Professor Dr. Claus-Michael Ort
Vorlesung: Literatur der Avantgarden (Wintersemester 2020/21)

Surrealismus II: Max Ernst

Hauptakteure des literarischen Surrealismus

Ich trage zunächst noch Literaturhinweise und einige Informationen zu ausgewählten französischen Hauptakteuren des literarischen Surrealismus nach. Breton und Soupault sind uns bereits in der letzten Themenwoche begegnet:

André Breton (geb. 1896, gest. 1966 in Paris): Er schreibt früh Gedichte im Stil des Symbolismus und von Stéphane Mallarmé, studiert Medizin, wird im Ersten Weltkrieg Sanitäter, entdeckt während seiner Tätigkeit in einer psychiatrischen Anstalt die Werke von Sigmund Freud, lernt 1918 Guillaume Apollinaire kennen und ist von den Texten des Comte de Lautréamont begeistert, gründet nach Abbruch des Studiums 1919 mit Louis Aragon und Philippe Soupault die dadaistische Zeitschrift Littérature, in der die Pariser Dadaisten (Tristan Tzara aus Zürich, Paul Éluard, Max Ernst u.a.) publizieren. Nicht-intentionale Werke, die sich „automatischem Schreiben“ (écriture automatique), Hypnoseexperimenten und Traumprotokollen verdanken dienen der Erforschung des Unbewussten. Nach der Trennung von den Dadaisten und Tzara im Gefolge des Pseudo-Prozesses gegen Maurice Barrès 1921 verfasst er 1924 das erste Manifest des Surrealismus, in dem er den Surrealismus als „reinen psychischen Automatismus“ bestimmt. Sprachrohr der Gruppe wird die Zeitschrift La Révolution surréaliste (1924–1929). Seine zunehmende Politisierung gipfelt im Eintritt in die Kommunistische Partei Frankreichs (PCF) – zusammen mit Louis Aragon und Paul Éluard. Im Jahr 1928 entsteht sein experimenteller Roman Nadja. 1929 stößt der katalonische Maler Salvador Dalí (1904-1989) zu den Pariser Surrealisten, 1939 wird er aus der Gruppe wieder ausgeschlossen. 1930 versuchte Breton im Zweiten Manifest des Surrealismus eine Definition des Surrealismus als eine sozial-revolutionäre Bewegung, die für eine „soziale wie […] psychische Revolution“ eintritt. Im zusammen mit Paul Éluard verfassten Werk L’Immaculée Conception (‚Die unbefleckte Empfängnis‘, 1930; Illustrationen von Dalí) simulieren die Autoren Wahnzustände im Sinne Freuds, mit dem Breton zeitweise korrespondiert. Die neu gegründete Zeitschrift Le Surréalisme au service de la révolution (‚Der Surrealismus im Dienst der Revolution‘, 1930-1933) kann den Bruch mit der immer dogmatischer und stalinistischer werdenden PCF im Jahre 1935 nicht verhindern. 1941 Emigration in die USA, Rückkehr 1946.

Jacqueline Lamba (geb. 1910, gest. 1993): Breton war von 1934 bis 1946 mit der politisch aktiven Malerin und Fotografin, zeitweise auch Varieté-Tänzerin, Jacqueline Lamba verheiratet, die ab Mitte der 1930er und in den 1940er Jahren eine zentrale Rolle in der surrealistischen Bewegung (auch in den USA) spielt, Breton zu seinem Roman L’Amour fou (1937) inspiriert, vom Patriarchen des Surrealismus aber als Künstlerin marginalisiert, ja verschwiegen wird – ein ‚Schicksal‘, das auch bekannteren ‚Musen‘ männlicher Groß-Künstler der Moderne droht, allerdings in je unterschiedlichem Ausmaß: Erinnert sei an die Fotografin Dora Maar und Pablo Picasso, an die deutsche Text-Bild-Foto-Künstlerin Ré Soupault und Philippe Soupault oder an die mit Max Ernst liierten Künstlerinnen: die britische Schriftstellerin Leonora Carrington (1917-2011) und die US-amerikanische Malerin und Schriftstellerin Dorothea Tanning (1910-2012) – ab 1946 Ernsts Ehefrau und neben Carrington mutmaßlich die am wenigsten ausgebeutete ‚Muse‘ unter den genannten. – 1942 trennt sich Lamba von Breton und wendet sich nach ihrer Rückkehr nach Frankreich (1955) der Stilrichtung des abstrakten Expressionismus zu.

Philippe Soupault (geb. 1897, gest. 1990 in Paris) lernt früh Marcel Proust und Apollinaire persönlich kennen. Die im letzten Themenabschnitt erwähnten, zusammen mit André Breton unternommenen automatischen Schreibversuche münden in die allererste surrealistische Publikation (Les champs magnétiques, 1921). Im Ersten Weltkrieg stößt Soupault in einer Pariser Buchhandlung auf eine Ausgabe der Gesänge des Maldoror von Lautréamont – die folgenreiche Wiederentdeckung eines vergessenen, nachträglich zum ‚Propheten der Moderne’ und zum Vorläufer des Surrealismus erhobenen Dichters. Soupault verweigert sich der kommunistischen Wende der Surrealisten und wird als Romancier und Journalist 1927 aus der Gruppe ausgeschlossen.

Paul Éluard (eigentlich Eugène-Émile-Paul Grindel; geb. 1895, gest. 1952 in Paris). Éluard publiziert seit 1913 Gedichte, überlebt den Ersten Weltkrieg lungenkrank im Lazarett, stößt 1919 zum Kreis um Breton. Er arbeitet als Makler in der Firma seines Vaters, die er nach dessen Tod erbt; lebt als freier Schriftsteller, besucht 1921 Max Ernst in Köln, schließt sich 1924 nach der Veröffentlichung des ersten Manifestes des Surrealismus der Bewegung an, tritt 1927 in die PFC ein, wird jedoch bereits 1933 aus der Partei ausgeschlossen. Éluard charakterisiert den Surrealismus als „état d’esprit“ (1937), als Revolte gegen die „société actuelle“ – also gegen eine psychisch und sozial repressive Gesellschaft. Schriftsteller und Intellektuelle, die sich an de Sade, Lautréamont, Freud, Picasso und Rimbaud orientieren, würden aber, so Éluard, den Untergang des „Guten und Schönen“ der Bourgeoisie herbeiführen. Im Zweiten Weltkrieg schließt er sich der französischen Résistance an und wird zur Dichter-Ikone des Sozialismus.
Und schließlich noch:

Louis Aragon (geb. 1897 als Louis-Marie Andrieux in Paris; gest. 1982 ebenda) gilt nach seinen surrealistischen Anfängen mit Breton und Soupault als Vertreter eines sozialistischen Realismus.

In dieser Bibliografie (Link) sind ausgewählte Literaturhinweise gesammelt. – mit Ausrufezeichen versehene Titel sind für Werkanalysen von besonderer Relevanz.

Mediale und ästhetische Strategien

Zurück zum Surrealismus, dessen mediale und ästhetische Strategien anhand von zwei prominenten Beispielen vor Augen geführt werden soll – einer gleichsam vor-filmischen Bildererzählung, dem Collagen-Roman La femme 100 / sans têtes von Max Ernst (1929, ‚Die Frau mit hundert‘ / ‚ohne Köpfe‘) und dem ersten, 1928 gedrehten surrealistischen Film Un chien andalou von Luis Buñuel und Salvador Dalí, der im Juni 1929 in Paris zum ersten Mal öffentlich aufgeführt worden ist.
In beiden Fällen werden Bilder bzw. abgebildete Objekte und Handlungen von Figuren in überraschende, unerwartete Zusammenhänge integriert, so dass deren daraus resultierender Bedeutungsverlust in je werkspezifisch andere, neue Bedeutungen überführt wird. Sie erinnern sich: aus Kontextbrüchen wird Neu-Kontextualisierung, Bedeutungsverlust bringt neue Bedeutungen hervor – im Falle der Collagen-Romane von Max Ernst handelt es sich darüber hinaus auch um objets trouvés, um vorgefundene und sodann de-kontextualisierte Bedeutungselemente, die er aus illustrierten Büchern herausschneidet und neu arrangiert:

Der gefundene Gegenstand erfüllt hier in strenger Entsprechung die gleich Aufgabe wie der Traum, insofern als er das Gemüt des einzelnen von lähmenden Skrupeln befreit, den Finder kräftigt und ihn begreifen lässt, dass die Schranke, die er für unübersteigbar halten mochte, bereits überwunden ist.

[André Breton: L’Amour fou [1937]. Frankfurt/M.: Suhrkamp 71997 [= BS 435], S.35-36]

Insbesondere der Surrealismus, der sich an Sigmund Freuds Psychoanalyse orientiert, legt auf wissenschaftliche und in zweiter Linie auch politische Kontextualisierungen, ‚Rahmungen‘, seiner semiotischen Verfahren Wert. Diese generieren mit Hilfe tiefenpsychologischer Deutungshorizonte neue, zusätzliche Bedeutungen und erfüllen damit zugleich ‚sinnvolle‘, kunstexterne Funktionen – was den Surrealismus wesentlich vom Dadaismus und v.a. auch vom Ansatz von Kurt Schwitters, kaum aber vom Futurismus unterscheidet, trotz gravierender inhaltlicher Unterschiede.

Der Surrealismus versteht seine künstlerischen Verfahren als Instrumente, um einen Zugang zur sur-réalité, zur Überwirklichkeit des Unbewussten, und zu verborgenen, ‚verdrängten‘ Bedeutungen zu finden – oder um mit Freuds Traumdeutung aus dem Jahre 1900 zu sprechen: Um ‚manifesten Trauminhalten‘ ihre ‚latenten Traumgedanken‘ zu entlocken, die Zensur des ‚Über-Ich‘ zu überwinden und zum ‚Es‘ vorzudringen. Und dies wird entweder mit aleatorischen und automatistischen Mitteln wie écriture automatique (André Breton / Philippe Soupault: Les Champs magnétiques) und in der Malerei (v.a. Max Ernst) mittels Collage, Grattage und Frottage* versucht oder mit Hilfe von Träumen, die als Anlass für Kunstproduktion dienen. Abweichend von Freud schreiben allerdings v.a. die Surrealisten um Breton der Psychoanalyse ein revolutionäres Potential zu, soll sie doch in der Lage sein, nicht nur das Unbewusste des Ich, sondern auch das kollektive (mythische, religiöse) Unbewusste von Gesellschaften freizulegen und deren traditionelle (patriarchale) Kontroll- und Disziplinierungsstrategien zu unterlaufen – soll heißen: die Emanzipation des Ich von seinen Traumata und Zwängen ebenso zu bewirken wie die Subversion der Gesellschaft.

* Grattage: Verfahren, bei dem mit einer Klinge übereinander aufgetragene Malschichten abgeschabt werden und auf diese Weise neue Farbformen entstehen. Grattage ist eine Übertragung der Frottage auf die Ölmalerei. Die Frottage (frz. frotter „reiben“) oder Abreibung geht auf ein chinesisches Verfahren zurück, dessen Potential von Max Ernst ab 1925 für die Bildende Kunst neu entdeckt und weiterentwickelt wird. Bei der Frottage wird die Oberflächenstruktur eines Gegenstandes oder Materials durch Abreiben mit Kreide oder Bleistift auf ein aufgelegtes Papier übertragen. Für Max Ernst war die Frottage Mittel, die assoziativen visionären und ‚halluzinatorischen Fähigkeiten des Geistes‘ zu steigern.

Wie im letzten Themenabschnitt formuliert: Eine verzweifelte permanente ‚Revolution‘ aller politischen, psychisch-mentalen und ästhetischen Lebensverhältnisse – und insofern erweist sich der Surrealismus als (utopische) gesellschaftstherapeutische Parallelaktion zu einer gesellschaftskritisch gewendeten Psychoanalyse à la Freud. Für den späteren Maler-Weltstar Max Ernst gilt letzteres zwar produktionsästhetisch nicht, wohl aber rezeptionsästhetisch: Seine Werke fordern ihre psycho-symbolische Deutung geradezu heraus, was auch für die Bildergeschichten seiner einzigartigen Collagenromane gilt, zu denen André Breton 1929 eine „Anweisung für den Leser“ beisteuert: „Verfremdung ist die Hauptfunktion aller Surrealität“ und „La Femme 100 Têtes wird par excellence das Bilderbuch unserer Zeit sein“ heißt es da, und weiter:

Übrig bleibt, das kunstvolle gitterwerk der seiten dieses buches zu befragen. Herausgelöst aus tausend alten büchern, die nicht mehr stich halten, ich meine, die lesen zu wollen überhaupt keinen sinn mehr hat, stellen diese seiten mit ihren bildern, getrennt von jenen seiten mit ihrem sterblichen text, auf den sie einmal bezogen waren, eine anzahl so irreführender mutmaßungen dar, daß sie kostbar werden, wie die unglaublich minutiöse rekonstruktion eines verbrechens, dessen zeuge wir im traum waren, ohne uns im geringsten für den namen des täters oder für seine motive zu interessieren. Viele dieser seiten, die erregung ausdrücken, und zwar eine erregung, die um so außergewöhnlicher ist als uns ihr vorwand verborgen bleibt – und das ist auch bei den seiten aus technischen werken der fall, vorausgesetzt sie behandeln einen uns nicht vertrauten gegenstand –, vermitteln uns die illusion wahrhafter schnitte durch zeit, raum, sitten und gebräuche. Es findet sich kein element in ihnen, das nicht im entscheidenden sinne zufällig wäre und das man, ohne den dehnbaren begriff der wahrscheinlichkeit zu verletzen, nicht für ganz andere absichten verwenden dürfte: so könnte der mann mit dem weißen bart, der mit einer laterne aus einem haus kommt – wenn ich mit der hand das abdecke, was er mit der laterne beleuchtet – sich vor einem geflügelten löwen befinden. Und decke ich seine laterne ab, könnte seine haltung bedeuten, dass er sterne oder steine auf die erde fallen ließe. Die überlagerung tritt übrigens ohne mein zutun und ohne den geringsten gedanken an sie, […] sehr objektiv und auf eine kontinuierliche art und weise ein.

[Hervorhebung durch Unterstreichung im Original; Max Ernst: La femme 100 têtes / Une semaine de bonté. [1962, 1963]. Frankfurt/M.: Zweitausendeins o.J. ohne Paginierung].

Produktion, Rezeption und die beabsichtigte Wirkung sind dabei wie gesagt zu unterscheiden: Die in ihrer Anordnung ‚zufällig‘ anmutenden Elemente werden nämlich sehr wohl und ex post als ‚notwendig‘ interpretiert, insofern sie auf eine zweite – surreal transzendente – Wirklichkeitsebene verweisen. Darin unterscheiden sich wie gesagt Dadaismus und Surrealismus, und als Indikatoren ihrer Auseinanderentwicklung kann insbesondere die nachträgliche Kontextualisierung und Deutung nicht-intentionaler, also aleatorisch oder automatistisch generierter Werke (écriture automatique, Frottage) im Surrealismus gelten.

Breton weiter:

alle dinge sind anderen verwendungszwecken zugedacht als denen, die wir ihnen im allgemeinen zubilligen. Gerade von der bewußten preisgabe ihres ursprünglichen zweckes (zu dem erstmaliges handhaben eines gegenstandes geführt hat, von dem man nicht weiß, wozu er dient) lassen sich gewisse transzendente eigenschaften ableiten, die einer anderen gegebenen oder möglichen welt angehören. Einer welt, in der zum beispiel eine axt für einen sonnenuntergang angesehen werden kann […].

Collagen ‚zerschneiden‘ konventionell vorgegebene Bedeutungskomplexe, schneiden also einzelne Komponenten aus ihren sinnstiftenden Kontexten heraus und setzen die Fragmente neu zusammen. Bei Max Ernst handelt es ich dabei vorwiegend um Holzstiche, die mit der frühen Photographie konkurrieren und in populärwissenschaftlichen Publikationen und populären Romanen vor und um 1900 als Illustrationen dienen. Sie werden zu neuen Zeichenketten (ikonischen Syntagmen) montiert, welche nun andere, latente ‚Geschichten‘ erzählen, deren verdunkelte Bedeutungen (‚Subtexte‘) jedoch rekonstruiert werden können.

Max Ernst: La Femme 100 Têtes

Befragen wir also das „kunstvolle gitterwerk der seiten“ von Max Ernsts ‚Bildergeschichte’ La Femme 100 Têtes (1929) – und im nächsten Themenabschnitt die Bilder- und Szenenfolgen des Kinofilms Le chien andalou (UA 1929) von Luis Buñuel und Salvador Dali.
In beiden Fällen wird im Rahmen der Vorlesung allerdings, das ist vorauszuschicken, keine vollständige und hinreichend vertiefte Analyse einzelner Sequenzen möglich sein. Beide Werke bedürften jeweils mehrerer Seminarsitzungen. Beabsichtigt ist vielmehr, Sie mit der Ästhetik der La Femme 100 Têtes und des Le chien andalou ein wenig vertraut zu machen, Interesse zu wecken und – weitergehend Interessierten – einen Weg zu Analyse vorzuschlagen.

Für Max Ernsts Collagenromane ist vor allem auf die Dissertation von Holger Lund (2000) zu verweisen, an der sich auch meine Anmerkungen orientieren. Auf weitere biographische Daten zu Max Ernst verzichte ich an dieser Stelle und verweise stattdessen auf den eingehenden und gut recherchierten Artikel in einer gängigen Online-Enzyklopädie, der hier nicht zitiert oder nacherzählt werden muss (und dies gilt auch für die Lebensläufe von Luis Buñuel und Salvador Dalí).

Bevor ich Ihnen die Bild-Text-Tafeln des ersten Kapitels (von insgesamt neun) der Femme 100 Têtes (cent / sans têtes) präsentiere – und danach noch Auszüge aus dem dritten und sechsten Kapitel –, ist mit Lund 2000 (zur Femme v.a. S.12-72) an zwei prinzipielle, auf Roman Jakobson zurückgehende Möglichkeiten der Text- und Bild-Analyse zu erinnern – zusätzlich zu Roland Barthes‘ Konnotations-Semiotik, die es ebenfalls konsequent analytisch zu nutzen gilt:
Zum einen an eine syntagmatisch horizontale (discours der Erzählung, so wie wir sie lesen), zum anderen an eine paradigmatisch vertikale Analysedimension, die semantische (‚thematische‘) Klassen abstrahiert und deren rekurrente Thematisierung, ihre Verteilung im Nacheinander der Bilder/Texte systematisiert. Was syntagmatisch, in der Verknüpfung der Zeichen im Einzelbild (Collage!) und zwischen Bild n und Bild n+1 mehr oder weniger inkohärent erscheint und eine sinnvoll zusammenhängende Erzählung ‚zerschneidet‘, erweist sich auf der davon abstrahierten, paradigmatischen Ebene semantischer und wiederkehrender Themen- und ‚Motiv‘-Komplexe sehr wohl als kohärent: Holger Lund unterscheidet die und – von einzelnen ‚assoziativen‘, metaphorischen und metonymischen ‚Kohärenzinseln‘ abgesehen – hier eher inkohärente narrative, also kausale, konsekutive oder finale ‚Sequentialität‘ (Lund 2000, S.28) von thematischer und motivischer Kohärenz der im ‚Roman‘ korrelierten semantischen Paradigmen (,zyklische Sequenzen‘, die einzelne Bilder nach „übergreifenden Themen“ neu gruppieren, unabhängig von ihrem Nacheinander):

Lassen sich Elemente lediglich assoziativ von Seite zu Seite miteinander verbinden, beispielsweise aufgrund von Similarität [‚Ähnlichkeit‘, metaphorisch, CMO] oder Kontiguität [semantischer ‚Nachbarschaft‘, metonymisch, CMO], so entsteht eine assoziative Sequenz. Der Grad der Verbindungsintensität ist bei zyklischen Sequenzen schwächer als bei erzählerischen Sequenzen. Vor allem deshalb, weil bei offenen […] Zyklen die Seiten nicht notwendig aufeinander folgen.

[Holger Lund: Angriff auf die erzählerische Ordnung. Die Collagenromane Max Ernsts. Bielefeld: Aisthesis 2000, S.29]

Um bereits früher zitierte Textbeispiele noch einmal aufzugreifen:
Morgensterns ‚Wiesel‘ und ‚Kiesel‘ ähneln einander nur als Signifikanten lautlich (phonologisches Paradigma) und werden deshalb in der besprochenen Situation räumlich ‚benachbart‘ angeordnet (‚Wiesel auf Kiesel‘), ohne dass sich ihre Signifikate deshalb semantisch ähnlicher werden: ‚Kiesel‘ wird keine Metapher von ‚Wiesel‘ und umgekehrt – sie stehen lediglich in kontigen (kontingenten?) – hier: räumlichen –Beziehungen, so als wären sie Metonymien für einander. Und Lautréamonts ‚Nähmaschine‘ und ‚Regenschirm‘ ähneln einander weder lautlich (auch nicht im Französischen) noch semantisch – sie gehören überhaupt keinem gemeinsamen Paradigma an, sind als Kombination ‚inkohärent‘ und werden auf einem ‚Seziertisch‘ einander benachbart angeordnet – ‚zufällig‘ und unwahrscheinlich („unvermutete Begegnung“ als Kontiguität, wie im Tropus der Metonymie: Tasse und Kaffee ähneln einander nicht, sind aber im Alltag per Gebrauchskontext räumlich ‚benachbart‘, begegnen sich; metonymisch formuliert: ‚ich trinke eine Tasse‘). ‚Nähmaschine‘, ‚Regenschirm‘ und ‚Seziertisch‘ werden als je de-kontextualisierte Realitäts-Fragmente ‚geschnitten‘ bzw. neu kombiniert, ohne dass sie sich ähnlicher werden oder einander als Metaphern substituieren könnten – und doch wird die ‚Schönheit eines Jünglings‘ von Lautréamont mit diesem Ensemble verglichen (postulierte, ‚dunkle‘ Similarität).

[Ich trage bei dieser Gelegenheit noch die bibliographischen Daten der deutschen Lautréamont-Übersetzung nach: Lautréamont: Die Gesänge des Maldoror (1869). Aus dem Französischen von Ré Soupault. Reinbek: Rowohlt 1990; siehe im ‚Sechsten Gesang‘, S.223]

Lund ist also zuzustimmen:

Inkohärenz ist […] kalkulierter Effekt surrealistischer Poetik und Ästhetik, um bestimmte ästhetische Werte zu realisieren. […]. Eine Ästhetik, die auf der Kombination des Disparaten beruht, um das überraschende und irritierende Wunderbare zu bewirken, käme zuschanden, würde sie zuviel Kohärenz zulassen.
[Lund 2000, S.72]

Und dass sich diese ‚Ästhetik‘ im Sinne der Forderungen des Ersten Surrealistischen (1924) und des Zweiten Surrealistischen Manifests (1930, Neuauflage 1946) traumanaloger, werkgenetisch produktiver Verschlüsselungsverfahren und rezeptiv-analytisch ebenso fruchtbarer Entschlüsselungsverfahren bedient, die sich an Freuds Psychoanalyse orientierten, ist im letzten Themenabschnitt bereits angedeutet worden. Ein weiteres Mal Lund:

Einige Verfahren, die […] in den surrealistischen Filmen zur Traumdarstellung genutzt werden, übernimmt Max Ernst für die Collagenromane. Es handelt sich dabei um Verschiebung und Verdichtung, sowie um aphysikalische Raumwechsel, welche das Raum-Zeit-Kontinuum durchbrechen.
[Lund 2000, S.312]

‚Verdichtung‘ (Leerstellen, Auslassungen) und ‚Verschiebung‘ (Anspielungen als konnotative Bedeutungserweiterungen à la Barthes) sowie ‚metonymische und metaphorische Substitutionen‘ prägen laut Freuds Traumdeutung (1900) sowohl die ‚Traumarbeit‘ als auch die inverse, dekodierende ‚Deutungsarbeit‘. Übrigens bezieht sich auch das Zweite Surrealistische Manifest mehr denn je auf Lautréamonts Chants de Maldoror (1868/69).

Auch vor diesem Hintergrund ist Lund einmal mehr beizupflichten – auch seiner zutreffenden Kritik an der Literaturwissenschaft:

Wie sehr und wie erfolgreich Max Ernst mit den Collagenromanen die erzählerische Ordnung angreift, belegt nicht zuletzt die Forschungsgeschichte – die erzählerischen Sequenzen in den Collagenromanen sind bislang unbemerkt geblieben. Das zeigt zugleich auch, dass mit den Collagenromanen ein Endpunkt erreicht ist: Weiter lässt sich der Kampf gegen die erzählerische Ordnung nicht treiben, soll der Kampf selbst noch erkennbar sein.
[Lund 2000, S.323]

Dass die ‚erzählerischen Sequenzen‘ in den filmisch ‚geschnittenen‘ Collagenromanen bislang kaum untersucht worden sind, liegt in der Tat an den methodischen Defiziten mancher Vertreter/innen unseres Faches bis heute, die für ihre analytische Einfallslosigkeit und Ungenauigkeit die vermeintlich ‚dunklen‘, unverständlichen Kunstwerke insbesondere der Moderne verantwortlich machen. Es versteht sich von selbst, dass man auf diese Weise nicht nur an Max Ernst und den (multimedialen) Avantgarden der Moderne einschließlich Buñuel/Dali (Un chien andalou) und James Joyce scheitern wird, sondern auch schon – in beliebiger, aber exemplarischer Auswahl – am späten Hölderlin, an Rilke oder Mallarmé ebenso wie an den Gedichten von Paul Celan, an Herbert Achternbusch, an den späten Filmen von David Lynch oder den experimentellen Filmen von Matthew Barney – vom Cremaster-Zyklus (1994-2002) bis zu River of Fundament (2014). Lund spricht es anlässlich von Ernsts Collagenromanen deutlich aus:

Gegenüber der verbreiteten Forschungsansicht, wonach sich das Dargestellte einem analytischen und interpretierenden Zugriff entziehe, weil es irrational, unerklärlich oder unverständlich sei, widerlegen die Analysen der Collagenromane nicht allein diese Ansicht, sondern ermöglichen zugleich eine neue Sicht auf dieselben. Mitnichten handelt es sich um Kunstwerke, die es verdienen, ausschließlich im voranalytischen Bereich rezipiert zu werden. Im Gegenteil: wie die Analysen zeigen, führt das Aufspüren von Verbindungen zwischen Textelementen, zwischen Bildelementen, zwischen Texten und Bildern sowie zwischen den Seiten zu semantisch sinnvollen Resultaten. Die Collagenromane lassen ich geradezu als intellektuelle Spiele auffassen, bei denen es darum geht, die genannten Verbindungen aufzuspüren. Noch entschiedener gefasst: Das Dargestellte ist analysierbar und interpretierbar, und beides, Analyse und Interpretation lässt sich, erkenntnisfördernd betreiben.
[Lund 2000, S.205]

Darauf hinzuweisen ist außerdem, dass nicht nur vereinzelte ‚surrealistische‘ Romane vor Max Ernsts Collagenromanen – Bretons Nadja (1928, mit Photographien; siehe Lund 2000, S.234-238) und Louis Aragons Le Paysan de Paris (1926) –, sondern auch die großen stream-of-conscousness- und Montage-Romane der Vorkriegsmoderne von James Joyce’s Ulysses (1922) und Finnegans Wake (1923-1939; ED 1939) sowie John Dos Passos‘ Manhattan Transfer (1925) bis zu Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf (1929) massive Kohärenz-Probleme aufwerfen, die sie vom ‚realistischen‘ Erzählen unterscheiden. Letztlich gilt dies partiell auch schon für die ausufernden, sich über tausend Seiten und mehr erstreckenden, polyphonen Fortsetzungsromane und Romanzyklen des 19. Jahrhunderts, die die komplexe Synchronie ihrer zahleichen Handlungsstränge nur im Nacheinander und um den Preis erheblicher Kohärenzunterbrechungen (Cliffhanger) darzustellen vermögen (vgl. den sogenannten ‚Roman des Nebeneinander‘, z.B. Karl Gutzkow: Die Ritter vom Geiste. 9. Bde. 1850f, Der Zauberer von Rom. 9 Bde. 1858/61 oder die Sensationsromane von Sir John Retcliffe [d.i. Hermann Goedsche]).
[Siehe dazu vertiefend: Gustav Frank: Krise und Experiment. Komplexe Erzähltexte im literarischen Umbruch des 19. Jahrhunderts. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag 1998.                                            Und zu Matthew Barney vgl. Eva Wruck: Matthew Barneys ‚Cremaster Cycle‘. Narration – Landschaft – Skulptur. Berlin: Reimer 2014.]

Lund (S.56-64) erkennt nun in der Femme 100 Têtes die folgenden sieben Themen, die sich entweder zyklisch über die neun Kapitel rekurrent verteilen oder in zusammenhängenden narrativen Sequenzen verhandelt werden, wobei die einzelnen Bild-Text-Elemente jeweils den genannten traumanalogen Verschlüsselungen und Fragmentierungen (‚Schnitt‘ und Re-Kombination) unterliegen:
Als Kapitelschwerpunkte sind dies ‚bürgerliches Leben‘ (Kapitel 2 und 3), ‚gescheiterte Revolution‘ (Kapitel 4 und 5) und ‚magisch-übernatürliche Erscheinung‘ (Kapitel 3, v.a. aber Kapitel 7 und 8) und über den gesamten ‚Roman‘ verstreut: ‚sexuelle Perversion‘, ‚christliche Religion‘, ‚Mythologie‘ und ‚Kunst‘.
In allen Kapiteln werden Versatzstücke mythologischer und religiöser, v.a. alt- und neutestamentlicher (christlicher) Narrationen und das sexuell konnotierte Symbolinventar einer bürgerlich-patriarchalen, gewaltbereiten Gesellschaft mit ihren destruktiven Utopien und atavistischen, pathogenen und kriminogenen Anomalien – von Tierverwandlung (?) bis Mordlust – kreativ ‚geplündert‘ und zu neuen, bislang verhüllten Bedeutungszusammenhängen arrangiert. Übrigens kommt der Wahl der „stilistisch homogenen“, ‚realistischen‘ Illustrationen, also des Bildmaterials, das Max Ernst für seine Collagen-‚Schnitte‘ verwendet, besondere Bedeutung zu (Lund 2000, S.238, Fußnote 536). Der Stil dieser Holzstiche,

lässt dich geradezu als positivistischer Stil definieren, insofern er ein streng sachlicher, alles lückenlos erfassender, zeigender und erklärender Stil ist, ‚lückenlos‘ im doppelten Sinn: visuell und semantisch. Derart wird ein sicherer, klarer Begriff von der Welt und den Dingen in ihr vermittelt. Anders formuliert: die Welt, die mit dem realistischen Stil dargestellt wird, ist eine kohärente und in aller Regel wunderlose Welt, in der alles verständlich und an seinem Platz ist – und genau gegen diese Weltdarstellung zielt diejenige in den Collagenromanen: durch ihre Inkohärenz, durch die Transgressionen, durch den Geheimnisreichtum, durch das Wunderbare, das sich allerorten ereignet. Die dargestellte Welt in den Collagenromanen besitzt somit eine historische Stoßrichtung, mit seinen eigenen Mitteln wird der realistische Stil des 19. Jahrhunderts und das, wofür er einsteht, nämlich der positivistische Rationalismus, geschlagen. Die Collagenromane bieten […] eine Parodie des realistischen Stils, indem mit ihm eine Welt dargestellt wird, die sich konträr zu seiner Semantik verhält.
[Lund 2000, S.238, Fußnote 536]

Das ‚Wunderbare‘, das als Thema die gesamte Bilderfolge des ‚Romans‘ überwölbt und das die narrative Zielrichtung und das (offene) Ergebnis der Erzählung bildet, wird von der ersten und letzten Bild-Text-Seite mit identischer Bild-Collage, aber unterschiedlichem Text formuliert: Die Erlösungs- und Schöpfungsutopie der Erscheinung eines ‚ganzen‘, idealen und vollkommenen, also „vollständigen Menschen“, der einerseits vom Himmel fällt (Transzendenz), andererseits aber auch einer Ei-förmigen Kugel entspringt, die von Menschen wie ein Fesselballon mit einem Netz eingefangen oder festgehalten wird (Weltimmanenz). Eine nicht (nur räumlich) ‚überirdische‘ Geburt als göttliches „Wunder“ oder als „Verbrechen“ menschlich-teuflischer Hybris steht am Anfang und am Ende des ‚Romans‘ – der Text „ende und fortsetzung“ weist darauf hin, dass diese ‚Schöpfung‘ noch nicht gelungen und vollendet ist und in weiteren Zyklen erneut versucht werden wird. Und der erkennbar männliche Torso – alles andere als ‚vollständig‘, da kopflos – wird in den Kapiteln des ‚Romans‘ von weiblichen Körpern und Körperteilen abgelöst, die ihrerseits Gegenstand von männlichen, magischen oder ‚wissenschaftlichen‘ Versuchen einer „körperkontaktlosen Befruchtung“ (Lund 2000, S.21) werden. Das ‚Wunder‘ der christlichen Heilsgeschichte, die ‚unbefleckte Empfängnis‘, wird vergeblich und ‚verbrecherisch‘ von Menschen technisch zu imitieren versucht – wobei hier nicht die ‚unbefleckte‘, d.h. erbsündenfreie aber körperliche Empfängnis Mariens durch Anna, sondern die jungfräuliche ‚Empfängnis‘ Jesu durch Maria gemeint ist. Dass im Tableau 1/12 (s.u.) am Ende des Kapitels die ‚unbefleckte Empfängnis‘ bereits ‚behauptet‘ wird, ist also noch nicht das letzte Wort bzw. Bild:

Achten Sie also beim ‚Lesen‘ des ersten Kapitels – leider ohne Tafel 1/11 – auf dieses Thema und darüber hinaus auf Fruchtbarkeitssymbole und ihre christlichen und mythologischen Konnotationen (Hase, Ei, Lamm usf.) sowie auf die Symbole einer, hier v.a. phallischen Sexualität – und auf alle anderen Rekurrenzen, besonders auch auf astrale Außenräume (Himmel) und vertikale Vektoren (1/1 und 9/18) – z.B. in 1/9 (Holzstämme) und 1/10 (der segnende Säugling als ‚himmlisches Kind‘); zu Kapitel 1 siehe Lund 2000, S.16-22 und S.31-32.

Auch in den anderen acht Kapiteln des ‚Romans‘ befinden sich solche eingelagerten Teilsequenzen, also Bilderfolgen, die durch ihre Nummerierung kleine Bedeutungseinheiten bilden – hier u.a. zu Beginn die drei ‚Verfehlungen‘ der ‚unbefleckten Empfängnis‘ in 1/2, 1/3 und 1/4.
Das blasphemische Thema der „gescheiterten körperkontaktlose Befruchtung als Parodie der unbefleckten Empfängnis Mariens“ (Lund 2000, S.21)

wird in verschiedener Weise entfaltet: Zwischen Mann und Frau, mit wissenschaftlichen, mythologischen und mariologischen Elementen (1/2), zwischen zwei Männern und einer Frau (1/3 und 1/4), einmal mit magischen und einmal mit wissenschaftlichen Elementen sowie als willentliche Selbstbefruchtung (1/8) mit christologischen Elementen.
[das „halbfruchtbare lamm“: ‚Lamm‘ als Symbol und Attribut Christi, CMO]
[Lund 2000, S.21]

Auch 1/8, so wäre zu ergänzen, deutet auf freiwillige, weibliche ‚Empfängnisbereitschaft‘ hin; auch Lund (2000, S.19f) weist der lasziven Körperhaltung der Frau vor oder unter den (phallischen) Pfeifen einer sakral konnotierten Orgel diese Bedeutung zu. Die Orgelpfeifen erinnern außerdem an Flügel – Engel? Heiliger Geist als Taube? – und das Gesicht der Orgel ist sowohl in das männlich konnotierte, trinitarisch-göttliche Dreieck als auch in das weibliche, ‚fruchtbare‘ Oval (Ei) eingelagert. Die links erkennbare, kleine Voyeurs-Gestalt konnotiert im Tableau der ‚heiligen Familie‘ sodann den heiligen Josef, der vom göttlichen Zeugungsakt ausgeschlossen bleibt. „Zeugungspartner sind hier die Frau und das Wesen, zu dessen Gesicht die Orgel als Körper gehört.“ (Lund 2000, S.19, auch S.22).

Über Lund hinausgehend ist festzuhalten, dass in diesem – vergleichsweise weniger ‚verfehlten‘, noch nicht gescheiterten – Versuch der ‚unbefleckten Empfängnis‘ als einer Vergöttlichung des Menschen bzw. der Menschwerdung Gottes („ein vollständiger mensch“!) die ‚Kunst‘ selbst als Medium göttlich ‚Inspiration‘, Belebung und Zeugung fungiert: Nicht magische oder destruktive männliche Technik und Wissenschaft, sondern die Musik, die hier metonymisch durch ihr Instrument ‚Orgel‘ repräsentiert wird, inspiriert, belebt und zeugt – eine durchaus auf den Kunstanspruch des Surrealismus und die Femme 100 Têtes selbstreflexiv hochzurechnende Konsequenz.

In 1/2 fällt der christlich und mythologisch konnotierte Hase (Kaninchen) auf, der als ein Fruchtbarkeits- und christliches Auferstehungssymbol sowie als Attribut der Liebesgöttin Aphrodite (Venus) bekannt ist. Ferner ruft das weinende Kind mit seinem um den Hals gelegten Riemen, der auf einen umgehängten Pfeil-Köcher verweist, die traditionelle Ikonographie des Knaben Eros (Amor / Cupido) auf, der als Sohn von Aphrodite und Ares (Venus und Mars) eine ‚Liebe‘ personifiziert, die jeden treffen kann. Der Strahlenkreis rechts erweist sich dabei als Kippfigur zwischen christlichem Heilgen-Nimbus und einer aufgeständerten Pfeil-Zielscheibe – und darüber hinaus sind die (phallische) Flasche, aus der Flüssigkeit ausgegossen werden kann, und die (weibliche) Kreisform sexualsymbolisch deutbar.

Manuell verschlossene Flaschen in Ausgießposition kehren sodann in der vegetativ sprießenden, fruchtbringenden (Ananas!) ersten ‚Landschaft‘ in 1/5 wieder, während in 1/9 und in 1/10 „der himmel […] zweimal den hut ab[nimmt]“, sich also entblößt und der irdischen Welt etwas spendet. Lund 2000 (S.31) (vielleicht einfach nur ,,Lund (S.31)”?) deutet das Kleinkind mit der Geste des Segnens als vom Himmel gesandtes Christuskind und zugleich aufgrund seines Licht abstrahlenden, geöffneten Schädels als ‚Missgeburt‘ – wie die Baumstämme auch. Bereits die galvanischen Experimente der beiden Männer in 1/4 „verfehl[en]“ die ‚Empfängnis‘ „zum dritten mal“, nun am offenkundig falschen, zwitterhaften Objekt: Einerseits fehlt den beiden Frauenbeinen der Körper, andererseits bieten sie ‚zu viel‘, nämlich einen kleinen Penis.
Dass außerdem die ‚Schnitte‘ der Collage als narrative, quasi filmische Schnitte in den Bildern selbst thematisiert werden, belegt das rekurrente Bildmotiv der Torsi, also all der fragmentierten, zerstückelten Körper in der ‚Frau ohne‘ oder ‚mit 100 Köpfen‘. Eines der zentralen Verfahren der Avantgarden, die Zerstörung des Kontextbezuges, das Durchschneiden von vorgegebenen Sinnbezügen, wird so ‚verkörpert‘ und physisch sichtbar gemacht.

Besonders deutlich wird dies in einer narrativen Sequenz, die als „Mädchenmördererzählung“ (Lund 2000, S,12-16, hier S.16; auch S.35) in Kapitel 3 eingelagert ist. Sie verhandelt triebhafte ‚Mordlust‘ als Kontrafaktur zur göttlichen Zeugung und ‚Geburt‘ eines ‚vollständigen’ Menschen – ‚Lustmord‘ als ihr tödliches, verbrecherisches und teuflisches Gegenstück.
Die Bild-Text-Tafeln dieser Erzählsequenz 3/14 bis 3/19 sehen Sie hier, zu Kapitel 3 siehe ansonsten Lund 2000, S.34-37:

Die zugrunde liegende ‚Mordgeschichte‘ kann im Anschluss an Holger Lund wie folgt hypothetisch ‚erzählt‘ werden:
Ein männlicher Kurgast („winterfrischler“ invers zum ‚Sommerfrischler‘) imaginiert gesteigerte sexuelle Aktivität, deren eruptiv-ejakulative Qualität sich metaphorisch in der Fontäne manifestiert, die sich aus dem Zylinderhut ergießt. Das damit korrelierte eiförmige Geburts- und Fruchtbarkeitssymbol verweist auf das Rahmenthema der Femme 100 Têtes, das „Hohe Lied“ auf die von Luther als ‚Hohelied Salomos‘ bezeichneten erotischen Lieder des Alten Testaments (3/14).

Der Antritt der Eisenbahnreise konfrontiert den zukünftigen Lustmörder in der Gepäckaufgabe des Bahnhofs mit zwei alternativen Wegen – mit dem tugendhaften der religiösen Besinnung, bezeichnet durch den musizierenden Kleriker im Chorhemd und mit Viertelnimbus, der aus der Skala einer Waage besteht – und dem lasterhaften Weg des Verbrechens, das als Ursache metonymisch durch seine Wirkung, das weibliche Opfer, repräsentiert wird (Wirkung steht für Ursache; 3/15). Die im Speisewagen sitzenden schläfrigen Mädchen (3/16) erweisen sich als die Mordopfer des flüchtigen Täters (3/17), der seine Flucht zu Wasser fortsetzt (3/18).

Dass nach Lund 2000, S.14 und S.35, die ‚Femme‘ in 3/19 beim Friseur unter der Trockenhaube die Erzählung dieser Mordtat mithört (der telegrafierende oder telefonierende Mann rechts, links der Friseur), was sie sexuell erregt („die säfte steigen“) und zu einem „explosiven Erwachen erotischer Kräfte“ führe (Lund 2000, S.14), mag spekulativ anmuten, motivierte aber die formale Ähnlichkeit der männlichen Kopf-Hut-Fontäne in 3/14 mit dem üppig wogenden Blattwerk hinter ihr, das sie zu verschlingen oder zumindest einzuhüllen droht.
Zu interpretieren sind im Falle der Femme 100 Têtes jedenfalls nur syntagmatische, also textinterne Bedeutungsanreicherungen und textextern einfließende, religiöse, ikonographische, literarische und mythologische Konnotationen, die die semantischen Leerstellen der Sequenzen hypothetisch aufzufüllen erlauben. Solche Auffüllungsmöglichkeiten und ihre roman-interne Absicherung stehen also am Ende einer paradigmatischen und syntagmatischen Analyse der Collagenromane von Max Ernst, nicht eine einzige unumstößlich zwingende Lesart.
Übrigens wird im sechsten Kapitel nicht nur erneut das Paradigma des fragmentierten Frauenkörpers und der Seefahrt – einschließlich eines Fischzuges, bei dem auch Frauen (Nixen?) ins Netz gehen – rekurrent entfaltet, sondern auch die ‚Lustmord’-Geschichte inhaltlich und formal zum Abschluss gebracht:

Anstelle eines ‚vollendeten‘ Menschen oder eines segnenden Jesusknaben erscheint nun am Himmel als pervertierte „großtat“ das Gespenst des ‚ertrunkenen‘ Mörders, das sich von seinem phallischen Zylinderhut (siehe 3/14) getrennt hat.
Und 6/8 präsentiert den physiognomisch wiedererkennbaren Mörder aus dem dritten Kapitel erneut, nun als einen in „seelenfrieden“ ruhenden, vermeintlich ‚erlösten‘ Bürger. Der Repräsentant eines offenkundig gewaltbereiten, patriarchalischen Bürgertums schlummert im bequemen Sessel auf einem im Gegensatz dazu aufgewühlten, nächtlichen Ozean, der die Spuren des begangenen oder imaginierten Verbrechens – den Frauenarm links – an die Oberfläche spült und sexuelle Machtphantasie und phallischen Größenwahn drastischer denn je ins Bild setzt (der Leuchtturm mit eruptiver Fontäne).

Die gesamte Mädchenmördererzählung parodiert Werte der bürgerlichen Moral, wie sie in der Gattung der Kriminalerzählung, aber auch in dem Verbrechen-Strafe-Schema vieler Bildergeschichten [des 19. Jahrhunderts; CMO] manifest sind. Der Mörder wird zwar bestraft (Tod und Weiterleben als Geist), doch steht der Akt, der Erlösung und wohl sogar Belohnung bringt, in keinem Sühneverhältnis zur Mordtat. Darüber hinaus wird die neu gewonnene bürgerliche Sesselruhe satirisch als Gleichgültigkeit entlarvt.
[Lund 2000, S,16]

Ich gehe jedoch noch einen Schritt weiter als Holger Lund und färbe diese vordergründige ‚Satire‘ von „seelenfrieden“ als schläfrige ‚Sesselruhe‘ tiefenpsychologisch ein – im Sinne Sigmund Freuds:
Das ‚Ich‘ der bürgerlichen Gesellschaft (be-)ruht demnach wie ein Spielball auf den bedrohlichen und stürmischen ‚Fluten‘ seiner zeitweise verdrängten, unbewussten und animalischen Triebnatur (des ‚Es‘), die mit den Mitteln der traumanalogen Kunst des Surrealismus, z.B. mittels eines Collagenromans von Max Ernst, ‚erforscht‘, visualisiert, also ans Licht des Bewusstseins gebracht und künstlerisch produktiv genutzt werden kann. Mögen die religiös kodierten Erlösungsutopien vom göttlichen ‚vollständigen‘ Menschen auch und gerade in den Zeiten der wissenschaftlich-technischen Moderne selbstzerstörerisch sein – und die Femme 100 Têtes führt dies variantenreich vor Augen – , so verschreibt sich ein gesellschaftskritisch und psychoanalytisch fundierter Surrealismus doch genau diesem, insgeheim religiös grundierten emanzipatorischen Projekt. Was beim Dadaisten-Oberpriester Johannes Baader – erinnern Sie sich! – zunächst noch als Kirchen-Kritik und als Parodie von Marienverehrung erscheinen mag, nimmt zusehends selbst Züge des Parodierten an – das alte Problem des Dadaismus, das auch noch den ‚Prozess‘ gegen Barrès prägt (siehe den achten Themenabschnitt).

Der Surrealismus Bretonscher Prägung tritt dagegen die Flucht nach vorn an, tendiert also explizit zu politischen Zielsetzungen und vor allem zur Psychoanalyse Freuds, die nicht parodiert, sondern ernst genommen wird.
Max Ernst steht als Maler und Bildhauer solchen explizit ‚ideologischen‘ Re-Kontextualisierungen zwar fern, seine Collagenromane reflektieren jedoch auf subtile Weise auch den kunstreligiösen Subtext und den paradoxen Erlösungsanspruch des Surrealismus selbst.

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Die Beobachtungskriterien, Analyseebenen und Deutungshorizonte, die auf den ‚filmisch‘ erzählenden Collagenroman von Max Ernst zur Anwendung gekommen sind, lassen sich ausnahmslos auch auf den berühmten Stummfilm Un chien andalou (1928; UA 1929) von Luis Buñuel und Salvador Dalí anwenden. In der nächsten ‚Vorlesung‘ werde ich einen Analysevorschlag zu seiner semantischen Paradigmatik vorstellen, der auch die Syntagmatik, also das konkrete Nacheinander des Films zu interpretieren erlaubt.
Bitte sehen Sie sich dazu den Film an; er dauert etwa 20 Minuten und die restaurierte Originalfassung ist problemlos auf youtube zugänglich:

Hinweis für diejenigen, die den Film zum ersten Mal sehen:
Die berühmte Schockszene des durchschnittenen Auges am Anfang des Films und ihr Schnitt vom Frauenauge zum aufgeschnittenen Ochsenauge sollte Sie nicht abschrecken: Die Szene erweist sich als selbstreflexiv und programmatisch für den Film selbst und seine visuelle Rezeptionsästhetik. Sie betrifft zugleich auch die zahlreichen Verfahren des ‚Schnittes‘ und der intentionalen oder aleatorischen Kohärenzunterbrechung, deren sich die Avantgarden bedienen – vom Kubismus und Futurismus über die Collagen und Montagen des Dadaismus bis zu Ernsts collagierten Bilderzählungen.

Stefan Volk hat für heute das letzte Wort:

Der Schnitt, der in dieser legendären Eröffnungsszene das Auge durchtrennt, wird letztlich nicht vom Rasiermesser, sondern von der filmischen Montage ausgeführt. Auf geniale Weise verschränken sich hier Form und Inhalt: erst der Filmschnitt gebiert den Schnitt durchs Auge, der wiederum den Filmschnitt symbolisiert. Denn wie das Messer das Organ der Erkenntnis durchtrennt, so zerschneidet die Montage die narrative Kohärenz des Filmes. Und so wie der Mann seine Rasierklinge an das Auge der Frau legte, legten Buñuel und Dali ihre Klingen an das Auge des Zuschauers.
[Stefan Volk: Skandalfilme. Cineastische Aufreger gestern und heute. Unter Mitarbeit von Barbara Scherschlicht. Marburg 2011, S.43].