Editionsphilologie

Prof. Dr. Dorothea Klein
Vorbemerkungen

Eine zuverlässige Ausgabe eines Textes, die in einem wissenschaftlich überprüfbaren Verfahren erstellt wurde und wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, ist Voraussetzung für jede Form wissenschaftlicher Arbeit!

Die Wichtigkeit der richtigen Edition: Ein Beispiel

Illustrieren lässt sich die Relevanz der Editionsphilologie am Beispiel der folgenden Passage aus dem IV. Akt von Goethes Faust II, in der Mephisto den Engelssturz beschreibt (V. 10075- 10084):

MEPHISTOPHELES:
»Als Gott der Herr – ich weiß auch wohl, warum –
Uns aus der Luft in tiefste Tiefen bannte,
Da, wo, zentralisch glühend, um und um,
Ein ewig Feuer flammend sich durchbrannte,
Wir fanden uns bei allzu großer Hellung
In sehr gedrängter, unbequemer Stellung.
Die Teufel fingen sämtlich an zu husten,
Von oben und von unten auszupusten;
Die Hölle schwoll von Schwefelstank und -säure:
Das gab ein Gas! […]«

So steht es in fast allen Ausgaben (hier in der 1949 bei Artemis besorgten Ausgabe) seit der Ausgabe letzter Hand von 1833, die von Friedrich Wilhelm Riemer und Johann Peter Eckermann besorgt wurde und lange Zeit als kanonisch galt.

In Goethes Reinschrift des Faust II indes liest man die Stelle anders:

»Die Teufel fingen sämtlich an zu husten,
Von oben und von unten aus zu pusten.«

Diese Version erscheint viel sinnvoller (die Teufel ›pusten‹ aus allen Körperöffnungen) als die bei Eckermann und Riemer dokumentierte (wie beispielsweise sollen die Teufel gleichzeitig husten und pusten?).
Erklären lässt sich diese Änderung folgendermaßen: Die Herausgeber haben die Stelle als anstößig empfunden und »die teuflische Unterleibsdrastik mit einem moralischen Feigenblatt« (FAZ-Rezension von Ernst Osterkamp) übermalt.

Dieser Texteingriff in die Handschrift ist von fast allen späteren Herausgebern übernommen worden; nach dem Original gehen lediglich die Weimarer Ausgabe von 1888 und die von Albrecht Schöne 1994 für den Deutschen Klassiker-Verlag besorgte Ausgabe vor.

Schöne greift für Faust I auf die Taschenausgabe letzter Hand von 1828, für Faust II auf Goethes Reinschrift zurück. Beide Texte passt er dezent an die moderne Orthografie an (z.B. ,th’ → ,t’; ,y’ → ,i’), belässt aber die ursprüngliche Groß- und Kleinschreibung, Getrennt- und Zusammenschreibung sowie Interpunktion.

Wahl der Editionsmethode

Es gibt kein einheitliches Editionsverfahren; die Editionsmethode ist vielmehr abhängig vom Editionsziel und von den Editionsmöglichkeiten. Dabei dienen folgende Fragen als Leitlinie für die Wahl der Editionsmethode:

  • Welches Ziel soll die Edition verfolgen?
  • Was sind die Editionsmöglichkeiten?
  • Unter welchen Bedingungen und in welcher Weise ist ein Text bezeugt?
  • Gibt es einen einzigen Textzeugen oder mehrere?
  • Gibt es eine einzige Fassung des Autors oder mehrere?
  • Handelt es sich um eine autorisierte (= vom Autor gebilligte) Fassung? Oder handelt es sich um eine Abschrift eines Schreibers?
  • In welcher Qualität ist der zu edierende Text bezeugt?
Zentrales Distinktionsmerkmal: autorisiert/nicht-autorisiert

Als zentrales Distinktionsmal gilt, ob Ausgaben autorisiert sind oder nicht. Als autorisierte Ausgaben gelten  a) alle Autographen, d.h. alle vom Autor des Textes selbst angefertigten Niederschriften, b) die in seinem Auftrag und unter seiner Aufsicht hergestellten Abschriften, c) die von ihm gebilligten Drucke.

Autorisierte Ausgaben sind erst seit dem 17./18. Jahrhundert die Regel. Daher hat man in der Altgermanistik und in der Neueren Literaturwissenschaft unterschiedliche Editionsmethoden entwickelt. Im Folgenden soll es um die Ausgabentypen gehen, die für die Neuere Literaturwissenschaft relevant sind. Weiterführende Informationen zu den Editionsmethoden der älteren Literaturwissenschaft gibt es hier.

Die Edition der neueren Literatur

Anders als bei der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit liegen für das 18. bis 20. Jahrhundert in der Regel autorisierte Fassungen vor. Es ergeben sich die folgenden Probleme:

• Welche der Fassungen soll man edieren, falls mehrere Handschriften oder Drucke vorliegen?

• Wie soll man die Entstehungs- und Bearbeitungsgeschichte eines Textes präsentieren und kommentieren?

a) Ausgabe letzter Hand

Die Ausgabe letzter Hand beruht auf dem Text, den der Autor zuletzt autorisiert hat. Dahinter verbirgt sich ein entwicklungsgeschichtlicher Ansatz, d.h. die Vorstellung, dass die letzte Textfassung zugleich die beste sei (trotzdem greifen Herausgeber zuweilen in den Text ein, siehe das obige Beispiel aus Faust II).

Das Prinzip, sich auf die Ausgabe letzter Hand zu stützen, war vom 19. Jahrhundert an bis weit ins 20. Jahrhundert hinein das dominierende Editionsverfahren. Heute bevorzugt man eher:

b) Ausgabe früher (erster) Hand

Grundlage der Ausgabe früher (erster) Hand ist der Erstdruck oder – soweit vorhanden – die originale Druckvorlage.
Beispiel: Goethes eigenhändige Reinschrift des Faust II (vgl. die Ausgabe von A. Schöne). Innerhalb dieses Ansatzes rückt man von der entwicklungsgeschichtlichen Vorstellung ab und behandelt die verschiedenen Fassungen als prinzipiell gleichwertig.

c) Mischfassungen

Mischfassungen sind in der deutschen Philologie selten, im angloamerikanischen Raum aber geläufig. Ziel hierbei ist es, durch Kombination verschiedener Fassungen einen ›Idealtext‹ zu erstellen. Ein Beispiel für eine Mischfassung ist die Weimarer Goethe-Ausgabe.

Entscheidender Einwand gegen diese Methode: Sie ist unhistorisch, weil sie einen Text konstituiert, den es so nie als Autortext gegeben hat.

Probleme in der Editionswissenschaft

Die Editionswissenschaft ist grundsätzlich vor die Frage gestellt, wie sie  mit autorisierten Fehlern verfährt, d.h. mit Fehlern, die der Autor gebilligt oder überhaupt nicht gemerkt hat? Soll man diese korrigieren oder nicht? Zwei theoretische Positionen stehen sich gegenüber: a) die Eingriffe werden auf die Korrektur offensichtlicher Druckfehler begrenzt und b) stärkere Eingriffe werden vorgenommen. Grundsätzlich gilt, dass Texteingriffe  im Apparat begründet werden müssen. Art und Umfang der Textausgabe hängen maßgeblich vom Editionsziel ab. Daraus ergeben sich verschiedene Ausgabentypen:

a) Historisch-kritische Ausgaben

Historisch-kritische Ausgaben verfolgen zwei Ziele:

• Bereitstellung eines zuverlässigen Textes

• Darstellung der Textgenese (d.h. Textentstehung und -entwicklung)

Dazu gilt es umfangreiche Aufgaben zu erledigen:

1. einen kritischen Text erstellen (unter Umständen mehrere Fassungen berücksichtigen);

2. alle Textzeugen (d.h. alle Handschriften und Drucke, auch die verschollenen) verzeichnen und beschreiben;

3. alle Fassungen dokumentieren, sodass die Entwicklung eines Textes verständlich wird (von der Skizze zur Druckvorlage: Entstehungsstufen, Korrekturschichten etc.) = genetischer Apparat; meistens nicht in vollem Wortlaut, sondern: Variantenapparat;

4. alle Dokumente wiedergeben, die für die Textentstehung und -geschichte einschlägig sind;

5. die zeitgenössische Wirkungsgeschichte (d.h. zu Lebzeiten des Autors) wiedergeben;

6. einen Sachkommentar liefern (d.h. historische, sprachhistorische, literarhistorische, biografische Informationen).

Ein erstes Beispiel für eine in diesem Sinne historisch-kritische Ausgabe ist die Schiller-Ausgabe von Karl Goedecke (1867ff.) Wichtig zu beachten ist, dass jeder Autor  eigene Methoden erfordert!

Beispiel für eine historisch-kritische Edition: Hölderlin

Hölderlins in den Jahren 1801-1806 entstandenes fragmentarisches Werk bildet eine besondere Herausforderung für Editoren. Vgl. hier das Gedicht Hälfte des Lebens.

Das Gedicht ist erstmals in dem bei Friedrich Wilmans in Frankfurt/M. gedruckten Taschenbuch für das Jahr 1805 erschienen. Hölderlin hat es im Dezember 1803 für den Druck freigegeben. In der Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe von Friedrich Beißner (1943-1985) stellt sich das Gedicht wie folgt dar:

HÄLFTE DES LEBENS

Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm’ ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.

Hölderlin hat das Gedicht nicht vom Anfang her geschrieben, sondern ›Spannungszustände‹ zwischen verschiedenen Gedichtteilen, Satzfetzen etc. aufgebaut. So sind ›Wortlandschaften‹ entstanden, deren einzelne Teile teilweise unverbunden nebeneinander stehen.

Beißner hat Hölderlins Vorgehen im Kommentarteil seiner Ausgabe minutiös beschrieben und im Textteil lediglich das ›fertige‹ Gedicht abgedruckt. Demgegenüber verzichtet Dietrich Eberhardt Sattler in der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe (1975ff.) auf das vermutbar fertige Gedicht und gibt es nur im Faksimile und der Umschrift wieder:

(Wie Pdf-Bild einfügen?)

Vorteil dieses Vorgehens: Alle Schritte sind überprüfbar
Nachteil: schwer lesbar

b) Studienausgaben

Im akademischen Alltag benutzt man häufig Studienausgaben, die im Idealfall auf historisch-kritischen Ausgaben basieren, aber ohne die textgenetische Dokumentation auskommen.

Auch die Studienausgaben bewahren die Historizität des Textes so genau wie möglich und behalten deshalb die Zeichensetzung und Rechtschreibung des Originals weitgehend bei. Auch diesen Ausgaben ist ein Kommentarteil beigefügt (in Schönes Goethe-Ausgabe allein rund 1000 Seiten mit Erläuterungen zu Quellen, Anspielungen, Begriffen, Metrik etc.).

c) Leseausgaben

Leseausgaben richten sich an ein nicht-akademisches Publikum. Sie enthalten einen weniger umfangreichen Kommentar und sind in der Regel an die moderne Orthografie angepasst.

 Fazit

• Es gibt keine verbindliche Editionsmethode.

• Die Einsicht in die komplizierte Textgenese zwingt uns, den Text- und Werk-Begriff zu revidieren (sowohl in der Alt- als auch Neugermanistik): Der Text muss als dynamische Größe verstanden werden.

• Jede Entstehungs- und Überlieferungsstufe hat ihre historische Legitimation. Das Werk ist die Summe dieser Textgeschichten, umfasst also alle Stufen vom Original bis zur letzten Abschrift bzw. – bei autorisierten Texten – von der Skizze zur Ausgabe letzter Hand.

Friedrich Hölderlin: Hälfte des Lebens. In: Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe. Im Auftrag des Württembergischen Kultusministeriums herausgegeben von Friedrich Beißner. Bd. 2: Gedichte nach 1800. Stuttgart 1951, S. 117

Friedrich Hölderlin: Hälfte des Lebens. In: Friedrich Hölderlin. Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Historisch-kritische Ausgabe herausgegeben von D. E. Sattler. Bd. 7: Gesänge. Dokumentarischer Teil herausgegeben von D. E. Sattler. Frankfurt/M. – Basel 2000, S. 109 (Auszug)

Grubmüller, Klaus: Edition. In: Reallexikon der germanischen Altertumskunde. Von Johannes Hoops, in Zusammenarbeit mit C. J. Becker [u.a.] herausgegeben von Heinrich Beck. Bd. 6. 2., völlig neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage Berlin – New York 1986, S. 447-452.

Plachta, Bodo: Editionswissenschaft: eine Einführung in Methode und Praxis der Edition neuerer Texte. Stuttgart 1997.

Weimar, Klaus: Edition. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Gemeinsam mit Harald Fricke, Klaus Grubmüller und Jan-Dirk Müller herausgegeben von Klaus Weimar. Bd. 1: A-G. 3., neu bearbeitete Auflage Berlin – New York 1997, S. 414-418.