Professor Dr. Claus-Michael Ort
Vorlesung: Literatur der Avantgarden (Wintersemester 2020/21)

Marinetti und das Futuristische Manifest

Hanno Ehrlicher charakterisiert die tabula-rasa-Ideologie des Futurismus als übermenschliches „Totalprogramm“ einer „virilen Selbstermächtigung“ (S.79) mit dem „kulturhygienischen Grundimpuls“ (S.81) einer „gewaltsam-kathartische[n] Kulturzerstörung“ (ebd.): „Selbstreinigung“ (S.80) als „Selbstermächtigung durch Selbstentleerung“ (S.83).
Erinnern Sie sich bitte an Nietzsches lebensphilosophische ‚Diätetik’ des Vergessens!

Darüber hinaus weist Ehrlicher auf die publizistischen Strategien Marinettis hin:

Das futuristische Manifest lancierte er [Marinetti] dank der Möglichkeiten moderner Druck- und Kommunikationstechniken wenn auch nicht wirklich gleichzeitig, so doch in […] geringem Zeitabstand in den unterschiedlichsten Ländern Europas. Noch im Jahr der Erstveröffentlichung erschien das komplette Manifest außer in französischer und italienischer Version auch auf Englisch (im „Daily Telegraph“ und in der New Yorker „Sun“), auf Portugiesisch [..], auf Russisch […] und auf Spanisch. […]. Und die futuristische Neuigkeit verbreitete sich […] bis nach Japan, wo die Zeitschrift „The contemporary Western Painting“ lange Auszüge des Texts brachte, wenn auch erst im April 1911. Als eine Art simultaneistisches Text-Ereignis demonstrierte das futuristische Manifest somit auch strukturell, in der Form seiner Verbreitung, was es inhaltlich proklamierte: die Herrschaft über Raum und Zeit, eine ortlose Omnipräsenz des (männlichen) Geistes, der durch die magische Macht der Technik die Beschränkungen des bloßen Lebens zu transgredieren vermag.
Der propagandistisch-publizistische Kosmopolitismus, mit dem Marinetti seine totalitäre Botschaft vom Ausbruch ins Kosmische grenzüberschreitend zu verbreiten versuchte, […] ließ ihn zum großen Vorbild anderer Avantgardekünstler avancieren. In der Tat nahm sich die Dynamik dieses literarischen Global Players, der zur Organisation der europaweiten Wanderausstellung futuristischer Bilder 1912 schon mal innerhalb zweier Wochen zwischen Berlin, Mailand, Paris und Brüssel pendelte, in den Augen der Zeitgenossen bisweilen wie die Verwirklichung [eines] pantheistischen Ubiquitätstraumes aus […].

[Hanno Ehrlicher: Entleerte Innenräume. Avantgarde als Fluchtbewegung, in: Heinz-Ludwig Arnold (Hg.), Aufbruch ins 20. Jahrhundert. Über Avantgarden. München: edition text + kritik, boorberg. 2001, S.77-91(= Text + Kritik. Zf. für Literatur. Sonderband IX/01);

Siehe darüber hinaus:

Hanno Ehrlicher: Die Kunst der Zerstörung. Gewaltphantasien und Manifestationspraktiken europäischer Avantgarden. Berlin: Akademie-Verlag 2001;

Manfred Hinz: Die Zukunft der Katastrophe. Mythische und rationalistische Geschichtstheorie im italienischen Futurismus. Berlin, Boston: de Gruyter 1985].

Werfen wir einen Blick auf den Gründungstext, der das erste Manifest des Futurismus (1909; dt. in: Der Sturm 2, Nr.104. 1912) enthält, das übrigens explizit die „Verachtung des Weibes“ in eine Reihe stellt mit den zu ‚verherrlichenden‘ inhumanen Idealen des „ Krieg[es]“, des „Militarismus“, des „Patriotismus“, der „Vernichtungstat der Anarchisten“ und der „schönen Ideen, für die man stirbt“ (Manifest 9., S.5). Ich hatte auf den rückschrittlich misogynen Aspekt des Futurismus in der letzten Woche hingewiesen (vgl. auch Manifest 10., S.5: „gegen den Moralismus, den Feminismus und gegen jede Feigheit kämpfen, […].“).
Bitte lesen Sie den Text genau und achten Sie auf seine Metaphorik, auf seine Selbstwidersprüche und vor allem auch darauf, welche Gründungsgeschichte, welche Art von Gründungsmythos er erzählt.

Gründung und Manifest des Futurismus

Berühmt geworden ist als Kurzformel für die futuristische „neue Schönheit der Geschwindigkeit“ das folgende Zitat aus Punkt 4. des Manifests:

Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen… ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake.

Festzuhalten ist mindestens das Folgende:

1) Eine Tendenz zur Selbstmythisierung, die zu einem Selbstwiderspruch des Futurismus und zu seiner Selbstaufhebung führt: Der Futurismus wendet sich gegen ‚Geschichte‘ und ‚Mythos‘ und will doch schon im Augenblick seiner ersten Manifestation nicht auf seine ausdrückliche Selbstmythisierung verzichten. Erinnert sei an das bereits in der letzten Woche angesprochene Dilemma aus ‚Tradition‘ und ‚Anti-Tradition‘, auf den institutionalisierten Futurismus als paradoxe Tradition der Traditions-Zerstörung:

Endlich ist die Mythologie, ist das mystische Ideal überwunden. Wir werden der Geburt des Kentauren beiwohnen und bald werden wir die ersten Engel fliegen sehen! (S.3)

Und der postulierte Zyklus des Absterbens und der Erneuerung macht auch vor der ersten Futuristen-Generation nicht halt, die von der Nachfolge-Generation vernichtet wird (Selbstaufhebung des Futurismus): „starke und gesunde Ungerechtigkeit wird hell aus ihren Augen strahlen. Denn Kunst kann nur Heftigkeit, Grausamkeit und Ungerechtigkeit sein“ (S.6).

2) Die metaphorische Technifizierung der Natur und die Naturierung / Belebung / Personifikation der Technik – zeitgeschichtlich übrigens flankiert von Pionieren und ‚Helden‘ aus Technik und Wissenschaft wie Robert Edwin Peary, der 1909 erstmalig den Nordpol erreicht haben will, und Louis Blériot, der im selben Jahr den Ärmelkanal mittels Flugzeug überquert hat: Automobile als „schnaufende Bestien“, deren „heiße Brüste“ gestreichelt werden (S.3; ähnlich Manifest 11., S.5).

3) Der bereits angesprochene ‚Hygiene‘-Diskurs, der metaphorisch mit einer entmenschlichenden Wiedergeburt nach ‚Unfall‘ und mit ‚Gesundung‘ nach ‚Krankheit‘ verknüpft wird:
„Geburt des Kentauren“ als Tier-Mensch-Hybridwesen (S.3);
„wie junge Löwen verfolgten wir den Tod“ (S.3);
der re-vitalisierte ‚Leichnam‘ als Technik-Hybrid: „in meinem Wagen wie ein Leichnam in der Bahre […], aber sogleich erwachte ich zu neuem Leben unter dem Steuerrad“ (S.3);
das Unfall-„Auto“ als metaphorischer und wundersam wiederbelebter ‚Haifisch‘:
alle glaubten, mein schöner Haifisch wäre tot, aber eine Liebkosung von mir genügte, um ihn wieder zu beleben; schon ist er zu neuem Leben erwacht, schon bewegt er sich wieder auf seinen mächtigen Flossen! (S.4)
Welche konkrete Gründungsgeschichte erzählt nun der Text Marinettis auf der Basis solcher Semantik? Was ermöglicht die ‚Geburt‘ der in diese Narration eingebetteten elf Punkte des „Manifests des Futurismus“?

Innenraum vs. Außenraum, Unfall

Die Entstehung des Futurismus scheint diesen bereits zirkulär vorauszusetzen. Nur das von Anfang an schon ‚futuristische Verhalten von ‚Ich‘ und ‚Wir‘ gebiert ihn überhaupt erst als ‚manifestierte‘ Bewegung, als paradoxerweise fixierbares Programm, was die Raumsemantik des Gründungstextes indirekt auch reflektiert: „als ich mit derselben tollen Trunkenheit der Hunde, die sich in den eigenen Schwanz beißen wollen, scharf um mich selbst drehte, […]. […] dummes Dilemma […]“ (S.4). Die paradoxe Zirkularität des Futurismus, die dessen ungebremste Linearität ‚reflexiv‘ Lügen straft, wird räumlich in eine Radfahrerbegegnung übersetzt und zugleich auch zum logischen ‚Unfall‘ – wie die Kollision von „zwei [kontradiktorischen] Überlegungen“ (S.4), aus der der Prophet des Futurismus jedoch gestärkt hervorgeht, ‚neu geboren‘ wird.
Vom geschmäcklerisch verfeinerten Innenraum, in den Geräusche animalisierter Technik eindringen, führt die Bewegung als Grenzüberschreitung in den städtischen Außenraum, wo die lineare, logische und räumliche Bewegung durch den reflexiven ‚Unfall‘ gebremst wird. Erst durch diesen ‚Unfall‘ als ‚Selbstopfer‘ (selbstverschuldet „vor lauter Ärger“) gelingt die wundersame Auferstehung als ‚Übermensch‘.

Wiedergeburt und ‚Manifest‘

Das ‚Wunder‘ der Auferstehung aus dem „mütterlichen [Straßen]Graben“ (S.4), der zugleich als „Abflußgraben einer Fabrik“ (S.4) und als Ersatz-Amme fungiert, verdankt sich dem ‚begierig geschlürften‘, belebenden Schlamm: Erst die Regression ins Mütterlich-Feuchte ermöglicht dem Ich nach seiner Neu-‚Geburt‘ auch die ‚Erweckung‘ des demolierten Autos (‚Haifisch‘).
Und erst nach dieser Läuterung wird das übermenschlich-gottgleiche Willensdiktat des futuristischen Manifests „auf dem Gipfel der Welt“ (S.7) und als heroische „Herausforderung [der] Sterne“ (ebd.) möglich:

Da, das Antlitz vom guten Fabrikschlamm bedeckt – […] – zerbeult und mit verbundenen Armen, aber unerschrocken, diktieren wir unseren ersten Willen allen lebendigen Menschen dieser Erde:

Manifest des Futurismus
[…]“ (S.4).

Im Technischen Manifest der futuristischen Literatur (1912) plädiert Marinetti schließlich für eine weitgehende Zerstörung der Sprache (Syntax, Zeichensetzung usf.), nimmt aber ‚Analogien‘ und ‚Bilder‘ (Vergleiche, Metaphern) davon aus, was mit Blick auf die Metaphorik der Gründungsgeschichte des Futurismus nicht verwundert. Allerdings schlägt Marinetti eine Minimierung der tertia comparationis, also der gemeinsamen Merkmale von Verglichenem und Vergleich, vor:

Ich saß im Flugzeug auf dem Benzintank und wärmte meinen Bauch am Kopf des Fliegers, da fühlte ich die lächerliche Leere der alten, von Homer ererbten Syntax. Stürmisches Bedürfnis, die Worte zu befreien, sie aus dem Gefängnis des lateinischen Satzbaus zu ziehen! Dieser hat natürlich, wie alle Dummköpfe, einen vorausschauenden Kopf, einen Bauch, zwei Beine und zwei Plattfüße, aber er wird niemals zwei Flügel haben. Es reicht gerade, um zu gehen, einen Augenblick zu laufen und fast sofort wieder keuchend anzuhalten! Das hat mir der surrende Propeller gesagt, während ich in einer Höhe von zweihundert Metern über die mächtigen Schlote von Mailand flog. Und er fügte hinzu:
1. MAN MUSS DIE SYNTAX DADURCH ZERSTÖREN, DASS MAN DIE SUBSTANTIVE AUFS GERADEWOHL ANORDNET, SO WIE SIE ENTSTEHEN.
2. MAN MUSS DAS VERB IM INFINITIV GEBRAUCHEN, damit es sich elastisch dem Substantiv
anpaßt, und es nicht dem Ich des Schriftstellers unterordnen, der beobachtet und erfindet. Nur das Verb im Infinitiv kann das Gefühl für die Fortdauer des Lebens und die Elastizität der Intuition, durch die sie wahrgenommen wird, vermitteln.*
3. MAN MUSS DAS ADJEKTIV ABSCHAFFEN. […].
4. MAN MUSS DAS ADVERB ABSCHAFFEN, diese alte Schnalle, die ein Wort an das andere bindet […].

[*Anmerkung: Erinnern Sie sich an Arno Holz‘ Formel ‚Kunst = natur minus x‘. Wenn das x der Künstlichkeit, des Dichtereingriffes gegen Null tendiert, würde Kunst gleich Natur, ohne die verzerrende Subjektivität des Künstlers; das ‚Nicht-Ich‘ würde unendlich, das Ich gleich Null (Fichte).]
Und weiter heißt es:

7. Die Schriftsteller haben sich bisher der unmittelbaren Analogie hingegeben. Sie haben zum Beispiel ein Tier mit einem Menschen oder mit einem anderen Tier verglichen, was ungefähr der Photographie gleichkommt. (Sie haben zum Beispiel einen Foxterrier mit einem ganz kleinen Vollblut verglichen. Andere, Fortgeschrittenere, könnten denselben Foxterrier mit einer kleinen Morsemaschine vergleichen. Ich hingegen vergleiche ihn mit aufkochendem Wasser. Es ist dies eine ABSTUFUNG VON IMMER AUSGEDEHNTEREN ANALOGIEN, und es bestehen immer tiefere und festere, wenn auch sehr fernliegende Beziehungen). Analogie ist nur die tiefe Liebe, die fernstehende, scheinbar verschiedene und feindliche Dinge verbindet. Nur durch sehr ausgedehnte Analogien kann ein orchestraler Stil, der gleichzeitig polychrom, polyphon und polymorph ist, das Leben der Materie umfassen. […]. Die Bilder […] bilden das Blut der Dichtung. Dichtung muß eine ununterbrochene Folge neuer Bilder sein, ohne die sie blutarm und bleichsüchtig ist. Je mehr Bilder weite Beziehungen enthalten, desto länger bewahren sie ihre Fähigkeit, in Erstaunen zu versetzen. […]. Deshalb muß in der Sprache abgeschafft werden, was sie an Bild-Klischees und farblosen Metaphern enthält, also fast alles.

8. […]. Der Analogie-Stil ist folglich unumschränkter Herr der ganzen Materie und ihres intensiven Lebens.

Je mehr sich die Kunst bemüht, das Holzsche x zu tilgen, je mehr sie versucht, ihre eigene Künstlichkeit, die sie vom ‚Leben der Materie‘ unterscheidet, zu verleugnen oder unsichtbar zu machen, desto größer wird dieses x, desto sichtbarer werden also die Kunstanstrengungen. Es bedarf immer ‚kühnerer’ Metaphern (im Sinne der ‚absoluten Metapher‘ des Symbolismus im späten 19. Jahrhundert: Stéphane Mallarmé), immer überraschenderer, noch stärker provozierender, noch dunklerer ‚Analogien‘, um der ‚Automatisierung‘ der Rezeptionserwartungen entgegenzuwirken.
Die normative Forderung Marinettis, die er im Punkt 3 des Manifests der futuristischen Bühnendichter 1911 fast verzweifelt erhebt, scheint vor diesem Hintergrund ihre Unerfüllbarkeit insgeheim bereits anzuerkennen, beschränkt sie sich doch lediglich auf eine zu verfolgende Absicht – und provoziert umso mehr durch ihre naive Radikalität:
„Die Autoren dürfen keine andere Absicht verfolgen, als die einer ABSOLUTEN ORIGINALITÄT.“

Mehr als relative ‚Originalität‘, die vom jeweiligen Erwartungskontext abhängig ist, vermögen auch die Avantgarden nicht zu erreichen.
Auch die kaum auflösbare Paradoxie zwischen den sprachlichen Mitteln und den mit ihrer Hilfe formulierten Zielen reflektiert Marinetti 1913 in seinem ‚Manifest‘ Zerstörung der Syntax – Drahtlose Phantasie – Befreite Worte ausdrücklich, wenn er einräumt, „noch mit Syntax und der Zeichensetzung vorliebnehmen“ zu müssen: „So bin auch ich gezwungen , mich ihrer zu bedienen, um Ihnen meine Ideen darlegen zu können.“
Die futuristische Utopie einer „vollständigen Erneuerung der menschlichen Sensibilität“ wird jedoch nicht aufgegeben, sondern vielmehr schon im nächsten Satz an die Hoffnung auf wissenschaftlichen und technischen Fortschritt gekoppelt:

Wer heute den Fernschreiber, das Telephon, das Grammophon, den Zug, das Fahrrad, das Motorrad, das Auto, den Überseedampfer, den Zeppelin, das Flugzeug, das Kino, die große Tageszeitung (Synthese eines Tages der Welt) benutzt, denkt nicht daran, daß diese verschiedenen Arten der Kommunikation, des Transportes und der Information auf seine Psyche einen entscheidenden Einfluß ausüben.

Diese Beobachtung Marinettis mag hellsichtig sein und bis in die Gegenwart zutreffen, zumal angesichts digitaler Speicher- und Verbreitungsmedien – Marinetti dürfte seine Freude daran haben. Ob seine Diagnose jedoch heute noch Anlass zu euphorischen emanzipatorischen Hoffnungen gibt oder eher das Gegenteil von ‚Befreiung‘ und ‚Sensibilität‘ befürchten lässt, bleibe dahingestellt. Dass künstlerische Utopie und politische Dystopie zwei Seiten einer Medaille sein können, lehrt das Beispiel des Futurismus allemal.
Die Produktions- und Wirkungsästhetik der fremdbestimmten ‚Überwältigung‘, die Marinetti im selben Manifest sodann unter der Überschrift „Die befreiten Worte“ propagiert, erweist sich jedenfalls eher als Symptom eines Determinismus, der das Künstlersubjekt dem Zwang der Wirklichkeit und ihrer Darstellung unterwirft. Die sprachliche (typografische, phonetische, syntaktische, morphologische, …) ‚Revolution‘ dient einem (naturalistischen) Nachahmungs-, ja Identitätspostulat von ‚Kunst‘ und ‚Natur‘/‚Leben‘/‚Wirklichkeit‘ und gibt die Aufhebung der Kunst als ihre Vollendung aus:

Stellt euch vor, ein Freund von euch, der über [die] lyrische Fähigkeit verfügt, [sich am Leben und an sich selbst zu berauschen], befindet sich in einer Zone intensiven Lebens (Revolution, Krieg, Schiffbruch, Erdbeben usw.) und kommt gleich darauf, um euch seine Eindrücke zu erzählen. Wißt Ihr, was euer lyrischer und erregter Freund instinktiv machen wird? …
Er wird zunächst beim Sprechen brutal die Syntax zerstören. Er wird keine Zeit mit dem Bau von Sätzen verlieren. Er wird auf Interpunktion und das Setzen von Adjektiven pfeifen. Er wird nicht darauf achten, seine Rede auszufeilen […], sondern er wird ganz außer Atem in Eile seine Seh-, Gehör- und Geruchsempfindungen in Eure Nerven werfen, so wie sie sich ihm aufdrängen. Das Ungestüm seiner Dampf-Emotion wird das Rohr des Satzes zersprengen, die Ventile der Zeichensetzung und die Regulierbolzen der Adjektive. Viele Handvoll von essentiellen Worten ohne irgendeine konventionelle Ordnung. Einzige Sorge des Erzählers: alle Vibrationen seines Ichs wiederzugeben.

Eine derart brutale, eruptive Produktionspoetik und ‚nervös erregte‘, explosive Wirkungsutopie, die sich der thermodynamischen Metaphorik einer Kesselexplosion bedient und ‚Empfindungen‘ als ‚Dampf-Emotionen‘ in unsere Nerven ‚werfen‘ will, ist in der Tat der Antipode der ‚Klassik‘. Deren distanzierte Immunisierungspoetik beruht laut Cornelia Zumbusch, die ich in der letzten Woche zitiert habe, auf der Angst vor emotionaler ‚Ansteckung‘ und lehnt solch brachiale Wirkungsstrategien ab – und zwar zugunsten einer relativen ‚Autonomie‘ von Kunstproduktion, Kunstwerk und Kunstwahrnehmung.
Einerseits predigt der Futurismus also eine ‚typografische Revolution’ und die lautliche und bildliche Befreiung des sprachlichen Materials – wodurch die Zeichen selbst zu ihrer einzigen selbstbezüglichen Realität werden –, andererseits instrumentalisiert er dieses Material für eine gesteigerte Mimesis (Nachahmung) von Wirklichkeit, so dass ‚Kunst‘ und ‚Leben‘ zusammenfallen.

Die Abbildung zeigt den Bucheinband eines der berühmtesten und ästhetisch folgenreichsten ‚optophonetischen‘ ‚Gedichte‘ Marinettis – Zang Tumb Tuuumb – , das typographische Bildqualitäten mit phonetischen Ausdrucksfunktionen kombiniert. Es wird ab 1912 auszugsweise in Zeitschriften und 1914 als Buch in Mailand publiziert. Sein ‚befreites‘ Zeichenmaterial wird jedoch zugleich auf die bildliche und onomatopoetische (lautmalerische) Mimesis (Nachahmung) des modernen Krieges verpflichtet, nämlich die Belagerung der osmanischen Stadt Adrianopel (heute Edirne) seit Oktober 1912 und deren Eroberung durch die Streitkräfte Bulgariens, Serbiens und anderer Balkanstaaten 1913 im Ersten Balkankrieg gegen das osmanische Reich, den Marinetti als Kriegsreporter beobachtet.

Zeitgleich publiziert Marinetti aber auch seine bis heute bekanntesten konventionellen Gedichte, die allenfalls futuristische Inhalte (Signifikate) thematisieren, also etwa Technik metaphorisch personifizieren und mythisch überhöhen, sich aber kaum der avantgardistischen Mittel (Signifikanten) bedienen, die die Manifeste so vehement proklamieren. An das Rennautomobil (1912) mag als ‚expressionistisch‘ anmutendes Beispiel dienen:

[Filippo Tommaso Marinetti: An das Rennautomobil, in: F.T.M., Futuristische Dichtungen. Übersetzt von Else Hadwiger. Berlin 1912, S.5f.; auch in: Hansgeorg Schmidt-Bergmann: Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente. Reinbek: Rowohlt 1993 (re 535), S.269-270].

August Stramm

Zumindest im Vergleich mit dem Rennautomobil scheint der im Ersten Weltkrieg gefallene deutsche Expressionist August Stramm (1874-1915) – Postbeamter und Offizier – allemal radikalere Konsequenzen aus Marinettis Futurismus zu ziehen, als dessen technikbegeisterte Lyrik. Stramms Sprachexperimente inspirieren nicht nur die deutschen Avantgarden der späten 1910 und 1920 Jahre, sondern tun dies bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts (‚Wiener Gruppe‘, Ernst Jandl).

Sein Gedicht Urtod (1915) weist zwar Regelmäßigkeiten auf (Wortwiederholungen, phonologische Äquivalenzen) und nähert sich musikalischen Gestaltungsprinzipien (Refrain, Thema mit Variationen). Es bedient sich aber weder semantischer Kunstmittel wie Marinettis ‚Analogien‘ (Metaphern, Vergleiche), noch geht die Freisetzung des adjektiv-freien Wortbestandes über eine ‚Zerstörung‘ der Syntax hinaus. Die Fremdreferenz der Kriegs- und Todes-Mimesis und die spielerische Selbstbezüglichkeit (‚Autonomie‘) des hoch selektiven und bedeutungsreduzierten Sprachmaterials halten sich die Waage – ebenso vertikal-lineare Zielgerichtetheit und statisches In-sich-Kreisen.

Welche Regelmäßigkeiten erkennen Sie?

Nach „Ringen / Werfen / Würgen“ und „Fallen / Sinken / Stürzen“ zu „Wirbeln“ und über „Wirren“, „Flirren“ und „Irren“ ins „Nichts“.

Nicht nur die unmittelbar nachfolgenden Avantgarden – und nicht nur die literarischen – werden von den ästhetischen Innovationen Marinettis nachhaltig profitieren, erben aber zugleich auch einen Teil der Selbstwidersprüche des Futurismus.

[Hansgeorg Schmidt-Bergmann: Die Anfänge der literarischen Avantgarde in Deutschland. Über Anverwandlung und Abwehr des italienischen Futurismus. Ein literarhistorischer Beitrag zum expressionistischen Jahrzehnt. Stuttgart: Metzler 1991]

Das 1916 gegründete Züricher Cabaret Voltaire und die Entstehung von ‚Dada‘ müssen noch auf den vierten Themenabschnitt warten.