart.« (5/7)

»Erste und mächtigste Quelle ist die kraftvolle Fähigkeit, erhabene Gedanken zu zeugen […]. Zweite Quelle ist starke, begeisterte Leidenschaft; diese zwei Grundlagen des Erhabenen sind weitgehend angeboren, während die weiteren nun schon Leistungen von Kunst darstellen, nämlich die besondere Bildung der Figuren (hier gibt es wohl zwei Arten, nämlich Gedanken- und Ausdrucksfiguren), weiter die großartige Sprache, deren Teile wieder die Wahl der Wörter und figurenreiche, kuntvolle Diktion sind. Die fünfte Ursache der Größe, die alles Vorausgehende einschließt, ist die würdevolle gehobene Wort- und Satzfügung.« (19)

[Longinus: Vom Erhabenen. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Otto Schönberger. Stuttgart 1988 (rub 8469).]