Der Realismus – Quellen und Zitate

Poésie = Gemütherregungskunst.

Novalis: Aus den Fragmenten und Studien. 1799/1800. In: Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Herausgegeben von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. München – Wien 1978, S. 751-848, hier S. 801.

Die Welt muß romantisirt werden. So findet man den urspr[ünglichen] Sinn wieder. Romantisiren ist nichts, als eine qualit[ative] Potenzirung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation identificirt. So wie wir selbst eine solche qualit[ative] Potenzenreihe sind. Diese Operation ist noch ganz unbekannt. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisire ich es […].

Novalis: Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen. 1798. In: Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Herausgegeben von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. München – Wien 1978, S. 311-424, hier S. 334.

Am grauen Strand, am grauen Meer,

Und seitab liegt die Stadt;

Der Nebel deckt die Dächer schwer,

Und durch die Stille braust das Meer

Eintönig um die Stadt.

Es rauscht kein Wald, es schlägt im Mai

Kein Vogel ohn’ Unterlaß;

Die Wandergans mit hartem Schrei

Nur fliegt in Herbstesnacht vorbei,

Am Strande weht das Gras.

Doch hängt mein ganzes Herz an dir,

Du graue Stadt am Meer;

Der Jugend Zauber für und für

Ruht lächelnd doch auf dir, auf dir,

Du graue Stadt am Meer.

Storm, Theodor: Die Stadt. In: Gedichte von Theodor Storm. Kiel 1852, S. 129.

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Jede Linie mit Verstand, alles durchdacht, das Uninteressante interessant.

Spitzweg, Carl: Brief an den Bruder Eduard,15. 7. 1836. In: Der unbekannte Spitzweg. Ein Bild aus der Welt des Biedermeier. Dokumente. Briefe. Aufzeichnungen. Mitgeteilt von Wilhelm Spitzweg. München 1958, S. 73-74, hier S.74.

Es liegt wahrlich eine große Quantität Poesie auch in dem wirklichen Leben unsrer Zeit.

Ludwig, Otto: Volksroman – Volksliteratur. In: Ludwig, Otto: Romane und Romanstudien. Herausgegeben von William J. Lillyman. München 1977, S. 635-654, hier S. 646.

Poesie der Wirklichkeit, die nackten Stellen des Lebens überblumend, die an sich poetischen nicht über die Wahrscheinlichkeit hinausgehoben.

Ludwig, Otto: Dickens und die deutsche Dorfgeschichte. In: Ludwig, Otto: Romane und Romanstudien. Herausgegeben von William J. Lillyman. München 1977, S. 545-551, hier S. 547.

[Novellen] sind […] überall ganz realistisch ausgeprägt, und dabei in der ganzen Durchführung doch durch den Drang nach Darstellung des Schönen u. Idealen getragen.

Storm, Theodor: Brief an Hartmuth und Laura Brinkmann, 21. 1. 1868. In: Theodor Storm − Hartmuth und Laura Brinkmann. Briefwechsel. Kritische Ausgabe. In Verbindung mit der Theodor-Storm-Gesellschaft hrsg. von August Stahl. Berlin 1986, S. 153-155, hier S. 155.

An einem Spätherbstnachmittage ging ein alter wohlgekleideter Mann langsam die Straße hinab. Er schien von einem Spaziergange nach Hause zurückzukehren; denn seine Schnallenschuhe, die einer vorübergegangenen Mode angehörten, waren bestäubt. Den langen Rohrstock mit goldenem Knopf trug er unter dem Arm; mit seinen dunkeln Augen, in welche sich die ganze verlorene Jugend gerettet zu haben schien, und welche eigenthümlich von den schneeweißen Haaren abstachen, sah er ruhig umher oder in die Stadt hinab, welche im Abendsonnendufte vor ihm lag.

Storm, Theodor: Immensee. In: Volksbuch auf das Jahr 1850 für Schleswig, Holstein und Lauenburg. […], herausgegeben von Karl Biernatzki. Siebenter Jahrgang. Altona [1849], S. 56-86, hier S. 56.

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Wie er so saß, wurde es allmählig dunkler; endlich fiel ein Mondstrahl durch die Fensterscheiben auf die Gemälde an der Wand, und wie der helle Streif langsam weiter rückte, folgten die Augen des Mannes unwillkührlich. Nun trat er über ein kleines Bild in schlichtem schwarzem Rahmen. ›Elisabeth‹, sagte der Alte leise, und wie er das Wort gesprochen, war die Zeit verwandelt; er war in seiner Jugend.

Storm, Theodor: Immensee. In: Volksbuch auf das Jahr 1850 für Schleswig, Holstein und Lauenburg. […], herausgegeben von Karl Biernatzki. Siebenter Jahrgang. Altona [1849], S. 56-86, hier S. 57.

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Hier war er nicht allein; denn bald trat die anmuthige Gestalt eines kleinen Mädchens zu ihm. Sie hieß Elisabeth und mochte fünf Jahre zählen; er selbst war doppelt so alt. Um den Hals trug sie ein rothseidenes Tüchelchen; das ließ ihr hübsch zu den braunen Augen. | ›Reinhardt!‹ rief sie, ›wir haben frei, frei! den ganzen Tag keine Schule, und morgen auch nicht.‹ | […] Reinhardt hatte hier mit Elisabeths Hülfe ein Haus aus Rasenstücken aufgeführt; darin wollten sie die Sommerabende wohnen; aber es fehlte noch die Bank. Nun ging er gleich an die Arbeit; […]  und als Reinhardt endlich trotz manches krummgeschlagenen Nagels seine Bank dennoch zu Stande gebracht hatte und nun wieder in die Sonne hinaustrat, ging sie schon weit davon am andern Ende der Wiese.

Storm, Theodor: Immensee. In: Volksbuch auf das Jahr 1850 für Schleswig, Holstein und Lauenburg. […], herausgegeben von Karl Biernatzki. Siebenter Jahrgang. Altona [1849], S. 56-86, hier S. 57f.

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›Komm, Elisabeth,‹ sagte Reinhardt, ›ich weiß einen Erdbeerenschlag; Du sollst kein trocknes Brod essen.‹ | […] | ›Wo bleiben Deine Erdbeeren?‹ fragte Elisabeth, indem sie stehen blieb und einen tiefen Athemzug that. | […] ›Hier haben sie gestanden, sagte er; aber die Kröten sind uns zuvorgekommen, oder die Marder, oder vielleicht die Elfen.‹ | […] | Vor ihnen war ein kleiner Bach, jenseits wieder der Wald. Reinhardt hob Elisabeth auf seine Arme und trug sie hinüber. Nach einer Weile traten sie aus dem schattigen Laube wieder in eine weite Lichtung hinaus. ›Hier müssen Erdbeeren sein,‹ sagte das Mädchen, ›es duftet so süß.‹ | Sie gingen suchend durch den sonnigen Raum; aber sie fanden keine. ›Nein,‹ sagte Reinhardt, ›es ist nur der Duft des Heidekrauts.‹

Storm, Theodor: Immensee. In: Volksbuch auf das Jahr 1850 für Schleswig, Holstein und Lauenburg. […], herausgegeben von Karl Biernatzki. Siebenter Jahrgang. Altona [1849], S. 56-86, hier S. 61f.

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Während der Ueberfahrt ließ Elisabeth ihre Hand auf dem Rande des Kahnes ruhen. Er blickte beim Rudern zu ihr hinüber; sie aber sah an ihm vorbei in die Ferne. So glitt sein Blick herunter und blieb auf ihrer Hand; und diese blasse Hand verrieth ihm, was ihr Antlitz ihm verschwiegen hatte. Er sah auf ihr jenen feinen Zug geheimen Schmerzes, der sich so gerne schöner Frauenhände bemächtigt, die Nachts auf kranken Herzen liegen. – Als Elisabeth sein Auge auf ihrer Hand ruhen fühlte, ließ sie sie langsam über Bord in’s Wasser gleiten.

Storm, Theodor: Immensee. In: Volksbuch auf das Jahr 1850 für Schleswig, Holstein und Lauenburg. […], herausgegeben von Karl Biernatzki. Siebenter Jahrgang. Altona [1849], S. 56-86, hier S. 82.

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Die Stubenthür ging auf und ein heller Lichtschimmer fiel in’s Zimmer. ›Es ist gut, daß Sie kommen, Brigitte‹, sagte der Alte. ›Stellen Sie das Licht nur auf den Tisch.‹ | Dann rückte er auch den Stuhl zum Tische, nahm eins der aufgeschlagenen Bücher und vertiefte sich in Studien, an denen er einst die Kraft seiner Jugend geübt hatte.

Storm, Theodor: Immensee. In: Volksbuch auf das Jahr 1850 für Schleswig, Holstein und Lauenburg. […], herausgegeben von Karl Biernatzki. Siebenter Jahrgang. Altona [1849], S. 56-86, hier S. 85f.

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