Formalismus

Prof. Dr. Annelore Engel
Zur Geschichte des Formalismus

Der Begriff ›Formale Schule‹ bezeichnet eine literaturtheoretische Bewegung, die sich in enger Auseinandersetzung mit der künstlerischen Avantgarde zwischen 1915 und 1930 in Russland herausgebildet hat.

Man unterscheidet den linguistischen Pol, der sich mit den Gesetzmäßigkeiten poetischer Rede in Abgrenzung zur Alltagssprache beschäftigt (z.B. Roman Jakobson), und den literarästhetischen Pol, der die ästhetische Wirkungsweise künstlerischer Phänomene fokussiert (z.B. Wikotr Šklovskij).

Institutionell spaltet sich die Bewegung zunächst in den stärker sprachwissenschaftlich geprägten MLK (Moskauer linguistischer Kreis; 1914/15-1924) und das eher literarisch orientierte OPOJaZ (Gesellschaft zum Studium der poetischen Sprache; ab 1916/17) in Petrograd (St. Petersburg) auf.

Beide Gruppierungen verschmelzen nach 1919 zur ›Formalen Schule‹; die Bezeichnung ›OPOJaZ‹ wird ebenfalls weitergeführt. Nach 1923 setzen die Theoretiker ihre Arbeit einzeln fort oder schließen sich der Gruppe LEF (Levyi Front iskusstva = Linke Front der Kunst; 1922-1925) bzw. der Gruppe Novyj Lef (Neue linke Front der Kunst; 1927-1929) an, in der neben Theoretikern wie Šklovskij und Eichenbaum auch Vertreter der künstlerischen Avantgarde firmieren (z.B. der Dichter Vladimir Majakovskij und der Fotograf Aleksandr Rodčenko).

Nach der Ächtung der – nicht-marxistischen – ›Formalen Schule‹ im Stalinismus um 1930 gerät die Bewegung aus dem Blickfeld der literarischen Öffentlichkeit. Gleichwohl hat sie große Bedeutung für spätere literaturtheoretische Modelle, insbesondere für den Prager Strukturalismus und die Semiotik der Moskau-Tartuer Schule (Lotman).

Im Westen ist die ›Formale Schule‹ seit den 50er Jahren wieder entdeckt worden; dies verdankt sich maßgeblich unter anderen den Werken von Viktor Erlich oder Aage A. Hansen-Löve.

Grundideen des Formalismus

Gemeinsames Ziel der Vertreter der ›Formalen Schule‹ ist es, außerliterarische Bezüge (z.B. die Biografie des Autors, die sozioökonomischen Bedingungen etc.) auszublenden und die Literatur als autonomen Bereich zu betrachten. Sie konzentrieren sich auf das Spezifische der Literatur, die Literarizität (russ. literaturnost’).

Durch die Analyse der poetischen Sprache (des ›Materials‹) und der Form (der ›Struktur‹) untersuchen sie die ›Verfahren‹ (russ. priem), die für die ästhetische Wirkung eines Kunstwerks verantwortlich sind.

Den entscheidenden Effekt sehen sie im Verfahren der ›Verfremdung‹ (russ. ostranenie), d.h. der Verschiebung/Verseltsamung der literarischen Rede gegenüber der Alltagssprache.

Einzelne Vertreter

Viktor Borisovič Šklovskij (1893-1984)
In seinem Aufsatz Die Kunst als Verfahren (Iskusstvo kak priem; 1916) führt Šklovskij aus, dass das Ziel eines literarischen Werks darin bestehe, die gewohnten Wahrnehmungsmuster des Alltags zu ›entautomatisieren‹.

Dies geschehe durch Verfahren der Verseltsamung, etwa ›semantische Verschiebungen‹ (russ. sdvig), welche die Form ›erschweren‹ und die Wahrnehmung verfremden. Darin liege die Voraussetzung für eine neue, ästhetische Wahrnehmung:

»[…] gerade, um das Empfinden des Lebens wiederherzustellen, um die Dinge zu fühlen, um den Stein steinern zu machen, existiert das, was man Kunst nennt. Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden des Gegenstands zu vermitteln, als Sehen, und nicht als Wiedererkennen; das Verfahren der Kunst ist das Verfahren der ›Verfremdung‹ der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form, ein Verfahren, das die Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung steigert, denn der Wahrnehmungsprozeß ist in der Kunst Selbstzweck und muß verlängert werden; die Kunst ist ein Mittel, das Machen einer Sache zu erleben; das Gemachte hingegen ist in der Kunst unwichtig.« (Šklovskij  1969, S. 15)

Beispiel 1:
In Tolstojs Krieg und Frieden (Vojna i mir; 1868/69) wird ein Opernbesuch aus der Sicht eines jungen Mädchens geschildert; die Darstellung ist dissoziativ und kommt ohne ein präzises Begriffsinventar aus (z.B. statt ›Duett‹: ›zu zweit singen‹):

»Auf der Bühne waren in der Mitte glatte Bretter, an den Seiten standen gemalte Bilder, die Bäume darstellten, hinten war auf Bretter Tuch gespannt. In der Mitte der Bühne saßen junge Mädchen in roten Miedern und weißen Röcken. Eine, die sehr dick war und ein weißes Seidenkleid anhatte, saß für sich auf einem niedrigen Bänkchen, an das von hinten ein grüner Karton angeklebt war. Alle sangen etwas. Als sie mit ihrem Lied fertig waren, ging das junge Mädchen in Weiß zum Souffleurkasten, und zu ihr trat ein Mann in prallsitzenden Seidenhosen an den dicken Beinen […] und fing an zu singen und die Arme auszubreiten. Der Mann in den enganliegenden Hosen sang eine Weile allein, dann sang sie eine Weile. Dann schwiegen beide, die Musik erdröhnte, und der Mann fing an, mit seinen Fingern an der Hand des jungen Mädchens im weißen Kleid herumzudrücken und wartete offenbar wieder darauf, seine Partie zusammen mit ihr anzufangen. Sie sangen eine Weile zu zweit, und alle im Theater fingen an zu klatschen und zu schreien, und die Männer und Frauen auf der Bühne, die Verliebte darstellten, fingen an sich lächelnd und mit ausgebreiteten Armen zu verbeugen.
Im zweiten Akt gab es Bilder, die Monumente darstellten, und im Tuch war ein Loch, das den Mond darstellte […].« (Zitiert aus Šklovskij 1969,  S. 21)

Beispiel 2:
In Tolstojs Erzählung Der Leinwandmesser (Cholstomer; 1886) wird aus der Perspektive eines Pferdes erzählt; dies ermöglicht einen verfremdeten Blick auf die sozialen Verhältnisse, hier eine Reflexion (des Pferdes) über das Besitzdenken der Menschen:

»[…] mir war damals vollkommen dunkel, was die Worte: mein, sein Fohlen bedeuten sollten, denen ich entnahm, daß die Menschen eine Verbindung zwischen mir und dem Stallmeister annahmen. Worin diese Verbindung bestand, konnte ich damals beim besten Willen nicht verstehen. Erst viel später, als man mich von den anderen Pferden absonderte, verstand ich, was das bedeutete. Damals aber konnte ich beim besten Willen nicht verstehen, was [es] bedeutete, daß man mich Eigentum eines Menschen nannte. Die Worte ›mein Pferd‹ bezogen sich auf mich, ein lebendiges Pferd, und erschienen mir so seltsam wie die Worte ›meine Erde‹, ›meine Luft‹, ›mein Wasser‹.« (Zitiert aus Šklovskij 1969, S. 17)

Bei Tolstoj dient die perspektivische Verfremdung einem ethisch-moralischen Anliegen (der Gesellschaftskritik); Šklovskij interessiert an diesem Verfahren lediglich, dass die Abweichung von der ›gewohnten Perspektive‹ den Kern der ästhetischen Wahrnehmung ausmacht, d.h. dass in dieser Verschiebung folglich das Charakteristikum der Literarizität liegt.

Šklovskij versteht einen literarischen Text als »Summe der Verfahren« (russ. priemy), die im Interesse einer Ent-Automatisierung der Wahrnehmung funktionalisiert werden. Er unterscheidet dabei verschiedene Verfahren (russ. priem, engl. strategy), zum Beispiel:

a) das Erzählen aus der ›Froschperspektive‹, z.B. eines Kindes, Idioten etc. (siehe obige Beispiele)
b) die Verwendung von (neuen) Metaphern
c) das Verfahren einer bewusst erschwerten Form, etwa durch die ›verschrobene‹ Redeweise des Dichters oder durch einen von der Alltagssprache abweichenden Rhythmus.

Jurij Nikolaevič Tynjanov (1894-1943)
Während Šklovskij eher ›idealistisch‹ denkt, akzentuiert Tynjanov die Dynamik und Dialektik literarischer Formen (›Evolution‹). Gerade bei der Bestimmung von Gattungen, Genres und Stilrichtungen müsse man, so Tynjanov in Das literarische Faktum (1924) und Über die literarische Evolution (1927), eine historische Perspektive einnehmen.

In unterschiedlichen ›Systemen‹ könne sich ein literarisches Mittel oder Genre unterschiedlich darstellen; beispielsweise wurde der Privatbrief des 18. Jahrhunderts in der russischen Romantik zu einer poetischen Gattung.

Um die Ablösung von Systemen festzumachen, untersucht Tynjanov die so genannte ›konstruktive Funktion‹ von Elementen. Dazu führt er in seinem Aufsatz Über die literarische Evolution aus:

»Die Korrelation eines jeden Elements des literarischen Werks als System zu anderen Elementen und folglich zum ganzen System nenne ich die konstruktive Funktion des betreffenden Elements […]. Das Element steht gleichzeitig in Korrelation: einerseits zu der Reihe entsprechender Elemente anderer Werk-Systeme und sogar zu anderen Reihen, andererseits zu anderen Elementen des vorgegebenen Systems (Autofunktion und Synfunktion).« (Tynjanov 1969, S. 437/439)

Autofunktion‹ bezeichnet die Korrelation eines Elements zur Reihe analoger Elemente in anderen Systemen, hier: die Verwendung von Archaismen in literarischer Rede im Unterschied zu ihrer Verwendung in der Alltagssprache.

Synfunktion‹ meint die Korrelation der Lexik eines bestimmten Werks zu anderen Elementen desselben ›Werk-Systems‹, hier: bei Dichtern des 18. Jahrhunderts werden Archaismen als Ausdruck von Erhabenheit verwendet, im 19. Jahrhundert können sie Mittel der Ironie sein. Die Funktion eines poetischen Mittels hängt also vom System ab, in dem es verwendet wird. Diese Systeme unterliegen einem historischen Wandel; Elemente und Systeme stehen in einem dynamischen Verhältnis.

Wie Šklovskij widmet sich auch Tynjanov dem Verfahren der Verfremdung. Dabei eruiert er nicht nur einzelne stilistische Mittel, sondern betrachtet das Sujet selbst als Kunstmittel.

Beispiel:
In der Erzählung Secondelieutenant Sjedoch (Podporučik Kiže; 1929/30) begeht ein Kanzleischreiber folgenden Fehler: Statt »Die Secondelieutenants jedoch, Stiewen, Rybin […] erhalten Befehl […]« schreibt er »Die Secondelieutenant Sjedoch, Stiewen, Rybin […] erhalten Befehl […]«. Durch diesen Fehler ›entsteht‹ ein neuer Mensch namens Sjedoch, um dessen ›Existenz‹ der Fortgang der Handlung kreist.

Roman Osipovič Jakobson (1896-1982)
Jakobson gehört dem Moskauer Linguistenkreis (Moskovskij lingvističeskij kružok) an, geht 1920 jedoch nach Prag. Dort begründet er im Oktober 1926 den Prager Linguistischen Zirkel (Pražký linguistický kroužek) und pflegt weiter Kontakt mit russischen Theoretikern und Künstlern, u.a. Tynjanov und Majakovskij. Über Skandinavien emigriert er schließlich in die USA, wo er den New Yorker Linguistischen Zirkel gründet und an verschiedenen amerikanischen Hochschulen lehrt.

Jakobson kommt entscheidende Bedeutung für den Strukturalismus zu (vgl. hierzu auch die Einführung in den Strukturalismus). Auch er geht der Frage nach dem spezifischen Charakter poetischer gegenüber prosaischer Sprache nach und untersucht dies u.a., etwa in seinem Aufsatz Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphatischer Störungen (1956), anhand der Analyse von sprachlichen Bildern. Während der Gebrauch von Metonymien für die prosaische Sprache kennzeichnend sei, seien Metaphern ein Charakteristikum poetischer Sprache.

Boris Michajlovič Eichenbaum (1886-1959)
Eichenbaum ist dem OPOJaZ zuzurechnen. Im Hinblick auf die Prosa-Analyse ist vor allem sein Aufsatz Wie Gogol’s ›Mantel‹ gemacht ist (1918) von Interesse. Darin arbeitet er anhand von Gogol’s Novelle Der Mantel (Šinel’; 1842) ein bestimmtes literarisches Verfahren heraus: den skaz. Dieser kaum ins Deutsche übersetzbare Terminus (von russ. ›skazat‹ = ›sagen‹) bezeichnet die Erzählweise eines literarischen Textes, die durch den ›persönlichen Ton‹ des fiktiven Erzählers bestimmt ist:

»Die Komposition einer Novelle hängt in hohem Maße davon ab, welche Rolle der persönliche Ton des Autors in ihrem Bau spielt, d.h. davon, ob dieser Ton Organisationsprinzip ist und damit mehr oder weniger die Illusion eines skaz erzeugt wird oder ob er mehr als formales Bindemittel zwischen den Ereignissen dient und daher eine Hilfsfunktion übernimmt.« (Ejchenbaum  1969, S. 123).

Gogol’s Novelle handelt von einem kleinen Petersburger Beamten, einem von allen gehänselten Pechvogel, dem sein neuer Mantel, den er sich durch eine asketische Lebensweise zusammengespart hat, geraubt wird. Bei dem anschließenden Weg durch die Instanzen erkältet er sich und stirbt.

Eichenbaum arbeitet heraus, wie die zuweilen sentimentale Rhetorik und das von der Forschung bis dahin hauptsächlich wahrgenommene ›Humane‹ des Textes ständig durch den skaz unterminiert werden.

Diesen definiert Eichenbaum als komischen Effekt, der sich weniger aus dem Sujet denn aus der spezifischen Redeweise ergibt, die aus Sprachspielen (Kalauern, Alogismen etc.) besteht. Das Ergebnis dieser Sprach- und Stilanalyse führt dazu, dass Eichenbaum den Text nicht – wie üblich – als realistische, sondern als groteske Novelle liest, also nicht sozialkritisch, sondern ästhetizistisch deutet.

Vladimir Jakovlevič Propp (1895-1970)
Propp konzentriert seine Überlegungen auf das Korpus des Volksmärchens, das er einer Formanalyse unterzieht. In seiner Studie Morphologie des Märchens (1929), die ihre Wirkung erst im Zuge einer englischen Übersetzung aus dem Jahre 1958 entfaltet hat (Erfolg in Russland ab 1969), postuliert er, analog zur Beschreibung von Organismen in der Biologie Strukturmäßigkeiten dieses literarischen Genres ableiten zu können, die mit Hilfe von Strukturformeln darstellbar sind.

Bei seiner Analyse des russischen Zaubermärchens unterscheidet er konstante und variable Elemente. Auf der Basis der konstanten Größen, die er als ›Funktionen der handelnden Personen‹ bezeichnet (z.B. Held und Gegenspieler treten in einen Zweikampf), gelangt er zu einer Typologie des Märchens, die folgende Ergebnisse zeitigt:

»1. Die konstanten und unveränderlichen Elemente des Märchens sind die Funktionen der handelnden Personen […]. Sie bilden die wesentlichen Bestandteile des Märchens.
2. Die Zahl der Funktionen ist für das Zaubermärchen begrenzt. […]
3. Die Reihenfolge der Funktionen ist stets ein und dieselbe. […]
4. Alle Zaubermärchen bilden hinsichtlich ihrer Struktur einen einzigen Typ.« (Propp 1972, S. 27-29)

Diese Beobachtungen erweitert Propp in der Studie Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens (1946), in der er – über die russische Kultur hinaus – eine universale Struktur des Volksmärchens nachzuweisen sucht. Er postuliert also, dass allen Zaubermärchen ein konstantes, begrenztes Repertoire von Motivbeziehungen und Bauprinzipien zugrunde liegt.

Ejchenbaum, Boris: Wie Gogol’s ›Mantel‹ gemacht ist. In: Texte der russischen Formalisten. Band I: Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. Herausgegeben von Jurij Striedter. München 1969, S. 122-159.

Propp, Vladimir: Morphologie des Märchens. Herausgegeben von Karl Eimermacher. München 1972.

Šklovskij, Viktor: Die Kunst als Verfahren. In: Texte der russischen Formalisten. Band I: Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. Herausgegeben von Jurij Striedter. München 1969, S. 2-35.

Tynjanov, Jurij: Über die literarische Evolution. In: Texte der russischen Formalisten. Band I: Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. Herausgegeben von Jurij Striedter. München 1969, S. 432-461.

Erlich, Viktor: Russischer Formalismus. Aus dem Englischen übersetzt von Marlene Lohner. Mit einem Geleitwort von René Wellek. München 1964 [Russian Formalism. History – Doctrine. ’s-Gravenhage 1955].

Hansen-Löve, Aage A. : Der russische Formalismus. Methodologische Rekonstruktion seiner Entwicklung aus dem Prinzip der Verfremdung. Wien 1978.

Stempel, Wolf-Dieter: (Hrsg.): Texte der russischen Formalisten. Band II: Texte zur Theorie des Verses und der poetischen Sprache. München 1972.

Striedter, Jurij (Hrsg.): Texte der russischen Formalisten. Band I: Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa.  München 1969.