Professor Dr. Claus-Michael Ort
Vorlesung: Literatur der Avantgarden (Wintersemester 2020/21)

Surrealismus III: Luis Buñuel / Salvador Dalí (Un chien andalou)

Inzwischen haben Sie hoffentlich den legendären Film-‚Klassiker‘ des Surrealismus Un chien andalou (1928; UA 1929, dt. Erstaufführung 1963) gesehen, so dass wir eine analytische Sichtung in Angriff nehmen können:

Vielleicht haben Sie auch bereits auf rekurrente Semantiken, Bild- und Musik-Motive geachtet. Und ich erinnere auch an das Zitat von Stefan Volk aus dem neunten Themenabschnitt:

Der Schnitt, der in dieser legendären Eröffnungsszene das Auge durchtrennt, wird letztlich nicht vom Rasiermesser, sondern von der filmischen Montage ausgeführt. Auf geniale Weise verschränken sich hier Form und Inhalt: erst der Filmschnitt gebiert den Schnitt durchs Auge, der wiederum den Filmschnitt symbolisiert. Denn wie das Messer das Organ der Erkenntnis durchtrennt, so zerschneidet die Montage die narrative Kohärenz des Filmes. Und so wie der Mann seine Rasierklinge an das Auge der Frau legte, legten Buñuel und Dali ihre Klingen an das Auge des Zuschauers.

[Stefan Volk: Skandalfilme. Cineastische Aufreger gestern und heute. Unter Mitarbeit von Barbara Scherschlicht. Marburg 2011, S.43]

Biographische Einzelheiten zu Buñuel und Dalí entnehmen Sie wie gesagt den detailreichen Artikeln einer gängigen Online-Enzyklopädie.

Luis Buñuel

Grundthema von Buñuels Filmen ist ein in gesellschaftlichen, politischen und religiösen Ritualen erstarrtes Bürgertum und der Kampf gegen seine sinnentleerten Routinen, so z.B. in Viridiana (1961), El Angel Exterminador (Der Würgeengel, 1962), in Le charme discret de la bourgeoisie (Der diskrete Charme der Bourgeoisie, 1972) oder in Le fantôme de la liberté (Das Gespenst der Freiheit, 1974) und in Cet obscur objet du désir (Dieses obskure Objekt der Begierde, 1977).
Buñuel studiert Literatur, Philosophie und Geschichte, lernt den Lyriker und Dramatiker Federico García Lorca (geb. 1898, gest. 1936) und den katalanischen Maler Salvador Dalí [i Domènech] (geb. 1904 in Figueres, gest. 1989 ebd.) kennen und beschäftigt sich 1923 erstmals mit der Psychoanalyse Freuds.
Nachdem Un chien andalou innerhalb von zwei Wochen in Paris gedreht worden ist, stellt Buñuel den Film Louis Aragon und dem US-amerikanischen Photographen und Objektkünstler Man Ray (d.i. Emmanuel Rudnitzky; geb. 1890, gest. 1976) vor, die sich beide für den Film begeistern. Während der Premiere am 6. Juni 1929 in Paris spielt Buñuel argentinische Tango-Musik im Wechsel mit Ausschnitten aus Richard Wagners Musikdrama Tristan und Isolde (1865) auf einem Grammophon. Das Publikum reagiert unerwartet positiv auf den Film, dessen Schock-Effekte und Kohärenzbrüche beklatscht werden. Auf den drei- oder vierhundert Plätzen des Uraufführungskinos hätten allerdings nur „Aristokraten und Künstler“ gesessen, so Buñuel, lauter „Leute, die die Cahiers d’Art lasen oder darin schrieben. […] Am Ende des Films erhoben sie sich und klatschten lange Beifall; […].“ [Buñuel zitiert aus: Alice Goetz / Helmut W. Banz (Hrsg.): Luis Buñuel. Eine Dokumentation. Frankfurt/M.: Verband der Deutschen Filmclubs e.V. 1965, S. A 35]

Ausbleiben des Skandals

Der Skandal bleibt trotz der Eröffnungsszene aus – ‚Surrealismus‘ wird zumindest in bestimmten Kreisen des modernen Bildungsbürgertums zur ‚Marke‘, die sich durch inzwischen längst erwartbare Provokationen definiert. Un chien andalou läuft über mehrere Wochen in Paris und wird bereits 1929 in Filmklubs und Avantgarde-Zirkeln weltweit gezeigt. Der Surrealisten-Gruppe um Breton, in die Buñuel und Dali zuvor aufgenommen worden sind, scheint der anhaltende Kino-Erfolg des Filmes jedoch verdächtig, unterminiere er doch dessen ‚Avantgarde‘-Status und seine verstörende Wirkung. Die deutsche Erstaufführung findet allerdings erst am 15. März 1963 in Berlin statt.
Bereits einige Monate nach der Uraufführung des chien andalou beginnt Buñuel, der sich nun zusehends von Dalís Drehbuchvorschlägen distanziert, mit der Arbeit an seinem zweiten, stark anti-klerikalen Film L’âge d’or (Das goldene Zeitalter, 1930). Die Uraufführung dieses einstündigen Tonfilms verursacht endlich den ‚erwünschten‘ Skandal, erzählt der Film doch die Geschichte zweier Liebender, die sich aller kirchlichen und bürgerlichen Zwänge entledigen. Nach den ersten Aufführungen beginnen rechtsradikale Gruppen wie die ‚Liga der Patrioten‘ in Filmtheatern und in Ausstellungen surrealistischer Bilder zu randalieren, so dass der Film schließlich verboten wird.
Aber zurück zu Un chien andalou: Auch er wollte als Waffe gegen die ‚Bürgerlichkeit‘ verstanden werden, als ‚Avantgarde‘ des Surrealismus. Dass der Film dennoch zum Erfolg wird, liegt jedoch nicht nur daran, dass er vor allem vor einem Publikum gezeigt wird, zu dessen Erwartungshorizont auch bereits die ‚Schocks‘ der Avantgarde gehören.

Im Dezember 1929 [1930] erscheint in der Nr. 12 der Zeitschrift La Révolution surréaliste (Thementitel: „Welche Art von Hoffnung verbinden Sie mit der Liebe?“) nicht nur das Zweite Manifest des Surrealismus von André Breton, sondern auch die einzig autorisierte Fassung des Drehbuches von Buñuel und Dalí. Buñuel beklagt den vereinnahmenden Beifall und beharrt beinahe verzweifelt auf dem Normbruch-Status des Films:

Die Veröffentlichung dieses Drehbuchs in La Révolution surréaliste ist die einzige, zu der ich meine Zustimmung gebe. Sie bringt ohne jegliche Einschränkung meine bedingungslose Zustimmung zum surrealistischen Denken und Handeln zum Ausdruck. Ein andalusischer Hund gäbe es nicht, wenn es den Surrealismus nicht gäbe. Ein Erfolgsfilm. So urteilen die meisten derer, die ihn gesehen haben.
Was kann ich aber ausrichten gegen die leidenschaftlichen Anhänger alles Neuen, selbst wenn dieses Neue ihre tiefsten Überzeugungen verletzt, gegen eine bestochene oder unehrliche Presse, gegen diese schwachsinnige Masse, die das schön oder poetisch fand, was im Grunde nichts anderes ist als ein verzweifelter, ein leidenschaftlicher Aufruf zum Mord?

[La Révolution surréaliste Nr.12, 1929, S.34-37, hier S.34]

Zu der im Zweiten Manifest des Surrealismus von André Breton ebd. beschworenen „crise de conscience“, also zu einer „Bewusstseinskrise […] schwerwiegendster Art“, „in intellektueller und moralischer Hinsicht“, scheint der Stummfilm von Buñuel und Dalí jedenfalls kaum mehr beizutragen.

Auch Salvador Dalí schwelgt in seiner Autobiographie (1942) von der behaupteten epochalen Provokationsfunktion des Films und distanziert sich zugleich von der vermeintlich ‚toten’ Abstraktion des ‚Avantgardismus’ nach dem Ersten Weltkrieg, der er als im weitesten Sinn gegenständlicher Maler fernsteht:

Der Film erzielte die von mir erwarteten Resultate. Er machte an einem einzigen Abend zehn Jahre pseudointellektuellen Nachkriegsavantgardismus zunichte. Dieses schändliche Zeug, das man abstrakte Kunst nannte, fiel uns auf den Tod verwundet vor die Füße, um nie wieder aufzustehen, nachdem sie gesehen hatten, wie das Auge eines Mädchens von einer Rasierklinge durchschnitten wird. In Europa war kein Platz mehr für die manischen kleinen Rechtecke von Herrn Mondrian.

[Salvador Dalí: The Secret Life of Salvador Dalí (1942). Translated by Haakon M. Chevalier. New York: Dover Publ. o. J., S.248-249]

Wunschdenken, Selbstüberschätzung und anti-‚modernistische‘ Selbstprofilierung im bildkünstlerischen Konkurrenz-Feld, weshalb sich Dalí übrigens zeitweise sogar dem Verdacht aussetzt, mit dem Nationalsozialismus zu sympathisieren!
Zu Erinnerung unten ein Tableau (1921) des niederländischen Pioniers der abstrakten konstruktivistischen Malerei Piet Mondrian (geb. 1872, gest. 1944), der zusammen mit Theo van Doesburg und anderen 1917 in Leiden die Maler-, Architekten- und Designer-Gruppe (einschließlich Zeitschrift) De Stijl gründet, die ähnliche Ziele verfolgt, wie die 1919 in Weimar von Walter Gropius gegründete Kunstschule Staatliches Bauhaus:

Aber weiter Dalí:

Ich hatte einen Film entworfen, von dem ich wollte, dass er die Denk- und Sehgewohnheiten und den Geschmack der Intellektuellen und Snobs der Hauptstadt an spießbürgerlicher Unterhaltung schockierte und erschütterte, einen Film, der jeden Betrachter in die geheime Mitte seiner Kindheit, zu den Quellen des Traums, des Schicksals und des Geheimnisses von Leben und Tod zurückversetzen sollte.

[Salvador Dalí: So wird man Dalí. Zusammengestellt und präsentiert von André Parinaud. Wien, München, Zürich: Molden 1974, S.85]

Solche traum-analytischen, quasi therapeutischen Ziele verfolgt die surrealistische Malerei in der Tat, nicht nur der bald – neben Max Ernst – zu einem ihrer führenden Vertreter aufgestiegen Dalí, der sich als Ikone ‚Dalí‘ und zusehends auch als populärkulturelle ‚Marke‘ kommerziell erfolgreich etabliert. Nur um die zugleich erhoffte Schock-Wirkung war es offenkundig schon von Anfang schlecht bestellt. – Auf Dalí als Maler kann hier nur am Rande und in exemplarischen Bild-Zitaten hingewiesen werden:

(externer Link) L‘énigme de désir – Ma mère – ma mère – ma mère, 1929

(externer Link) Persistance de la mémoire [Zerrinnende Zeit / Die Beständigkeit der Erinnerung], 1931

Obwohl Un chien andalou in formaler und semantischer Hinsicht die Kriterien surrealistischer Kunst erfüllt, die Breton im Ersten Manifest des Surrealismus (1924) formuliert hat, hält sich seine Skandal-Wirkung in Grenzen, was Breton bis zuletzt auch für die Avantgarden insgesamt beklagt. 1938 lobt er zwar Un chien andalou und L`Age D´Or als die beiden einzigen

vollkommen surrealistischen Filme (gleichermaßen in der Ausführung wie in der Absicht). […] Ein andalusischer Hund und vor allem Das goldene Zeitalter konfrontieren also das Publikum zum ersten Mal mit einer Folge von Ansprüchen, denen es sich nicht entziehen kann: das ist kein Traum und es gibt keinen symbolischen Schlüssel. In Ein andalusischer Hund ist es wahrhaftig der absolute Irrationalismus, der sich als der Herr der Straße erweist […].
Buñuel hat dem Surrealismus bewusst gemacht, wie der Übergang sein könnte zur direkten Aktion, die ich (maßvoll) am Ende des ersten Manifests (1924) gefordert hatte. Allein schon durch seine ihm ganz eigenen Methoden hat er uns sehr geholfen das Stadium der theoretischen Spekulation zu überwinden. Er hat in sehr konkreten menschlichen Situationen das realisiert, was wir – zumindest damals – aus unseren Wünschen heraus im Kampf mit dem Leben nur schlecht erkennen konnten. Er hat aus den Wünschen etwas sehr stark Erschütterndes hervortreten lassen, so wie er auch uns selbst mit tatsächlich existierenden Wesen konfrontiert hat, die die Extreme unserer Abgründe verkörperten.

[(externer Link) André Breton: Conférences de Mexico. OEuvres complètes II, 1260-1285. 1992 / Présentation d’un chien andalou: 1263-1266.]

Das performative Instrument des ‚Skandals‘ versagt jedoch, je erfolgreicher der Surrealismus wird. Luis Buñuel erinnert sich:

Um 1955 habe ich ihn [Breton] einmal in Paris getroffen, als wir beide auf dem Weg zu Ionesco waren. […]. Ich fragte ihn, warum Max Ernst aus der Gruppe ausgeschlossen worden sei – man warf ihm vor, dass er den Großen Preis der Biennale von Venedig angenommen habe. „Was soll man machen, mein lieber Freund“, antwortete Breton, „wir haben uns von Dalí getrennt, als er ein übler Händler geworden war, und jetzt macht Max dasselbe.“ Breton schwieg einen Moment, dann fügte er mit einem Ausdruck tiefen, wirklichen Kummers im Blick hinzu: „Es ist traurig, mein lieber Luis, aber mit dem Skandal ist es vorbei.“

[Luis Buñuel: Mein letzter Seufzer. Erinnerungen [1982]. Mit einem Vorwort von Jean-Claude Carrière und einer Besprechung von Jörg Fauser. Aus dem Französischen von Frieda Grafe und Enno Patalas. Berlin: Alexander Verlag 2004, S,163; zum ‚Skandal‘ auch S.153-154, S.173]

1953 opponiert Breton gegen eine formal und narrativ ähnliche Moderne und stilisiert den Surrealismus zu einer ‚Offenbarung‘, zu einer beinahe ‚mystischen‘ Ersatzreligion:

Wir stehen hier […] vor einer ganz anderen Absicht, als sie etwa Joyce hegen konnte. Es geht hier nicht mehr darum, sich der freien Gedankenassoziation zu bedienen, um ein literarisches Werk hervorzubringen, das durch seine Kühnheiten alle vorangegangenen zu überbieten sucht, das durch das Heranziehen polyphonischer, polysemantischer und anderer Mittel jedoch eine ständige Rückkehr zur Willkür bedeutet. Für den Surrealismus ging es einzig darum, den ‚Urstoff‘ (im Sinne der Alchimie) der Sprache erfasst zu haben. […] die poetische Intuition […], [die] im Surrealismus endlich frei geworden [ist] […], gibt uns den Faden an die Hand, der zurückführt auf den Weg der Gnosis, weil sie Kenntnis der suprasensiblen Realität ist, „unsichtbar sichtbar ein einem ewigen Geheimnis“.

[André Breton: Was der Surrealismus will (1953), in: André Breton: Die Manifeste des Surrealismus. Deutsch von Ruth Henry. Reinbek: Rowohlt 1986; S.125-132, hier S.128 und S.132; Kursivierungen im Original, Unterstreichungen von CMO; Zitat im Zitat sinngemäß aus J. W. Goethe: Faust I]

[Vgl. auch: Donald Kuspit: Der Kult vom Avantgarde-Künstler (1993). Aus dem Amerikanischen von Ingrid Simon. Klagenfurt: Ritter 1995, zu Expressionismus und Surrealismus v.a. S.113-134; Zur deutschen zivilisationskritisch-esoterischen Variante siehe u.a.: Peter Ulrich Hein: Die Brücke ins Geisterreich. Künstlerische Avantgarden zwischen Kulturkritik und Faschismus. Reinbek: Rowohlt 1992]

Historisierung, Ästhetisierung zu einem jederzeit reproduzierbaren ‚Stil‘ und Kommerzialisierung erscheinen zumindest für Breton, so ist festzuhalten, als Feinde eines Surrealismus, der auf ‚Schock‘, ‚Überraschung‘ und ‚Skandal‘ setzt. Darin offenbart sich aber zugleich eine tieferliegende Aporie des Surrealismus, also eine spezifisch ‚surrealistische‘ Variante des für die Avantgarden konstitutiven und je unterschiedlich verarbeiteten – ausgeblendeten oder forcierten – Selbstwiderspruchs. Gerade durch seine ‚wissenschaftliche‘, v.a. psychoanalytische Selbstdeutung und Instrumentalisierung droht sich der Surrealismus der skandalisierenden Wirkung seiner künstlerischen und ‚traumanalogen‘ Mittel von vornherein zu berauben, weist er den dadaistischen, spielerisch entfesselten Kohärenzbrüchen (‚Schnitten‘) doch eine tiefenpsychologisch ‚therapeutische‘, z.T. auch philosophisch und ersatzreligiös überhöhte Funktion zu. Die ästhetisch zweckfreien und dadurch verstörenden Erwartungsbrüche im Bereich von Kunst und Poesie (Schwitters!) werden sinnhaft motiviert, ‚wissenschaftlich‘ oder politisch gedeutet und gleichsam ‚eingefangen‘, eingerahmt.

Und wenn man der Freudschen Psychoanalyse und Kulturtheorie zumindest für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts auch nur ein Fünkchen diagnostischen Wahrheitswert zubilligen möchte, dann beträfen die traumanalogen Bilderfolgen im chien andalou in der Tat ein individuelles und kollektives ‚Unbewusstes‘ – „unsichtbar sichtbar“ (Faust I, s.o.) –, das zwar ‚verdrängt‘ und verschüttet sein mag, aber weder undeutbar oder sinnlos noch gänzlich unbekannt ist. Dessen Visualisierung erweist sich dann auch nicht zwingend als ‚skandalös‘, sondern mag auf ein Publikum durchaus erhellend, kathartisch und therapeutisch ‚heilsam‘ wirken.

Bretons oben zitierte Aussage über den Film – „das ist kein Traum und es gibt keinen symbolischen Schlüssel“ – widerspricht also den rationalen, außerkünstlerischen bzw. kunstfremden Zielen des Surrealismus, der sich aber zugleich auch noch zum Rätsel und zur hermetischen Kunst-Offenbarung mystifizieren möchte. Der (‚kunsttherapeutische‘, kathartische?) Erfolg des Surrealismus torpediert somit seine Avantgarde-Ästhetik.
Und dass Un chien andalou traumanalog verfasst ist, also auf einer Semiotik von ‚Verschiebung‘ und ‚Verdichtung‘ beruht, die Freuds Traumdeutung (1900) für ‚Traumarbeit‘ und ‚Deutungsarbeit‘ gleichermaßen annimmt, ist nicht zu leugnen – und zwar ganz unabhängig davon, ob sich seine Bilderfindungen auf geträumte Träume von Buñuel und Dalí beziehen oder nicht. Es gibt jedenfalls – wie im Falle der Collagenromane von Max Ernst – einen Deutungs-‚Schlüssel‘, den der Film selbst bei genauer analytischer Rezeption preisgibt und der sich überdies aus der psychoanalytischen Selbstfundierung des Surrealismus ableitet.

Entstehungslegende

Der andalusische Hund sei, so die nachträgliche Erzählung von seiner Entstehung, vor allem von zwei Träumen von Buñuel und Dalí inspiriert, die das Drehbuch in Anlehnung an das Verfahren der écriture automatique geschrieben haben wollen. Buñuel erzählt die ‚Geschichte‘ wie folgt:

Der Film ging aus der Begegnung zweier Träume hervor. Dalí hatte mich eingeladen, ein paar Tage bei ihm in Figueras zu verbringen, und als ich dort ankam, erzählte ich ihm, dass ich kurz vorher geträumt hätte, wie eine langgezogene Wolke den Mond durchschnitt und wie eine Rasierklinge ein Auge aufschlitzte. Er erzählte mir seinerseits, dass er in der voraufgehenden Nacht im Traum eine Hand voller Ameisen gesehen habe, und fügte hinzu: „Und wenn wir daraus einen Film machten?“ […].
Das Drehbuch wurde in weniger als einer Woche nach einer sehr einfachen Regel geschrieben, für die wir uns in voller Übereinstimmung entschieden hatten: keine Idee, kein Bild zuzulassen, zu dem es eine rationale, psychologische oder kulturelle Erklärung gäbe; die Tore des Irrationalen weit zu öffnen; nur Bilder zuzulassen, die sich aufdrängten, ohne in Erfahrung bringen zu wollen, warum.

[Luis Buñuel: Mein letzter Seufzer. Erinnerungen [1982]. Mit einem Vorwort von Jean-Claude Carrière und einer Besprechung von Jörg Fauser. Aus dem Französischen von Frieda Grafe und Enno Patalas. Berlin: Alexander Verlag 2004,, S.147-148].

Im Folgenden ist nun – wie gesagt – nicht beabsichtigt, eine eingehende Analyse der semantischen Struktur des Filmes zu bieten. Ich werde lediglich einen – allerdings zentralen – Bedeutungskomplex isolieren, seine Transformationen und Variationen durch die Filmerzählung des chien andalou hindurch verfolgen und Sie auf einige damit korrelierte Themen und Leitmotive hinweisen. Wenn Sie den Film erneut sichten und an den jeweiligen Stellen (t 0 bis t 9) bei Bedarf anhalten, können Sie zumindest einen möglichen zusammenhängenden (kohärenten) ‚Weg‘ durch die Räume und Zeiten der dargestellten Welt (Diegese) beschreiten – und erhalten einen Eindruck von der Komplexität und Dichte dieser Filmnarration.

Analyse

Zu fragen wird sein:
1) Wie wird die semantische Opposition von ‚weiblich‘ () und ‚männlich‘ () thematisiert, was ‚erzählt‘ der Film also über erotische Geschlechterbeziehungen, Identitäten, Prozesse der Maskulinisierung des Weiblichen (– ) und der Effemination des Männlichen (-) ?

2) Welche Rolle spielen Fragmentierungen des Körpers, fetisch-artig isolierte Körperteile und Körperöffnungen (Mund, Augen, Hand) dabei?

3) Wie ist das im berühmten ‚Prolog‘ (Wolke : Mond ≈ Messer : Auge) allegorisch verbildlichte Thema des Sehens damit verknüpft?
Beobachtung des visuellen Beobachtens: äußeres oder inneres visionäres, antizipierendes oder erinnerndes Sehen?

4) Welche bildlichen Leitmotive kehren in den genannten Bedeutungszusammenhängen in Variationen wieder (‚Dingsymbole‘ als Sexualsymbole; ikonographische Konnotationen)?

zu Frage 2 bis 4

5) Wie im Falle der Femme 100 Têtes ist nach traumanalogen Verfahren der Verschlüsselung im Sinne von Freuds Traumdeutung zu fragen:
‚Verdichtung‘ (Leerstellen, Auslassungen, Prolepsen / Analepsen, ‚Schnitte‘ und ihre Funktion für Zeitstruktur und Erzählsituation?)
‚Verschiebung‘ (Anspielungen als konnotative Bedeutungserweiterungen à la Barthes) sowie metonymische und metaphorische Substitutionen.

6) Außerdem schlage ich vor, zumindest die Freudsche Unterscheidung von ‚Ich‘, ‚Über-Ich‘ (Moral, Gesetz, Kirche, Staat, Hochkultur, …) und ‚Es‘ (Sexualität, Triebnatur) versuchsweise als Konnotationsraum für einzelne Elemente der dargestellten Welt zu nutzen.

Auch für die Interpretationen von Un chien andalou gilt leider allzu oft, was der im neunten Themenabschnitt zitierte Holger Lund anlässlich von Max Ernsts Collagen an einer Literatur- und analog: an einer Filmwissenschaft kritisiert, die ihre eigene Ungenauigkeit, ihre Text- und Bild-‚Blindheit‘ (!) in vermeintlich bedeutungslose Zeichen, dunkle und im besten Fall rätselhafte Kunstwerke hineinprojiziert. –
Selber analysieren, selber hinsehen, lautet die Devise!

Um mit einem Beispiel zu starten:
Klaus Eder konstatiert allen Ernstes, das „leitmotivische Kästchen“ (S.62) sei „leer und sinnlos, kein Symbol, nichts“ (ebd.). Wer den Film gesehen hat, weiß, wie falsch die Aussage ist – es ist alles andere als ‚leer‘ oder bedeutungslos, außer man hielte die Krawatte, ihr Stoffmuster und eine abgetrennte Hand für keine interpretationsfähigen ‚Inhalte‘.

[Klaus Eder / Peter W. Jansen / Luis Buñuel u.a.: Luis Buñuel. Reihe Film 6. München, Wien: Hanser 1975 (= Reihe Hanser 191)]

Sowohl der filminterne Konnotationskontext als auch der filmexterne, kulturelle Konnotationshintergrund des ‚Kästchens‘ erweisen sich als hochgradig bedeutungstragend. Ganz abgesehen davon, dass das ‚Kästchen‘ – verschlossen, geöffnet oder aufgebrochen – als altes weibliches Sexualsymbol gilt und auch in Gemälden von Salvador Dalí zu finden ist, fungiert es, wie Einstellungen des Filmes nahelegen (z.B. die Totale auf das verschlossene Kästchen) auch als Allegorie von äußerer Form (discours) und Inhalt (histoire), von Zeichen (Signifikant) und verhüllter Bedeutung (Signifikat). Es verweist somit indirekt auf das Problem der Interpretation selbst: Unter seiner Oberfläche verbirgt sich das später entnommene Innere – die ‚männliche‘ Krawatte – oder das in ihm geborgene tote Fleisch der abgetrennten Hand. Und am Ende des discours tritt der Mann das aus dem Fenster geworfene und zerbrochene Kästchen, welches seine ‚Inhalte‘ längst preisgegeben hat, als wertloses Strandgut ‚mit Füßen‘.

In Dalís Les plaisirs illuminés (Erleuchtete Lüste, 1929) fungieren Kästchen auch als Guckkästen und gerahmte Binnen-Bildwelten, in deren rechter sich – wie im Film – weiblich konnotierte (Ei), männliche Fahrradfahrer bewegen.

Eine gestreifte Krawatte – ähnlich derjenigen des ‚schneidenden‘, die Sehfähigkeit seines freiwilligen Opfers raubenden Mannes aus dem Prolog – erscheint mehrfach als isoliertes männliches Attribut und ihr Streifenmuster wird auf das Einschlagpapier der Krawatte im ‚weiblichen‘ Kästchen und auf die Deckel-Oberfläche des Kästchens selbst appliziert, das wiederum als Accessoire des effeminierten fahrradfahrenden Mannes fungiert. Kästchen ♀ und Krawatte ♂ gehören also zum Paradigma der instabil flottierenden Geschlechtsmerkmale, die die Filmdiegese in vielfältigen Verflechtungen und Überblendungen in Umlauf setzt.

Bevor nun die einzelnen semantischen Stationen des discours (Sequenzen) mit Standbildern illustriert und stichpunktartig mit Blick auf die Fragen 1. bis 6. aufeinander bezogen werden, sollten wir uns zumindest grob die Erzählsituation („Es war einmal“: discours-Position t 0) und die zirkuläre Verschränkung – wie ein analeptisch-proleptisches Möbius-Band – von discours (das ‚Wie‘ der Erzählung im konkreten Nacheinander) und histoire vergegenwärtigen (das ‚Was‘ der Erzählung: Ereignis-Chronologie, zyklische Tages- und Jahreszeiten versus lineare Zeit: die Szenen t 0 bis t 8 [9]).
Wie die Musik in ihrer Abfolge aus Tango und ekstatischer Liebestod-Musik aus Wagners Tristan und Isolde in einer potentiellen Endlosschleife ausläuft, so verfängt sich die Erzählstruktur in einer zirkulären Zeitschleife aus Vergangenheit und Zukunft.

Und lassen Sie sich bitte nicht durch die beiden schematischen Darstellungen abschrecken, die sich erst nach dem kommentierenden discourshistoire-Parcours erschließen werden. Die analeptische Relation der Zeitangaben auf den Texttafeln und die daraus resultierende Differenz von discours und histoire können sie uns aber schon jetzt vor Augen führen.

t 0 TANGO und ein märchenhaftes “Es war einmal”

Poetologisch programmatische Schlüsselszene: Die Mond-Wolken-Situation (Wolke durchschneidet Mond und verhüllt Licht) als quasi-objet trouvé , d.h. als Zufallssituation in der natürlichen Außenwelt, die auf dem Balkon, also im Grenzbereich von Innen und Außen, beobachtet wird und als formale Analogie des dann (Prolepse!) vollzogenen Augenschnitts gelten kann: Die filmischen Schnittfolge vollzieht den Übergang vom Wolkenschnitt zum Augenschnitt als semantische Übertragung (gr. ‚meta-pher‘), ohne dass beide Schnitte einander jedoch metaphorisch ersetzen könnten.
Dem von Luis Buñuel dargestellten Mann wächst beim Akt des Aufschneidens übrigens zusätzlich zum Rasiermesser ein weiteres Merkmal bürgerlicher ‚Männlichkeit‘ zu, das ihm zuvor fehlt: eine schmal gestreifte Krawatte.
Konnotation: Lunares Moment (mondsüchtig, somnambul) => inneres, ‚blind‘ imaginierendes, aktives ‚Sehen‘.

t 5 WAGNER  “8 Jahre später”

reduzierte Männlichkeit ♂- : Verweiblichung, dann Abspaltung bzw. Verlust der äußerlichen ♀-Merkmale (Kleidungsstücke): Zugewinn eines männlichen Attributes (Krawatte ♂) Unfall des verweiblichten (transvestierten) Fahrradfahrers mit dem gestreiften Kästchen (Krawatten-Streifen aus t 0). Antizipatives Sehen der Frau: sie betrachtet Spitzenklöpplerin-Gemälde von Vermeer (traditionelle Frauenrolle!) und wechselt von Kunst-Buch- zu Außenwelt-Rezeption: Beobachtung des Unfalles (Phantasie oder Wirklichkeit?)

Die Frau holt den von ihr wiederbelebend geküssten (oder nach seinem Sturz nur als lebend imaginierten?) Verunglückten oder jedenfalls seine Accessoires (♀ ♂) in ihre Wohnung; er wird von seinen weiblichen Kleidungsstücken befreit, sie entnimmt dem Kästchen (♀) eine gestreifte Krawatte und fügt diese als zeitweise ‚verdrängtes‘ männliches Attribut dem Merkmals-Ensemble hinzu (♂): Die Kleidungsstücke werden anthropomorph (und doppelgeschlechtlich) auf einem Bett drapiert: Kästchen als Bauch, Röckchen, Kragen, Krawatte (♀ ♂); hypnotisiert starres bzw. hypnotisierendes, ‚belebendes‘ Sehen der Frau => die Krawatte bindet sich von selbst. Der plötzlich anwesende Mann verharrt in ebenso starrer aber wirksamer Selbstbeobachtung – er durchdringt visuell seine Handfläche, aus deren Öffnung das Animalische (Ameisen) dringt; die Frau beobachtet ihn.

t 6 WAGNER

Zweite Beobachtung einer ♀/♂- Person auf der Straße, nun aber einer eher androgyn vermännlichten, nicht transvestierten jungen Frau. Mann und Frau beobachten gemeinsam, wie jene mit einer abgetrennten Hand (zweiter Körperteil-‚Schnitt‘) ‚spielt‘, sie entrückt betrachtet und mit ihrem Stock berührt und bewegt;

Ein Gendarm (Über-Ich-Vertreter ♂+) übergibt ihr das ‚gestreifte‘ Kästchen als symbolisch verweiblichendes Merkmal (♀), in das er zuvor die Hand hineingelegt hat. Das Kästchen (♀) dient also erneut der Aufbewahrung / Einschließung eines ‚abgetrennten‘ bzw. verlorenen Teils (♂): Kastrationsäquivalent? Danach gemeinsame (♂ / ♀) Beobachtung des selbstmörderisch provozierten Unfall-Todes der noch immer entrückten Frau vom Fenster aus; uneindeutige Geschlechtsidentität wird von der Diegese zum zweiten Mal als offenkundig gefährlich, als zumindest in dieser Form nicht dauerhaft lebbarer Zustand gesetzt.

t 7 TANGO

sexuell aktive, gesteigerte Männlichkeit (♂+) => sukzessive reduzierte Männlichkeit (♂-): das ‚Joch’ der Über-Ich-Kultur führt zu Verweiblichung, Passivität (Bett); imaginative Lusterfüllung durch phantasierte Nacktheit; visuelles und körperliches Begehren als ‚blindes‘ geiferndes Sehen von ♂: Brüste werden zu Gesäß.

Bewegt werden zwei Konzertflügel + zwei Priesterseminarschüler + tote Natur (zwei Eselskadaver) + zwei Steinplatten (Konnotation: Gesetzestafeln des Dekalogs im AT: Buch Exodus) + zwei Kugeln. Das sexuell aggressive Patriarchat ersetzt die Triebenergie (Es) also zeitweise durch eine äquivalente aber sublimierende, kulturelle Aktivität (Über-Ich), die jedoch den symbolischen Relikten einer ‚verwesten‘ Hochkultur gilt: eingespannt in das Joch ‚toter‘ Kultur.

Abbruch der Beobachtung => Ende der Über-Ich-‚Fron-und-Spanndienste‘ => Frau verhindert die erneute Verfolgung durch ♂-Mann und klemmt dessen Hand in Türe ein (Körperfragmentierung, weitgehende Ausgrenzung des Mannes) => Re-Animalisierung des ♂: ersatzweise bricht aus der Hand das animalische Es hervor (erneute symbolische Libido-Verschiebung: Triebumlenkung zur Pseudo-Geburt der Ameisen): Sie beobachtet die Ameisen kurz, wendet den Blick dann ab.

Sie imaginiert / ‚sieht‘ ihn sodann wieder im Innenraum als erneut verweiblichten Mann mit dem Kästchen (♀) und den Kleidungs-Accessoires (♀) des Fahrradfahrers auf dem Bett liegen: ‚er‘ schaut nach oben – nun ungefährlich, aber dafür effeminiert und infantilisiert.

t 8 weiterhin TANGO „gegen 3 Uhr früh“

Nächtlicher Auftritt des abgespaltenen, gesteigert männlichen Alter-Ego-Anteils ♂+ (Hut): Erzwungene Trennung von den äußeren Attributen des weiblichen Ich-Anteils (♂- ≈ ♀) und dessen ‚Bestrafung’ durch den ausgeschlossenen ♂-Anteil. Dieser kommt als ‚väterlich‘ strafender ♂-Doppelgänger von außen; hilfesuchender Blick des unbeweglich liegenden ♀-Mannes auf isoliert agierende Barkeeper-Unterarme, die den Cocktail-Shaker schütteln und aus einem ‚weiblich‘ nährenden Raum herausragen, der die ‚Flasche gibt‘ (mütterliche Brüste).

Konnotation, wie schon im Falle des Fahrradfahrers: Beginen-Tracht (Beginen: weibliche Angehörige eines asketisch-karitativen Laienordens seit dem Mittelalter);

Erneuter, nun gewaltsamer und vollständiger Verlust der weiblichen Kleidungsstücke einschließlich des Kästchens: sie werden aus dem Fenster (≈ auf den Strand: t3!) geworfen; Beginn der Re-Maskulinisierung des vom ‚väterlich‘ strengen und strafenden Hut-Träger (♂ +) aus dem Bett gezerrten verkleideten, kindlichen Mannes.
Effeminierung weicht also vorübergehender Infantilisierung, die die Erziehung zur ‚Männlichkeit‘ des äußerlich ‚Zurückverwandelten‘ durch ‚väterliche‘ Bestrafung aber noch forciert. Wie ein Schuljunge steht er an der Wand vor einem Tennis-Schläger in Kreuzigungshaltung (Über-Ich-Funktion des Tennisschlägers bereits in t 7 bei Abwehr der Frau);
Erst jetzt entledigt sich die Straf-Instanz (♂) ihres Hutes, verzichtet also selbst auf ein Symbol von Männlichkeit, wendet sich erstmals um und zeigt, begleitet von einsetzender Tristan-Musik (Wagner), ihr Alter-Ego-Gesicht (Rollenwechsel von ♂+ zu ♂-). Wichtig: Nach dem Musik-Wechsel erfolgt in der Innenraum-Situation von t 8 auch ein analeptischer Schnitt (Rückblick): Zwischentitel „vor 16 Jahren“, danach Zeitlupe (Traum? Erinnerung? Regression?).

t 1 „vor 16 Jahren“ (= acht Jahre vor t 0) WAGNER

Der immer noch in demütigender ‚Buß‘-Haltung verharrende, partiell re-maskulinisierte Mann wird nun von seinem, mehr brüderlich als väterlichen anmutenden Alter-Ego mit ‚Kultur‘ (Über-Ich: die eigenen Skizzenbücher auf der Schulbank) erzieherisch belastet und ist zugleich einer imaginären Regression zum Schulkind unterworfen. Die Schule erscheint als Über-Ich-Instanz: Skizzenbücher mit Klecksen, Zeichnungen, Schreibgeräte auf der Schulbank; die Bücher werden zugeklappt ≈ Scheitern der kulturellen Sublimierung oder Ende der Adoleszenz / Schulzeit? Erwachsen-werden?

Der nun seinerseits besänftigte ♂-Doppelgänger nimmt die Skizzenbücher an sich und übergibt sie seinem büßenden ♀-Anteil, dessen Hände damit kulturell (Über-Ich) belastet werden – eine erneute Chance auf kulturelle Trieb-Sublimierung.
Gestisch liebevolle und mitleidig zugewandte Annäherung beider Partial-Personen (reduziert ♂ + reduziert ♀) in Zeitlupe; der geschwächte, nun Hut-lose und weiß gekleidete ehemalige ♂-Anteil wendet sich jedoch resigniert und kopfschüttelnd ab. Es findet keine Vereinigung oder Harmonisierung der beiden im Merkmals-Tausch begriffenen, antagonistischen Ego-Anteile in Selbstliebe statt – trotz der begleitenden Höhepunkte der Liebesvereinigungs-Musik aus Wagners Tristan und Isolde. – Wieder Normal-Laufgeschwindigkeit!
Der vermännlichte Büßende wird nun aktiv: Bücher werden zu Revolvern. Er scheint erfolgreich maskulinisiert, ermannt sich und schießt seinen nun immer schwächer und passiver werdenden Doppelgänger nieder (≈ zugleich auch ödipaler Vatermord des erwachsen gewordenen ‚Sohnes‘?). Merkmalstausch der beiden Teil-Ichs (♂ / ♀): die abgespaltenen ‚weichen‘ ♀-Anteile gehen nun ‚zur Strafe‘ auf den ursprünglichen Eindringling und Aggressor über (außerdem: heller vs. dunkler Anzug): „Hände hoch!“
Gescheiterte Sublimierung – Bücher (Kultur) werden durch Revolver ersetzt, Ermordung und endgültige Übernahme des getöteten aggressiven ♂-Anteils (♀ => ♂ / ♂ => ♀).

Schnitt und Szenenwechsel in den Park (Natur-Außenraum, als ‚Jenseits‘?), wo der Erschossene verstirbt und später in einem Trauerzug aus Männern mit Hüten (♂) weggetragen wird. Das Sterben des auf den Zuschauer niedersinkenden (nun impotenten) ♀-Anteils der männlichen Figur mit gebrochenen Augen wird als heterosexuell konnotierter ‚Liebestod‘ inszeniert und wieder mit Wagners orgastischer Tristan-Musik untermalt.

Der Sterbende kann jedoch keine Beziehung mehr zur begehrten halbnackten Frau aufnehmen, die auch seinen eigenen, narzisstischen ♀-Anteil [t 8] repräsentiert und deren Rückentorso geisterhaft verschwindet.
Die beiden Herren – der linke mit Stock und Hut – und Dalí (der große) stoßen zu den aus allen Himmelrichtungen herbeieilenden Passanten und das Patriarchat trägt den toten, vergeblich begehrenden und in verkappter Selbstliebe befangenen Mann (≈ seine ♀-Komponente) zu Grabe – Prozession der Männerhüte (t 8, jetzt t 1).

t 2 Wechsel zu TANGO (bis zum Schluss)

Schnitt in den Innenraum: Die Frau betritt das Zimmer und beobachtet ein Zeichen des Todes an der Wand, nämlich den Nachtfalter ‚Totenkopfschwärmer‘ (acherontia atropos), der Todes- und Unterwelts-Konnotationen aufruft. Erneut beweist sich die Kraft des ‚Sehens‘ in hypnotisierenden und starr hypnotisierten Blicken der Frau auf acherontia atropos. Ihr semantisierendes ‚Sehen‘ interpretiert zugleich ‚Natur‘ als Symbol (vgl. t 0: Wolken-Szene), d.h. es lädt den Falter zum Todessymbol auf, was im Film durch eine einrahmende Fokussierung des ‚Totenkopfes‘ in einer Kreisblende visualisiert wird – ‚Auge in Auge‘.
Weitere Konnotationen: Der Name verweist a. auf die antike griechische Schicksalsgöttin Atropos (die „Unabwendbare“), die als die älteste der drei Moiren (römisch: Parzen; germanisch: Nornen) den von Lachesis gesponnenen und von Klotho bemessenen Lebensfaden zerschneidet, und b. auf den Unterweltfluss Acheron. Darüber hinaus symbolisiert der Schmetterling in der griechischen Antike auch die ‚Seele‘ Verstorbener. Repräsentiert der Falter also den erschossenen ♀-Anteil des Mannes, auf dessen ‚Trauerzug‘ er syntagmatisch folgt?
Schnitt auf den re-maskulinisierten ♂-Repräsentanten im dunkeln Anzug, der selbst geisterhaft im Innenraum verblieben ist:

Pseudo-Männlichkeit: Übernahme des getilgten ♀-Achselhaars als Bart (♂).
Blickkontakte Frau – Mann: Verlust des Mundes (♂) und akzentuierte Oralität der Frau: Lippenstift, Nachziehen der Lippensignatur – aggressiver Blickkontakt und Selbstbeobachtung im Spiegel – Verlust des Achselhaares an den Mann, dessen Mundlosigkeit durch den Pseudo-Bart kaschiert wird (♀-Achselhaar wie Schamhaar und Umsemantisierung zu ♂-Bart); also:
Pseudo-Vermännlichung (Bart-‚Mimikry‘; gestreifte Krawatte).

Frau verlässt Innenraum durch Tür unmittelbar in den Natur-Außenraum ‚Strand‘, der zuvor bereits mit ‚Achselhaar‘ korreliert war: herausgestreckte Zunge – nochmals Betonung des Oralen, Passivität des pseudo-bärtigen ‚Mannes‘ und Aktivität, Handlungsfähigkeit der Frau!

t 3 (acht Jahre vor t 0, 16 vor t 5 ff)

Strand: vorübergehende Balance von ♂ und ♀; Auffinden der Relikte (gemeinsames Beobachten); ♀ + ♂ erstmals vereindeutigt wie bei t 0 und in erotischer Nähe / Beziehung: Verspätungsvorwurf (Armbanduhr: Arm mit Uhr beiseitegeschoben = zeitliche Kohärenz irrelevant). – Gestreifter Shawl! Steiniger und schlammiger Strandabschnitt:

Sie finden die zerstörten und im discours bereits zuvor – in der histoire aber erst 16 Jahre später! – aus dem Fenster geworfenen Attribute (♀: Kästchen und Kleidungsstücke) als angeschwemmtes Strandgut. Er stößt es mit dem Fuß weg, sie hebt die beschmutzten und unbrauchbaren Relikte auf, reicht sie ihm, der sie dann erneut wegwirft. Er entledigt sich der ♀-Attribute und des leeren offenen Kästchens und sie beide sich des Problems der bedrohten Geschlechtsidentität, und zwar in einem zeichenhaft verkürzten Vorgang. Dieser bildet die Merkmalsattribution (Verweiblichung) ebenso ab wie die Tilgung, also den Verlust dieser Attribute, die hier nur kurz durch die Hände des Mannes gehen, bevor er sich ihrer entledigt – und zwar offenkundig ohne die Bedeutung des Geschehens zu verstehen, ohne die Funktion der angeschwemmten Objekte enträtseln zu können.
Sie gehen unbehelligt weiter – küssen sich – und alles scheint auf eine erfolgreiche Minimierung und Marginalisierung, wenn nicht gar Lösung der Probleme hinzudeuten – wäre da nicht die vermaledeite Zeitstruktur und das Schlusstableau!

t 4 oder t 9? „im Frühling“ TANGO

Schrifteinblendung „…au printemps“ von Texttafel zu bildinterner ‚Überschrift‘. Frühling: Analogie zu aus dem Erdboden wachsenden Pflanzen (Autochthonie)? Zyklische Re-Vitalisierung möglich? Fragmentierte (tote?) Körper: Eingegrabene, ‚verdrängte’ Unterleiber! ♀ und ♂ verharren getrennt in unüberwindbarer Distanz und ohne Blickkontakt. Ihre Geschlechtsidentität ist zwar eindeutig und nicht mehr bedroht, zugleich sind sie jedoch zu einem Tableau handlungs- und bewegungsunfähiger Torsi erstarrt.

Versuch eines vorläufigen Resümees

‚Frühling‘ als zyklisch wiederkehrende Naturzeit / Jahreszeit ist eine signifikant andere Zeitangabe als die fast präzise Uhrzeit („gegen 3 Uhr morgens“) oder die deiktisch relativen Angaben („acht Jahre später“, „vor sechzehn Jahren“); sie sind aber alle gleichermaßen zeitlich nicht fixierbar, sind wiederholbar. Aufgrund der Schnitte ist der discourshistoire-Relation nicht zu trauen, sie ist temporal instabil.

In der Abfolge der histoire-Ereignisse befindet sich Zeitpunkt t 4 noch vor dem histoire-Zeitpunkt der mit „Es war einmal“ eingeleiteten discours-Stelle t 0 (= acht Jahre später als t 4), auf den nach weiteren acht Jahren t 5 folgt, so dass zwischen t 3 (t 4) und t 5 sechzehn Jahre liegen
ODER:
Der ‚Frühling‘ wäre auch innerhalb der histoire der letzte dargestellte Zeitpunkt nach einem erneuten Zeitsprung: t 9.
t 10 wäre dann – zyklische Wiederholbarkeit vorausgesetzt – der Neu-Einsatz der Geschichte bei t 5.
Die vom Nacheinander des discours angebotene, verlockend sinnfällige histoire-Reihenfolge von t 0 über t 5 bis Szene t 8 und sodann über t 1 bis zum finalen ‚Frühling‘ (t 4) wird jedenfalls in t 8 (t 1) ‚um drei Uhr früh‘ analeptisch zerschnitten, so dass t 4 nicht notwendig das Ende histoire sein kann.
Aus der zirkulären Verschränkung (Möbius-Band) des discours mit einer von seinem syntagmatischen Nacheinander dissoziierten histoire ergibt sich, dass der ‚Frühling‘ Vergangenheit und / oder Zukunft bezeichnet, ‚Zeit‘ also fundmental verunsichert wird. Die von der Frau demonstrativ aus dem Bild geschobene Armbanduhr des Mannes ist ein deutlicher Hinweis.

Wenn demnach die zerstörten ♀-Objekte nicht nach, sondern bereits vor dem Beginn ihrer effeminierenden Wirkung und vor ihrer späteren Tilgung und Zerstörung (t 8) als funktionslose und rätselhafte Relikte aufgefunden werden (t 3), dann verführen sie später in t 5 offenkundig als verdrängte Erinnerung aus t 3 dazu, sie (als traumanaloge ‚Tagesreste‘) wiederum ohne Erinnerung an t 3 imaginär zu reaktivieren, so dass der Zyklus weiblich-männlicher Merkmalstilgungen und Geschlechts-Identitätswechsel – also die Verweiblichungen und Vermännlichungen des männlichen Protagonisten inklusive seiner Doppelungen – von neuem beginnt.
Und zugleich wird deutlich, dass sich das Liebespaar auch am Strand der Zeichen nicht endgültig entledigen kann, die Männlichkeit oder Weiblichkeit einschränken oder steigern und die als effeminierende Merkmale in t 8 überwunden oder gar endgültig getilgt zu sein schienen. Und wer, wie die Frau in t 2, vor dem von ihr imaginierten ‚Mann‘, der weibliche Achsel-Haare für einen Bart benötigt, der an Scham-Haare erinnert, in die ‚Natur‘ entflieht, wird, so wäre zu folgern, auch am Meeresstrand (t 3) den Relikten des Unbewussten und den Symptomen des Traumas nicht entkommen, sondern wird ihnen vielmehr immer wieder in variabler Gestalt begegnen, ohne sie wiederzuerkennen.

Die Vergangenheit des nur Verdrängten, nicht endgültig Überwundenen, ist zugleich die Zukunft späterer, erneuter Symptombildung und die spätere Gegenwart reproduziert das vergessene Frühere. Weiblichkeitssymbolik, die ♀-Merkmale als Strandgut, sind nicht durch erneutes Zuteilen / Überreichen und Wegwerfen in ihrer Bedeutung zu eliminieren.
Die Folge (t 3) der Verdrängung des weiblichen Anteils im Männlichen (t 8) – als erfolglose ‚Therapie‘ und aggressive Über-Ich-Erziehung – , also das rätselhafte spätere (discours) bzw. frühere, zeitlich vorausliegende Strandgut (histoire: t 3) genügt, um als Voraussetzung neuer, späterer Symptombildung zu fungieren – das Vergessene, Vergangene wird zur Zukunft der Neurose, neuer Traumatisierungen (vgl. die histoire-Erinnerung an den Strand in t 5, bevor der discours ihn thematisiert: Achselhaar – Seeigel – Menschenmenge).
Die Über-Ich-Sublimierung (≈ zeitweise ‚Verdrängung‘) des erotisch-sexuellen Begehrens (t 7) mit Hilfe des patriarchalen ‚Jochs‘ der Kultur (Kunst: Konzertflügel; Religion: Gesetzestafeln, Priester) scheint dabei keine dauerhafte Lösung zu bieten. Dies gilt auch für die weibliche Triebenergie: Vermeers ‚Spitzenklöpplerin‘ als beziehungslos narzisstisch zufriedene Handarbeiterin? Die im Bildband lesende, Kunst rezipierende, trieb-sublimierende Frau?

Das ‚Einpendeln‘ auf den sozial verträglichen Mittelwert einer nicht effeminierten, nicht weiblich maskierten ABER auch nicht übergriffig aggressiven, potentiell vergewaltigenden Männlichkeit (t 7, nach dem beobachteten Tod der androgynen Frau) gelingt nicht – aus dem zyklischen Hin- und Herpendeln zwischen den semantischen Extremen gibt es kein Entrinnen und die Über-Ich-Kultur spielt ihr destruktives Aggressionspotential aus, so sie denn überhaupt noch funktioniert.

Der Mann pendelt also zwischen den Extremen von ‚zu wenig‘ und ‚zu viel‘ Männlichkeit: Er durchschneidet das Auge der Frau (t 0), die damit aber innere seherische Fähigkeiten gewinnen, den männlichen Gewaltakt also phantasievoll kompensieren könnte; er jagt die Frau durchs Zimmer (t 7); er erschießt sein Alter Ego (t 1); er usurpiert das Achselhaar der Frau (t 2).
Seine Befindlichkeiten schwanken zwischen Aktivität und Passivität (er liegt auf dem Bett t 7 / t 8) und darüber hinaus zwischen – einerseits – den Bürden des kulturellen Über-Ich, vor dessen Konzertflügel-Karren der Mann sich allegorisch aber mitleiderregend spannt, um das Trieb-Es zu bändigen und kulturell zu sublimieren und – andererseits – einer offenkundig inaktiven, trieb-reduzierten und ‚verweiblicht‘ unaggressiven Existenzform ohne patriarchale ‚Über-Ich-kulturelle‘ Aufgaben – aber auch ohne erotischen Erfolg. Das verweiblichte, sanfte Mordopfer ‚stirbt‘ im Angesicht einer sich in Nichts auflösenden Rückenakt-Phantasie, der effeminierte Radfahrer stürzt leblos um.

Ausgeglichene nicht-destruktive Mittelwerte zwischen beiden Extremen erweisen sich demnach als die implizite Utopie der Film-histoire.
Ein spekulativer Interpretationshorizont deutete diesen unausgeglichenen Zustand als prä-ödipale Phase (vor-genital: anal – Busen wird Gesäß; oral: Zunge, das Verschwinden des Mundes), die sich im pathologischen Fall beim Erwachsenen durch eine diskontinuierliche Abfolge von übertriebenen Machtphantasien und inversen Bedrohungs-, Impotenz- und Ohnmachtsgefühlen äußert – das Opfer, der infantilisierte und kreuzigungsanalog Bestrafte, wird also zum schießenden Mörder, oder: aus der Hand des von der Frau in der Tür eingeklemmten männlichen Armes quillt wimmelndes animalisches Leben.

Klaus Theweleit charakterisiert solche Dispositionen als Triebhaushalt des faschistischen Mannes, wie er zumindest in ‚völkischen‘ Romanen der 1920er Jahre phantasiert wird – ich will dies hier nicht vertiefen, verweise aber auf die beiden, vor über 40 Jahren sehr prominenten und umstrittenen Bücher Theweleits, die selbst einem spekulativen, aber anregenden kulturwissenschaftlichen Surrealismus der Texte und Bilder frönen:
Klaus Theweleit: Männerphantasien, Frankfurt/M.: Verlag Roter Stern/Stroemfeld; Bd. 1: Frauen, Fluten, Körper, Geschichte, 1977; Bd. 2: Männerkörper. Zur Psychoanalyse des Weißen Terrors, 1978).

Das vermeintlich glückliche Paar kurz vor dem discours-Ende entgeht diesem Dilemma jedoch nicht, wie das proleptisch vorausweisende (histoire) bzw. analeptisch discours-Erinnerung katalysierende Strandgut und das paradox lebensreduzierte ‚Frühlings‘-Tableau ahnen lassen. Das mit der beiseitegeschobenen Armbanduhr des Mannes symbolisch marginalisierte Zeit-Regime des kapitalistischen Patriarchats (Über-Ich) bleibt nicht dauerhaft außer Kraft – die Zukunft der bevorstehenden 16 Jahre wird es vor Augen führen.

Die „Es war einmal“-Rahmung (t 0) gewinnt dabei besondere Bedeutung: die vom Mann gewaltsam zur zumindest Halb-Blinden transformierte, in ihrer visuellen Wahrnehmung ‚beschnittene‘ Frau sieht imaginär umso mehr und aktiver und ist letztlich die vitalere und in ihrer heterosexuellen Identität weniger bedrohte Instanz. Und das traum-analoge innerdiegetische Sehen ähnelt dem Sehen des Films mit seinen logischen und zeitlichen ‚Schnitten‘ durch den Zuschauer – aber nur dieses Sehen ermöglicht den Zugang zur Tiefenpsyche, zur sur-réalité des Unterbewussten und verspricht Erkenntnisse, die den Figuren des Filmes, auch der Frau, verschlossen bleiben. Deren ‚reale‘ Teil-Erblindung ist immerhin der Preis für imaginäres ‚sur-reales‘ Sehertum (Konnotation: der ‚blinde Seher‘ in den Tragödien der griechischen Antike). Und am discours-Ende scheint zumindest das innerdiegetisch dargestellte imaginierende ‚Sehen‘ den Figuren wenig geholfen zu haben: Der finale ‚Frühling‘ präsentiert jedenfalls das erstarrte Bild eingegrabener, unsichtbarer Unterleiber, deren sexuelles ‚Es‘ schwerlich wiederzubeleben sein dürfte.

So ‚gesehen‘ ist der chien andalou – die andalusischen Hunde, deren Heulen der regionalen Überlieferung zufolge die Verstorbenen betrauert: der Titel entzieht sich bis auf weiteres der Interpretation – also alles andere als unentschlüsselbar. Als Traum-Analogon im Sinne von Freud enthüllt er seine ‚latenten Traumgedanken‘ und erweist sich dabei zugleich als hoch-reflexiver filmischer Meta-‚Traum‘ vom ‚Sehen‘, der innerdiegetisch das innere Sehen, die Imagination, das Träumen und seine Grenzen thematisiert.

Ausblick und Empfehlungen

Der Surrealismus außerhalb der bildenden Kunst, also in dieser literarischen und filmischen, narrativen Form, stirbt übrigens nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst weitgehend aus – abgesehen von Buñuel, der weiter Filme dreht –, wird aber spätestens in Zeiten der ‚Postmoderne‘ wiederbelebt, so etwa in neo-avantgardistischer Medien- und Video-Kunst oder in Filmen von Federico Fellini, Jean-Luc Godard, Michelangelo Antonioni, David Lynch, Peter Greenaway und Matthew Barney.

Die nachfolgend genannten Bände aus der Reihe ‚Medienumbrüche‘ (Berlin: transcript) seien den daran Interessierten unter Ihnen empfohlen:

Nanette Rißler-Pipka / Michael Lommel / Justyna Cempel (Hrsg.): Der Surrealismus in der Mediengesellschaft – zwischen Kunst und Kommerz. 2010 (Bd. 42)

Michael Lommel / Isabel Maurer Queipo / Volker Roloff (Hrsg.): Surrealismus und Film. Von Fellini bis Lynch. 2008 (Bd. 25) Darin: Nicola Glaubitz: Medienexperimente nach den Avantgarden, S.19-36.

Isabel Maurer Queipo / Nanette Rißler-Pipka (Hrsg.): Dalís Medienspiele. Falsche Fährten und paranoische Selbstinszenierungen in den Künsten. 2007 (Bd. 20) Darin: Nanette Rißler-Pipka: Gala-Gradiva: Therapeutin und Muse – Kritik und Paranoia, S.159-198 [Gala Éluard Dalí (d.i. Jelena Dmitrijewna Djakonowa) geb. 1894, gest. 1982]

Marijana Erstic / Gregor Schuhen / Tanja Schwan (Hrsg.): Avantgarde – Medien –- Performativität. Inszenierungs- und Wahrnehmungsmuster zu Beginn des 20. Jahrhunderts. 2004 (Bd. 7) Darin: Michael Lommel: Synästhesie. Von den literarischen Avantgarden zum Tonfilm, S.37-50.