Professor Dr. Claus-Michael Ort
Vorlesung: Literatur der Avantgarden (Wintersemester 2020/21)

Dadaismus IV

Kurt Schwitters / Dada Berlin: Hausmann, Baader / Schwitters: Anna Blume und Ursonate

Ich knüpfe an den letzten Themenblock an und trage zunächst noch einige Literaturhinweise und Anmerkungen zu Kurt Schwitters‘ potenziert selbstreflexiver Sonderstellung im Konzert der dadaistischen Stimmen nach.
Neben Hermann Korte und Beatrix Nobis, deren Studien am Ende der letzten ‚Vorlesung‘ empfohlen worden sind, ist zu allererst auch auf die beiden zitierfähigen Schwitters-Werkausgaben hinzuweisen. Solange von den neun Bänden der neuen Gesamtausgabe erst die Bände 3 und 4 erschienen sind (vgl. Kurt Schwitters: Alle Texte. Hg. von Ursula Kocher u. Isabel Schulz. Berlin, Boston: de Gruyter. Bd. III: Die Sammelkladden 1919-1923. 2014; Bd. IV: Die Reihe Merz 1923–1932. 2019), wird, wie auch in dieser ‚Vorlesung‘, auf die fünfbändige Werkausgabe von Friedhelm Lach zurückzugreifen sein: Kurt Schwitters: Das literarische Werk. Hg. von Friedhelm Lach. Köln: DuMont 1974-1981.
Hinzuweisen ist außerdem auf die Seiten des Projektes schwitters-digital.

Darüber hinaus möchte ich Sie bei dieser Gelegenheit auf literaturgeschichtlich und literaturtheoretisch übergreifende Deutungsperspektiven und Einordnungsversuche zu den Avantgarden des 20. Jahrhunderts und zu ihrer Vorgeschichte und Entstehung hinweisen – und zugleich noch einmal an Georg Jägers Studie von 1991 erinnern (vgl. erster Themenabschnitt):

Gerhard Plumpe: Epochen moderner Literatur. Ein systemtheoretischer Entwurf. Opladen: Westdeutscher Verlag 1995, siehe v.a. S.159-230.

Moritz Baßler/Christoph Brecht/Dirk Niefanger/Gotthart Wunberg: Historismus und literarische Moderne. Tübingen: Niemeyer 1996.

Georg Bollenbeck: Tradition, Avantgarde, Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne 1880-1945. Frankfurt/M.: Fischer 1999.

Wolfgang Asholt/Wolfgang Fähnders (Hg.): Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde – Avantgardekritik – Avantgardeforschung. Amsterdam u.a.: Rodopi 2000.

Lothar L. Schneider: Realistische Literaturpolitik und naturalistische Kritik. Über die Situierung der Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die Vorgeschichte der Moderne. Tübingen: Niemeyer 2005.

Christine Magerski: Theorien der Avantgarde. Gehlen – Bürger – Bourdieu – Luhmann. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften / Springer 2011.

Und wenn Sie sich längerfristig für die Avantgarden interessieren, dann kann schon jetzt auf die Kieler Dissertation von Jill Thielsen („Nun geht der Unsinn an“. Zur semantischen Funktion und feldtheoretischen Dimension kommunikativer Rahmen avantgardistischer und humoristischer Texte. 2020) verwiesen werden, die 2021 oder 2022 erscheinen wird und die Abhängigkeit avantgardistischer Erwartungsbrüche von ihren vielfältigen textinternen und textexternen (paratextuellen) ‚Rahmungen‘ umfassend untersucht (am Beispiel von Morgenstern, Ball, Huelsenbeck, Tzara und Karl Valentin).

Dada vs. Merz

Huelsenbeck, ich hatte bereits darauf hingewiesen, distanziert sich aggressiv vom vermeintlichen (auch äußerlich, kleidungsstilistisch) angepassten ‚Kleinbürger‘-Künstler Schwitters, der vom polemisch bekämpften Expressionismus-‚Papst‘, dem Galeristen, Verleger und Herausgeber der Zeitschrift Der Sturm (1910-1932), Herwarth Walden, zwischen 1918 und 1920 besonders gefördert wird, und schon deshalb nicht zu DADA gehören ‚darf‘: Huelsenbeck war nach eigener, späterer Aussage „Dadaist und Existentialist und Schwitters war Künstler und nichts als Künstler.“ (zitiert nach H. Korte, a.a.O., S.88).
Dass Huelsenbeck damit die paradoxe Komplexität der eigenen ‚dadaistischen‘ Position von ‚Kunst und/als Leben‘, von Kunstautonomie und funktionaler (‚kommerzieller) ‚Nicht-Kunst‘ simplifiziert, leuchtet vor dem Hintergrund der letzten ‚Vorlesung‘ ein. Und dass Schwitters unbeirrt darauf beharrt, ‚Nicht-Kunst‘ auf der Seite der ‚Kunst‘ anzusiedeln, erweist sich als eine zutiefst dadaistische ‚Gratwanderung‘, die „vielleicht […] nur in Manifesten möglich [ist], eine Gratwanderung mit einem Bein auf der Außenseite der Innenseite und mit dem anderen auf der Innenseite der Außenseite“ (Wolfgang Asholt 2000, s.u.). Schwitters radikalisiert diese ‚Gratwanderung‘ sogar werkintern noch, was sich in den frühen 1920er Jahren als werkpolitisch geschickt herausstellt. Weiter Asholt:

Diesen Drahtseilakt gewagt zu haben, und damit das höchstmögliche Maß des Verlassens der Institution Kunst mit teilweise künstlerischen Mitteln realisiert zu haben, bleibt das umgehend historisch gewordene Verdienst des Dadaismus

– und besonders von Schwitters, wäre zu ergänzen.

[Wolfgang Asholt: Projekt Avantgarde und avantgardistische Selbstkritik, in: Asholt/Fähnders 2000 (siehe oben), S.97-120, hier S.107.]

Wie Hermann Korte zu Recht ausführt (Korte S.90f., 93ff.), sichert die (‚zufällig‘ oder nicht) ‚Erfindung‘ der Marke ‚Merz‘ Schwitters‘ langfristigen Erfolg im ‚literarischen Feld‘, also – im Sinne der Literatursoziologie von Pierre Bourdieu – auf dem ‚Feld‘ der Konkurrenzen und ‚Kämpfe‘ innerhalb der Avantgarden selbst und der Avantgarden gegen ihre bürgerliche Kunst-Umwelt: „Was Merz ist, weiß heute jedes Kind“, so Schwitters schon 1922 (Ein Manifest).

Sein „emphatische[s] Bekenntnis zur Kunst – genauer zu einer neuen Kunst und zu einem offenen, erweiterten Kunstbegriff – macht den Unterschied zur Anti-Kunst-Revolte Berlins deutlich“ (Korte S.91). „Merz war Dada als Kunst – und insofern hatte Schwitters am Ende recht, wenn er schrieb: ‚Merz ist nicht dada!‘“ (Korte S.91) – zumindest insofern, als die konkurrierenden Dadaisten Dada exklusiv als ‚Nicht-Kunst‘ definieren und die daraus resultierenden Paradoxien entweder ausblenden oder sie als immunisierende und deshalb stabilisierende Selbstwidersprüche zelebrieren (‚Dada ist seine eigene Ablehnung‘, ‚wer gegen Dada ist, ist Dadaist‘ usf.).

Solche logischen Blockaden und Provokationen ersetzt Schwitters durch den totalisierenden Anspruch einer allumfassend inklusiven ‚Merzkunst‘ – ,Merzzeichnung‘, ‚Merzbild‘, ‚Merzdichtung‘, ‚Merzbühne‘ –, die auf den ersten Blick weder sich selbst noch der bereits etablierten Hochkunst der ‚Moderne‘ widerspricht. Ein letztes Mal Hermann Korte (S.93):

Die Beziehungen, die Schwitters zu Künstlern wie Hausmann, Theo van Doesburg, Arp und El Lissitzky pflegte, der 1922 erstmals Hannover besuchte und im September desselben Jahres am Dadaisten- und Konstruktivistenkongress in Weimar teilnahm, waren Ausdruck einer gelebten Merz- und Dada-Praxis zu einer Zeit, als der Dadaismus bereits Geschichte geworden war. Die Merzkunst aber hatte Schwitters als eine auf die Zukunft gerichtete Kunst konzipiert, so dass es nur konsequent war, dass er 1923, gleichsam am Ende von Expressionismus und Dadaismus, die erste Nummer seiner Zeitschrift Merz erscheinen ließ.

Dass Schwitters‘ ‚Merzkunst, die, wie wir in der letzten Woche gesehen haben, die ‚Gegensätze‘ ausdrücklich zu versöhnen beansprucht, deshalb nicht nur auf begleitende (Manifeste!), sondern v.a. auch auf werkinterne Selbstreflexion angewiesen ist, verwundert nicht. Implizit selbstreferentiell ist freilich auch der konkurrierende Dadaismus. Erinnert sei an Roland Barthes‘ Modell der konnotativen Bedeutungsaufladung: Wenn ein vorgefundener industriell gefertigter Gebrauchsgegenstand als objet trouvé zur ‚Kunst‘ erklärt wird (Marcel Duchamps ‚Urinal‘ ), ‚bedeutet‘ er unausweichlich die Unterscheidung von ‚Kunst‘ und ‚Nicht-Kunst‘ und die Überschreitung der Grenze zwischen beiden – die Differenz ‚Kunst/Nicht-Kunst‘ läuft gleichsam selbstreferentiell mit, wird im Readymade als Artefakt selbst aber nicht thematisiert bzw. reflektiert. Bei Schwitters steigt dagegen offenkundig auch der Bedarf an werkinterner Selbstreflexion, so dass beide Seiten der Unterscheidung von ‚Kunst‘/Nicht-Kunst‘ ihrerseits von ‚Kunst‘ inkludiert und intern rekursiv reproduziert werden können.

Hans-Edwin Friedrich hat dies für Schwitters jüngst herausgearbeitet:

In dem Maß, in dem Merz von dem abweicht, was in der Umwelt von Merz als Kunst definiert ist, muss das Merzkunstwerk selbst kommunizieren, dass es Kunst ist. Der exzessive Gebrauch von Selbstreferenz ist demnach nicht allein spielerisch, sondern folgt einer programmatischen wie gestalterischen Logik. Am Ende erweist sich, dass Schwitters Selbstreferenzen zum Signum avantgardistischer Textproduktion macht, ohne dass jedoch der Umkehrschluss gelten würde.

[Hans-Edwin Friedrich: „… kein geringerer als Kurt Schwitters“. Zur Funktion von Selbstreferenz in den Merz-Texten, in: Nikolas Buck/Jill Thielsen (Hg.): Selbstreferenz in der Kunst. Formen und Funktionen einer ästhetischen Konstante. Baden-Baden: Ergon 2020, S.255-273, hier S.273].

Berliner Dadaismus: Raoul Hausmann und Johannes Baader

Bevor wir uns nun vor dem hier angedeuteten kunsttheoretischen Hintergrund Anna Blume und der Ursonate, also zwei der bis heute bekanntesten Werke von Schwitters zuwenden, sollen wenigstens einige Schlaglichter zum kurzlebigen Berliner Dadaismus nachgetragen werden, aus dem sich Schwitters ‚ausdifferenziert‘. Als dessen Hauptvertreter können – neben Richard Huelsenbeck und den Bildkünstlern George Grosz, John Heartfield und Hannah Höch – der bereits mehrfach erwähnte persönliche Freund von Schwitters, Raoul Hausmann, und v.a. Johannes Baader gelten.

Raoul Hausmann: kp‘erioum, optophonetisches Gedicht, 1919

Raoul Hausmann (Wien 1886- Limoges 1971), der aus Wien nach Berlin zugezogene junge Expressionist, kommt 1917 mit Dada in Berührung und wird einer der aktivsten Akteure der kurzen Berliner Dada-Phase. Er erweist sich als Pionier der Photomontage, der typografischen Plakatgedichte, schreibt phonetische Poeme und wird 1919 Herausgeber der Zeitschrift Der Dada. Aufgrund elektroakustischer und optischer Analysen konstruiert er ein Optophon, das Schall- und Lichtwellen in Korrespondenz bringen soll und 1935 in London patentiert wird. 1933 emigriert, widmet sich Hausmann der Photographie und phototechnischen Experimenten. Bis 1944 permanent auf der Flucht, lässt er sich in Limoges nieder, wo er bis zu seinem Tod 1971 zurückgezogen lebt. Hausmann verfasst und publiziert mehrfach physikalisch-naturwissenschaftliche Aufsätze und versucht, ganz im Sinne der Frühromantik, Kunst, Philosophie und Naturwissenschaft auf eine – aus heutiger Sicht – verschrobene (neuplatonische) Weise in einer „optophonetischen Weltanschauung“ zu vereinen, so etwa in seinem 1922/1923 notierten Traktat Versuch einer kosmischen Ontographie, in dem davon die Rede ist, dass

Sprache, der Tanz und die Musik […] Höchstleistungen der Intuition im Zeit-Raum [seien]. Unsere Bewusstseinsform von ihm ist die electro-kinetisch-chemische, in deren Wesen die Transformationsmöglichkeit der bisher als starr gedachten Einzelemanationen in Simultanemanationen liegt. Die Radiotechnik und Optophonetik sind Teile dieses Bewusstseins, das Hinzuziehen der haptischen Emanation wird uns eine präcise Gestaltung unserer menschlichen Notwendigkeiten erdatmosphärischer Natur gestatten.

[Raoul Hausmann: Dada-Wissenschaft. Wissenschaftliche und technische Schriften. Hg. von der Berlinischen Galerie – Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur. Bearbeitet von Arndt Niebisch. Hamburg: Philo Fine Arts 2013, S.74-132, hier S.75]

Futurismus-Parodie oder ernst gemeint? Prominente Avantgardisten zeigen bekanntlich des Öfteren die Neigung, sich langfristig nicht mit Kunst allein zufrieden zu geben. Sie tendieren dazu, das Feld der Kunst entweder zu verlassen oder Kunst zu politisieren, zur Religion zu erheben oder zu verwissenschaftlichen, – tiefenpsychologisch (im Surrealismus) oder medientechnisch-naturphilosophisch, wie im Falle Hausmanns.

Der seit 1905 mit Hausmann befreundete, Okkultist und religiöse Esoteriker, Architekt, Schriftsteller und Journalist Johannes Baader (Stuttgart 1875 – Adldorf/Niederbayern 1955) geht jedoch den entgegengesetzten Weg. Vermittelt durch Hausmann lebt Baader seine bereits vorher bestehende Neigung zu missionarisch christlichem Mystizismus in dadistischen Manifesten und Aktionen aus, die Dada entweder pseudo-religiös aufladen oder umgekehrt religiöse Inhalte zu parodieren und zu entwerten scheinen und jedenfalls ein blasphemisches Provokationspotential entfalten – ganz unabhängig von Baaders eigentlichen Intentionen. Schon 1906 plant Baader einen ‚Welttempel‘ für den „Internationalen interreligiösen Menschenbund“ und in seinen 1914 veröffentlichten 14 Briefen Christi (1914) gibt er sich als re-inkarnierter Jesus Christus aus, veranstaltet nach dem Ende von Weltkrieg und Kaiserreich im November 1918 ein Christus-Happening im Berliner Dom und 1919 im neuen Weimarer Reichstag (Flugblatt Grüne Leiche). Dadaistische Performance oder ernst gemeinte Nachfolge (imitatio) Christi – oder beides?

Baader nimmt als ‚Oberdada‘ 1920 an der Ersten Internationalen Dada-Messe teil und agiert zusammen mit Hausmann und Huelsenbeck auf Tourneen und als Gründer der „Ersten Intertel-lurischen Akademie“ (1921).
Nach dem Ende von Dada werden seine Aktionen zwar wieder als das rezipiert, was sie zuvor auch immer schon waren, nämlich religiöses Schwärmertum. Wenn er jedoch 1930 per Flugzeug einen Kongress von Christus-‚Wiedergängern‘ als der ‚wahre Christus‘ besucht, persifliert und provoziert solche Selbstinszenierung nicht nur die Erwartungen christlicher Sektierer, sondern – beabsichtigt oder nicht – auch die mediale Sakralisierung von Politik am Ende der ‚Weimarer Republik‘ (Hitler als messianische Führer-Gestalt).

Hausmanns Wissenschafts- und Technik-Dadaismus, Baaders Religions-Dadaismus und Schwitters Kunst-Dadaismus erweisen sich jedenfalls als unterschiedliche Spielarten der frühen Avantgarde, von denen nur Schwitters‘ konsequenter Weg als (Merz-)Künstler langfristig erfolgreich ist.

[Karl Riha (Hg.): Johannes Baader Oberdada – Vierzehn Briefe Christi und andere Druckschriften. Frankfurt/M.: Peter Lang 1988.

Johannes Baader. Das Oberdada. Die Geschichte einer Bewegung von Zürich bis Zürich. Hg. von Karl Riha/ Franz-Josef Weber. Siegen: Universität GH Siegen 1987.

Hanne Bergius: Das Lachen Dadas. Die Berliner Dadaisten und ihre Aktionen. Gießen: Anabas 1989.

Hanne Bergius: Montage und Metamechanik. Dada Berlin – Artistik von Polaritäten. Berlin: Gebr. Mann 2000; darin auch die Rekonstruktion der ‚Ersten Internationalen Dada-Messe‘, Berlin 1920]

Das auf der nächsten Seite abgebildete, im Februar 1919 als Presseerklärung mit Vorspann („WAS DARF SATIRE ? [… ]“) herausgegebene Flugblatt haben als Mitglieder des „dadaistischen Zentralrats der Weltrevolution“ auch Hausmann, Tzara, Grosz, Janco, Huelsenbeck u.a. unterschrieben; es trägt jedoch v.a. die ‚Handschrift‘ des typographisch hervorgehobenen, erstgenannten ‚Baader‘.

Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht sind bereits im Januar in Berlin ermordet worden. Im Februar tritt in Weimar die verfassungsgebende Nationalversammlung zusammen und Friedrich Ebert (SPD) wird zum Reichspräsidenten gewählt. Die Berliner März-Kämpfe mit sozialistischen Arbeiterräten, Generalstreiks und die kurze Phase der sozialistischen Räterepublik in Bayern nach der Ermordung Kurt Eisners stehen erst noch bevor.

Was parodiert, kritisiert, ironisiert oder provoziert in dieser Situation also ein patriarchalischer Welt-Präsident ‚Oberdada‘, der gegen das ‚Weimar‘ der deutschen Klassiker und der Nationalversammlung agitiert, es in die Luft sprengen will und zugleich – nicht zufällig auf dem fiktionalisierten Flugblatt platziert – in einer Versammlung im Berliner „Kaisersaal des Rheingold […] verkündigt“ werden soll, um das „Genie“ des Volkes zu befreien? ‚Weltrevolution‘ gegen (Weimarer) parlamentarische Demokratie? Ein messias-gleich ‚verkündigter‘ „Oberdada als Präsident des Erdballs“, dessen poltisch-anarchistische oder ersatzreligiöse Erlösungsziele sich zugleich als dadaistische diskreditieren oder zumindest als bloß ‚satirische‘ entschärfen?

In der Zeitschrift Der Dada 1 (1919) veröffentlicht Johannes Baader im selben Jahr den Text Die Jungfrau Maria um Schutz Deutschlands angerufen. Die Erhebung der unbefleckten Empfängnis zur Staatsreligion bevorstehend:

Der verstorbene Oberdada ist in Folge seiner Beziehungen zur Jungfrau Maria in den Besitz eines geheimen Memorandums gelangt, das die Regierung Ebert-Scheidemann an den Papst gerichtet hat und in dem der Übertritt der gesamten S.P.D. zum Katholizismus angeboten wird, wenn der Papst mehr für Deutschland herausholt als der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Der Papst hat das Memorandum der zuständigen Stelle weitergereicht. Wie er dies bewerkstelligt hat, ist sein Geheimnis, da der Aufenthalt der Jungfrau Maria unbekannt ist. Jedenfalls kam das Gesuch in die Hand des Oberdada, der bekanntlich der Sohn der Jungfrau Maria ist […]. Wie wir hören, soll ohne die Erhebung der unbefleckten Empfängnis zur Staatsreligion keinerlei Erleichterung gewährt werden. […] [ein Gutachten] [untersucht] die unbefleckte Empfängnis vom sozialdemokratischen Gesichtspunkt aus, besonders mit Berücksichtigung der Rheinlande […] und [kommt] zu dem Schluss, dass die unbefleckte Empfängnis das eigentlich sozialdemokratische Grunddogma darstellt, weshalb der Nationalversammlung ein diesbezüglicher Antrag unverzüglich zugeht. Die Jungfrau Maria hat versprochen, anstelle des immer noch unabkömmlichen Papstes selbst mit dem Oberdada der Sitzung beizuwohnen. […] die Dadaisten werden den Choral ‚Eine feste Burg ist unser Gott‘ blasen. […]. […]. Alle Kirchenglocken werden zu Ehren des Oberdada den dada-Moll schlagen. Die unbefleckte Empfängnis wird kinematographisch in allen Staatstheatern vorgeführt werden und Deutschland wird wieder an der Spitze des vordersten Glieds marschieren und selber die unbefleckte Empfängnis der Welt vornehmen.

Dada

[zitiert aus Karl Riha (Hg. in Zusammenarbeit mit Hanne Bergius): Dada Berlin. Texte, Manifeste, Aktionen. Stuttgart: Reclam 1977, S.37-38]

Der Oberdada als Jesus Christus, Sohn Gottes und Mariens, verspricht 1919 die ‚Erlösung‘ Deutschlands und der Welt in einem Stück politischer Nonsens-Poesie, das bereits spätere surrealistische Kopplungen von Religion und Politik ahnen lässt und beide ad absurdum führt. Dass die ‚Erlösung‘ Deutschlands und der Welt auf der seit 1854 dogmatisierten ‚unbefleckten Empfängnis‘ Mariens (nicht Jesu!) beruhe, erweist sich insofern als dada-affin, als diese – biologisch beim Wort genommen und nicht theologisch korrekt als Erbsünde-freie conceptio immaculata interpretiert – auf einem Selbstwiderspruch beruht, der das Verhältnis von (absoluter) Autonomie und Heteronomie betrifft. Darin ähnelt sie Schwitters ‚Merz‘-Poetik, die eine allumfassend autonome Kunst unter dem Markenzeichen eines verstümmelten ‚(Kom-)Merzes‘ propagiert, der solcher Verabsolutierung zuwiderläuft, Kunst vermeintlich zur ‚Ware‘ degradiert und kommerziell mit Metall (‚M│erz‘) verrechnet.
In Die acht Weltsätze des Meisters Johannes Baader über die Ordnung der Menschheit im Himmel […] (1919) verspricht der ‚Meister‘ gar, dass die „Menschen […] Engel“ seien und „im Himmel [leben]” (Riha S.41), was ganz un-ironisch in einen metaphysisch-kosmisch aufgeladenen ‚Existentialismus‘ mündet: „Das Weltbewußtsein hat keinen Gott nötig. Wo anders sollen wir sein als im Himmel? Nennen Sie mir ein größeres Wunder als das Dasein der Welt und des Menschen. Was ist ein Weltall und eine Weltallkumulation?“ (ebd. S.42).

Schon 1918 definiert Baader den ‚Dadaisten‘ wie folgt:
Wer ist Dadaist? (in: Die freie Straße 10, 1918, zitiert aus Riha, S.40)

Ein Dadaist ist ein Mensch, der das Leben in all seinen unübersehbaren Gestalten liebt und der weiß und sagt: Nicht allein hier, sondern auch da, da, da ist das Leben! Also beherrscht auch der wahrhafte Dadaist das ganze Register der menschlichen Lebensäußerungen, angefangen von der grotesken Selbstpersiflage bis zum heiligsten Wort des Gottesdienstes auf der reif gewordenen, allen Menschen gehörenden Kugel Erde. Und ich werde dafür sorgen, dass auf dieser Erde Menschen leben künftig. Menschen, die ihren Geist in der Gewalt haben und mit diesem Geist die Menschheit neu schaffen.
Der Oberdada
Ich stehe über der Nationalversammlung. […] aus dem Recht des Geistes. […]. Wer mir nicht folgen will als ‚Christus‘, mag mir als Freund des ‚Oberdada‘ willkommen sein. Wer auch den nicht liebt, der gehe mit mir, als mit dem das ganze Weltall umspannenden Menschen.

„da, da, da ist das Leben“ – eine (meta- oder ‚ober‘-dadaistische?) philanthropisch-lebensphilosophische und zugleich alltagssprachliche Banalisierung des Dadaismus, der sich in der Baaderschen Prägung wie ein komplementäres Gegenstück zu Schwitters‘ umfassend inklusivem ‚Kunst‘-Begriff ausnimmt, sich aber stattdessen auf der Seite des allumfassenden kosmischen ‚Lebens‘ ansiedelt – von „Selbstpersiflage“ bis zur geist-metaphysischen Welterlösung.

Einerseits fungiert Dada als Ersatzreligion, die ihre eigene Selbstnegation und ‚Persiflage‘ miteinschließt (Baader), andererseits als ‚Kunst‘, die sich gleichsam in sich selbst transzendiert, sich in sich selbst ‚aufhebt‘, also ihre eigene Negation als ‚Kunst‘ in der Merz-Kunst überlebt (Schwitters). Baader und Schwitters erscheinen aus dieser Perspektive auf den zweiten Blick tatsächlich als Antipoden und Extrempole des Dadaismus.

Erinnern Sie sich bei dieser Gelegenheit bitte auch noch einmal an Raoul Hausmanns Anzeige in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Der Dada (Nr.2, Berlin 1919) „Was ist dada?“ (vierte Woche, S.21ff), die im Gegensatz zu Baader die Frage zwar offenlässt, aber sehr wohl suggeriert, ‚Dada‘ könne Kunst, Philosophie, Politik, eine Feuerversicherung, Staatsreligion, Energie, Alles und Nichts sein. Bei Hausmann ist ‚Dada‘ jedoch die Frage selbst, während Schwitters und Baader, deren Verständnis von ‚Kunst‘ und ‚Leben‘ gleichermaßen allumfassend erscheint, ihre ‚Antworten‘ (merz-)poetologisch (Schwitters) bzw. philosophisch-metaphysisch (Baader) grundieren. Baader, der Oberdada-Erlösungsmessias, propagiert satirisch immerhin noch die Sprengung von ‚Weimar‘ als Symbol der ‚Geistlosigeit‘, limitiert also zumindest das ‚Lebensrecht‘ des von Huelsenbeck so verachteten Kunst-‚Spießbürgers‘. Schwitters langfristig erfolgreiche Merz-Kunst scheint dagegen ohne Feindbilder auszukommen und ruft gerade deshalb innerhalb der Avantgarde Gegner auf den Plan, die ihr verkappten Traditionalismus und eine normative Hoch-Kunstkonzeption unterstellen.

Festzuhalten ist nach diesem Ausflug in die logischen Abgründe dadaistischer Selbstdefinitionen mit Blick auf Johannes Baader jedenfalls, dass dieser sehr viel stärker als der Katholik Hugo Ball, der erst nach seiner Züricher Dada-Zeit wieder religiöser geworden ist, christlich-häretisches Sendungsbewusstsein mit dadaistischen Parodien welt-politischer und welt-religiöser Rituale und Symbolik verbindet. Und wie kaum bei einem anderen prominenten Dadaisten bleibt die dadaistische Befreiung von kirchlichem und religiösem ‚Kultur- und Traditionsmüll‘ so sichtbar und widersprüchlich genau dem Kontext verhaftet, den sie eigentlich zu überwinden, zu sprengen beabsichtigt.
Die politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Situation in Berlin nach der Rückkehr Huelsenbecks aus Zürich (1917) war, das ist bereits mehrfach gestreift worden und sollte nicht ausgeblendet werden, nach dem Kriegsende 1918 eine grundlegend andere als im friedlich reichen Zürich 1916 ff (?). Dass der aggressiv anti-expressionistisch ausgerichtete Berliner Dadaismus von Anfang an sehr viel stärker als nihilistischer, wertezersetzender Skandal empfunden wird als der Züricher Dadaismus und die Gruppe nach nur knapp zwei Jahren ihr Pulver offenkundig verschossen hat, mag an der wirtschaftlichen Notsituation nach dem Ende des Ersten Weltkriegs – steigende Arbeitslosigkeit, Inflation – sowie an einer politisch turbulenten Gesamtsituation liegen. Die gesellschaftliche ‚Nachfrage‘ nach dadaistisch simulierten ‚Revolutionen‘ und nach der Anarchie des Nonsens als Parallelaktion zur realen Krisensituation war nicht allzu hoch, wohl aber die Nachfrage nach ‚Kunst‘ – und deshalb hat Schwitters im Kunst- und Literaturbetrieb einer zusehends post-dadaistischen Moderne nachhaltig Erfolg.

Kurt Schwitters

Biographische Daten erspare ich uns hier weitgehend, Sie können sie u.a. in einem ausführlichen Wikipedia-Artikel und v.a. auf den Seiten der Kurt und Ernst Schwitters Stiftung (Hannover) nachlesen (schwitters-stiftung).

Hier nur noch so viel:
Kurt Schwitters (Hannover 1887 – Kendal/England 1948) beginnt als expressionistischer Maler und Autor (im Stile von August Stramm), arbeitet später als Werbegrafiker (u.a. für die Firma Pelikan) und lebt nach dem Tode des Vaters 1931 von den Mieteinnahmen aus fünf Häusern in Hannover, die seine Eltern nach dem Verkauf ihres Damenkonfektionsgeschäfts erwerben. 1919 stellt er in Herwarth Waldens Berliner Galerie sein erstes ‚MERZ-Bild‘ aus. Von politischen Radikalisierungstendenzen des Dadaismus distanziert er sich frühzeitig. Eine Teilnahme an der Ersten Internationalen Dada-Messe (Berlin 1920) wird ihm verwehrt, mit Arp, Hausmann, Höch und Tzara arbeitet er trotzdem zusammen. Als ‚entarteter‘ Künstler emigriert er 1937 aus dem nationalsozialistischen Deutschland nach Norwegen, 1940 nach England.

An Anna Blume 

1919 erscheint in Kurt Schwitters: Anna Blume. Dichtungen. Hannover: Steegemann (= Die Silbergäule, Bd. 39/40) als ‚Merzgedicht 1’ das Gedicht An Anna Blume:

An Anna Blume

Farblich markiert: wörtliche Wiederholungen. Eine eingehende und vollständige Analyse würde den Rahmen sprengen, aber einige Beobachtungen seien festgehalten:

Als eine Art Dreifach-Refrain fungieren die pronominale Deklinationsserie nach „liebe [ich] Dir“: „Du deiner dich dir, ich dir, du mir. – Wir?“ und die jeweils unmittelbar folgende metasprachliche Selbstbeobachtung (logische ‚Rahmung‘) durch die kommentierende Stimme von „Das gehört (beiläufig) nicht hierher“ über: „Das gehört (beiläufig) in die kalte Glut“ zu: „Das gehört (beiläufig) in die Glutenkiste“. Die Liebeserklärung an Anna wird zwar unterbrochen, aber nicht relativiert: Am Ende hat „ich liebe dir!“ das letzte Wort und wird weder von einer Deklinationsserie mit final reimender ‚wir?‘-Frage, noch von der marginalen und marginalisierenden Zeile gefolgt‚ ‚das gehöre (beiläufig) nicht hierher‘, sondern in die ‚kalte Glut‘ oder in die ‚Glutenkiste‘. Am Ende dominiert vielmehr der lautliche und semantische Rückbezug des ‚dir‘ auf Anna als „tropfes Tier“, dessen Namens-Palindrom ‚a n n a‘ „wie weiches Rindertalg [tropft]“.

Auf welche vorausgehenden oder nachfolgenden Bedeutungen sich die deiktische Aussage, „das gehört (beiläufig) …“ jeweils bezieht, bleibt offen. Naheliegend erscheint mir jedoch ein resümierender Rückbezug auf das je vorausgehende Deklinationssyntagma, das Sprache spielerisch ausstellt und thematisiert und das nicht ‚hierher‘, also in den Kontext einer Liebeserklärung gehört, lässt solche verbale Selbstreferenz doch die inhaltliche Referenz (Fremdreferenz) auf die geliebte Adressatin Anna ‚erkalten‘ – die Liebesglut ist kalt geworden oder gehört sogar in die ‚Glutenkiste‘ eines metaphorischen Ofens, dessen Feuer erlischt. Dies würde durch die gesteigerte Selbstbezüglichkeit des Satzes „Das gehört (beiläufig) nicht […]“ gestützt, der das, wovon er spricht, selbst vollzieht, marginalisiert er doch nicht nur etwas, was inhaltlich nicht hierher bzw. sogar beseitigt gehört, sondern auch sich selbst als ‚beiläufig‘ und setzt genau dieses Wort auch noch in Parenthese, was die ‚Beiläufigkeit‘ einerseits unterstreicht, andererseits seine Bedeutung aber auch abschwächt, Beiläufigkeit also gerade minimiert.

„Das gehört (beiläufig) nicht hierher“ gehört also einerseits genau ‚hierher‘, nämlich in die Sprechsituation von Schwitters‘ Anna Blume selbst als Meta-Sprache, andererseits aber nicht in die besprochene Situation, die genau dadurch, nämlich durch den dreimaligen Versuch, das ‚Nicht-hierher-gehörende‘ zu marginalisieren (aber nur ‚beiläufig‘!), dreimal unterbrochen wird. Der wiederholte Versuch, Sprache („Du deiner dich dir, ich dir, du mir“) und Bedeutung, also die thematisierte Situation zwischen ‚Ich‘ und ‚Du‘, zur Deckung zu bringen und die unaufhebbare Differenz von Zeichen und Bezeichnetem auszublenden (‚gehört nicht hierher‘), muss umso mehr scheitern, je expliziter und je öfter er unternommen wird.
„Kunst ist die Nachahmung der Natur. Je intensiver die Nachahmung ahmt, desto größer ist die Kunst“, postuliert Schwitters am Anfang seiner Programmschrift Was Kunst ist; eine Regel für große Kritiker (1920).

Erinnern wir uns also noch einmal an Arno Holz‘ ‚naturalistische‘ Formel ‚Kunst = Natur – x‘: Das ‚x‘ der künstlerischen Mittel reduziert die Identität von ‚Kunst‘ und Natur‘, hemmt die Annäherung von ‚Kunst‘ und ‚Natur‘ (‚Leben‘, ‚Wirklichkeit‘: das worauf Sprache referiert) – das Grunddilemma der Avantgarden. Und x wird umso größer, hinderlicher, je mehr versucht wird, es ‚realistisch‘ oder ‚naturalistisch‘ zu minimieren – „Je intensiver die Nachahmung ahmt, desto größer ist die Kunst“! Genau dies thematisiert auch das Merzgedicht Anna Blume, ohne deshalb in kurzschlüssig leere Selbstreferenz zu verfallen – wie Christian Morgensterns ‚ästhetisches Wiesel‘, in dem die referierbare ‚Welt‘ von ihrer sprachlichen (lautlichen) Form determiniert wird, Zeichen und Bezeichnetes also ununterscheidbar verschmelzen.
Die im inkorrekten Kasus beschworene und sich ‚lyrisch‘ reimende Frage nach der Liebesgemeinschaft des ‚wir‘ erweist sich überdies nicht nur als grammatisch ‚falsch‘ – „ich liebe dir! – […], ich dir, du mir. – Wir?“ anstatt ‚ich liebe dich […], ich dich, du mich. – Wir [uns]?‘. Ihre in beiden Fällen konventionelle Reim-Struktur, die ‚Ich‘ und ‚Du’ phonologisch als ‚mir‘ und ‚dir‘ äquivalent setzt, erinnert einmal mehr an das von Morgenstern beschworene „ästhetische Wiesel“, das nur aus Reimgründen auf dem Kiesel sitzt, so dass die lautlichen Gegebenheiten des sprachlichen Mediums die von ihm thematisierte ‚Wirklichkeit‘ hervorbringen – was konventionelle, ‚lyrisch‘ gereimte Liebesgedichte aus der Perspektive von Anna Blume zu sprachlichen Selbstläufern ohne fremdreferentiellen kommunikativen Außenbezug verkommen ließe.

Auch das, was die unwissenden „Leute sagen“, bleibt an zwei Textstellen unbestimmt und wird explizit marginalisiert.
Dennoch bleibt der liebenden Sprechinstanz offenkundig nichts anderes übrig, als genau dies – also konventionelle Reime (Binnenreime und Assonanzen) – an drei Stellen zusammen mit dem grammatische Erwartungen brechenden Dativ zu wiederholen, und es zugleich dreimal als ‚fehl am Platze‘ einzustufen und auch diese Aussage selbst wieder zu marginalisieren, die ihrerseits die Hochstil-Liebesmetapher ‚Glut‘ zur profan alltäglichen ‚Glutenkiste‘ herabstimmt.

Die sprachlich-‚lyrische‘ Selbstbezüglichkeit ist – so könnte gefolgert werden – nur mit ihren eigenen Mitteln zu durchbrechen, also als ‚deplazierte‘ zu marginalisieren. Poetische Bildbereiche wie ‚Blume‘ und ‚Vogel‘ und Farbqualitäten wie ‚blau‘, ‚gelb‘, ‚grün‘ und ‚rot‘ werden außerdem von ihren semantischen Merkmalen entkoppelt, de-semantisiert: „ blau ist die Farbe des gelben Haares“.

Auch die illusionszerstörende „Preisfrage“:

„1. Anna Blume hat ein Vogel.

2. Anna Blume ist rot.

3. Welche Farbe hat der Vogel?“

stellt als vermeintlich absurde Scherzfrage die Frage nach der Prädizierbarkeit von qualitativen Attributen oder Bedeutungsmerkmalen, die auch metaphorische Bedeutungszuweisungen – Übertragungen (‚meta-pher‘ bedeutet ‚Übertragung‘) – betrifft, also letztlich auch die Frage nach der Identität von Personen, von ‚Haben‘ und ‚Sein‘: Wenn Anna ‚ein‘ Vogel oder ‚ein Vogel‘ Anna ‚hat‘ und Anna ‚rot‘ ist, färbt dann diese Eigenschaft Annas auf den Vogel ab (und umgekehrt)?

Und vor diesem Hintergrund und mit Blick auf den Schluss des Gedichts, wo das ‚Ich‘ Merkmale des ‚getropften‘ Namens von Anna, also Qualitäten eines semiotischen und zugleich ‚tropfenden‘, streichelnden‘ Attributes der Person, ihr selbst zugeschreibt („du tropfes Tier“), stellt sich die Frage, wen oder ‚was‘ die Ich-Instanz eigentlich anspricht und ‚liebt‘. Liebt sie ein mit dem Namen ‚Anna Blume‘ bezeichnetes ‚Du‘ oder vielmehr nur das Palindrom des Vornamens „a-n-n-a“, der in beiden Leserichtungen „von hinten […] wie von vorne“ seine lautliche Gestalt nicht verändert?

Oder wird das ‚Du‘ gerade wegen seines Vornamens geliebt, dessen einzelne Buchstaben bzw. Phoneme wie mit Rindertalg ‚weich‘ geträufelt werden und ein animalisches Vergleichsmerkmal dieses ungewöhnlichen Schrift-Mediums auf die Namensträgerin selbst übertragen („tropfes Tier“) – also auf Anna, die ‚Blume‘ heißt, einen „grünen Vogel“ hat und zuvor vom ‚Ich‘ als „liebes grünes Tier“ bezeichnet wird?

Um noch einmal Schwitters‘ Manifest Konsequente Dichtung (1924) zu zitieren: „Nicht das Wort ist ursprünglich Material der Dichtung, sondern der Buchstabe. Wort ist: 1. Komposition von Buchstaben 2. Klang 3. Bezeichnung (Bedeutung) und 4. Träger von Ideenassoziationen“. Das ‚Ich‘ entdeckt – was auch die spätere Kleinschreibung ‚a-n-n-a‘ verdeutlicht – in einem verbreiteten Vornamen Palindrom-Qualitäten, über die es die Namensträgerin informiert („weißt du es schon?“), die wiederum metonymisch mit ihrem Namen gleichgesetzt wird, nachdem sie es ‚weiß‘: „Man kann dich auch von hinten lesen“.

Ein alles andere als kunstvoller Name wird so zum ‚Kunst‘-Objekt, das sich in seiner Buchstaben-Binnenstruktur achsensymmetrisch (an│na) spiegelt. ‚a-n-n-a‘ bleibt ‚a-n-n-a‘ und zwar unabhängig von der gewählten Leserichtung, was auch der Buchdeckel (s.o.) sichtbar macht. Die syntaktischen Chiasmus-Figuren des Textes wären in diesem Zusammenhang zu interpretieren („du bist │bist du“; mit grammatikalischer Korrektur: „ wanderst auf die Hände │auf den Händen wanderst du“). Die Wahl des Namens selbst mag neben seiner Palindrom-Eigenschaft übrigens auch seiner Etymologie geschuldet sein, bedeutet ‚Anna‘ (‚Hannah‘) hebräisch doch ‚Gnade‘ und ‚Huld‘.

Die Interpretation kann hier nicht weitergehend vertieft werden, festzuhalten ist aber immerhin das folgende: Das Verhältnis von ‚Sprache‘ und ‚Welt/Realität‘ wird textintern problematisiert, ohne dass die labile Balance aus beiden entweder in bloß sprachliche Selbstbezüglichkeit (‚Welt‘-Verlust des Sprachspiels) oder in unreflektierte Fremdreferenz (‚Sprach‘-Vergessenheit der mimetischen Illusion von ‚Welt‘) abgleitet.
Auch die metaphorische Materialität des Mediums selbst (‚Schreiben‘ als ein ‚Träufeln‘), in dem der Name ‚Anna‘ „tropft wie weiches Rindertalg“, ist ein ‚schöner‘ und kunst-würdiger Redegegenstand; auch Namen sind ‚Wirklichkeit‘, könnte uns das Merzgedicht Anna Blume vor Augen führen. Und gerade darin manifestiert sich der spezifische und kunstvolle Umgang des Merz-Künstlers Schwitters mit den schon mehrfach umkreisten Paradoxien und Aporien avantgardistischer Kunst-Anstrengungen zwischen ‚Kunst‘ und ‚Nicht-Kunst‘ (‚Wirklichkeit‘), zwischen Selbst- und Fremdreferenz.

Auch aus ‚Anna Blume‘ versucht Schwitters übrigens ein verwertbares, [kom-]merzialisierbares Schlagwort, ein anschlussfähiges, poetisches Markenzeichen zu machen, dessen Bedeutung je nach Kontext wechselt (z.B. in Das große Dadagluten [Eine Leichenfeier], 1920, oder in Wählt Anna Blume [„Agitation für die Reichstagswahl 1920“ der „M.P.D. = Merz-Partei Deutschland“], 1920). Und auch dieser Verwertungszusammenhang selbst wird wiederum innerliterarisch reflektiert und für Sprachkunstproduktion genutzt (Nennen Sie es Ausschlachtung [um 1919]: „Anna Blume bist Du“ / […] / Anna Blume schlachten heißt Dich ausschlachten“).

Ursonate 

Wenden wir uns zum Schluss einem der berühmtesten und sowohl für die Avantgarde-Musik als auch für die Lautdichtung nach dem Zweiten Weltkrieg einflussreichsten Werk von Kurt Schwitters zu, nämlich dem riesigen Lautgedicht Sonate in Ur-Lauten (Ursonate) (1922-32). Er arbeitet an ihr zwischen 1922 und 1932 und erfindet für sie ein eigenes Notationssystem. Sie wird in einer ersten Fassung um 1925 erstmals öffentlich aufgeführt (vorgetragen), 1932 im Rundfunk aufgezeichnet und gesendet und als Partitur ebenfalls 1932 gedruckt. Die CD-Aufnahmen (CD Wergo 1993), geben allerdings eine Einspielung von Schwitters Sohn Ernst wieder, was Stimmvergleiche 2006 nachgewiesen haben. Die Original-Stimme von Schwitters ist inzwischen auf einer MP3-CD (Kurt Schwitters. Urwerk. Zweitausendeins 2007) zugänglich.

Die klassische Sonate mit ihren vier Sätzen und dem ersten, dem Kopfsatz oder Sonatenhauptsatz mit Exposition der Themen, ihrer Verarbeitung in der Durchführung und ihrer Wiederaufnahme – Reprise – mit Coda, bildet das von Joseph Haydn, Wolfgang Amadeus Mozart und Ludwig van Beethoven perfektionierte und auf Symphonien übertragene Strukturmuster für Schwitters‘ ‚Sonate‘ aus Buchstaben bzw. ‚Urlauten‘. Die kulturell vorgegebene Form strukturiert das nicht-bedeutungstragende Lautmaterial und semantisiert es zugleich (denken Sie erneut an Roland Barthes‘ Modell der konnotativen, sekundären Bedeutungsaufladung) – und die ‚Urlaute‘ de-semantisieren umgekehrt (‚primitivistisch‘) die dialektische Binnenlogik der Sonaten-Form.

Zitat aus Kurt Schwitters‘ erklärungen zu meiner ursonate, die er zusammen mit deren Partitur nach zehnjähriger Arbeit 1932 in der 24. und letzten Nummer seiner Zeitschrift Merz publiziert:

die sonate besteht aus vier sätzen, einer einleitung, einem schluß, und einer kadenz im vierten satz, der erste satz ist ein rondo mit vier hauptthemen, die in diesem text der sonate besonders bezeichnet sind. es ist rhythmus in stark und schwach, laut und leise, gedrängt und weit usw. die feinen abwandlungen und kompositionen der themen will ich nicht erklären […]

[siehe Bd. IV: Die Reihe Merz 1923–1932. 2019 der de Gruyter-Gesamtausgabe von Kocher/Schulz]

Für Holger Schulze (S.107) bildet die Ursonate außerdem ein Idealbeispiel für die Schwitters-typische Mischung aus intentionaler und aleatorischer Werkgenese:

[…] die Sonate in Urlauten ist als Lautgedicht zwar aus zunächst nichtintentionalen Improvisationen und kombinatorischen Permutationen hervorgegangen. Im Lauf der Genese wurden die Kohäsionsmuster jedoch intentional durchformt und Kohärenzmuster assoziativ angeschlossen, so dass dieses Werk ein Beispiel für die Einbindung der Aleatorik in eine intentionale Werkgenese wäre.

[Holger Schulze: Das aleatorische Spiel. Erkundung und Anwendung der nichtintentionalen Werkgenese im 20. Jahrhundert. München: W. Fink 1999]

Schulzes Studie, auf die ich bereits in der letzten Themenwoche hingewiesen habe, sei nochmals nachdrücklich empfohlen, insbesondere das Kapitel zum OEuvre von Schwitters (S.95-119 und zur „Textgenese im Merz“ S.107-109).

Ausgehend von dem im September 1921 während einer Tournee mit Raoul Hausmann in Prag und in der sächsischen Schweiz gefundenen Sprachobjekt (objet trouvé) in Hausmanns Plakatgedicht (1918) und über die Zwischenstufe des Hausmann gewidmeten Lautgedichtes von 1922, variiert Schwitters dessen Buchstaben- und Lautmaterial kombinatorisch immer weiter, um es dann ab 1925 in wiederholten Aufführungen mit Blick auf lautliche Wiederholungsmuster weiter auszugestalten und planvoll zu bearbeiten.

Zwischen „Uu“ und „Fümms“ erfolgt am Ende des ersten Satzes der Ursonate die Wahl der Buchstaben bzw. Laute nach Reimkriterien: „zee tee wee bee“. Beachten Sie auch die abweichende lautliche Schreibung des Buchstaben „C“ mit „Z“. Die schriftliche Notation dient also der lautlichen Realisierung.

Am Ende beschließt ein Fragemodus den ersten Satz: „Fümmes bö wö täää ????“, in dem das Leitthema unvollständig wiederholt wird.
Dass Hausmann der Ursonate, die ihm sein „Fmsbwtözäu‘/ ‚F[ü]msbewetäzäu‘ entwendet hat, von Anfang an ablehnend gegenübersteht und ihr die ‚klassische‘ Form vorwirft, ist verständlich. Hans Arp dagegen zeigt sich fasziniert (zitiert aus Döhl 1993, s.u.):

In der Krone einer alten Kiefer am Strande von Wyck auf Föhr hörte ich Schwitters jeden Morgen seine Lautsonate üben. Er zischte, sauste, zirpte, flötete, gurrte, buchstabierte. Es gelangen ihm übermenschliche, verführerische, sirenenhafte Klänge, aus denen eine Theorie entwickelt werden könnte ähnlich derjenigen der Dodekaphoniker [= Komponisten der Zwölftonmusik, CMO].

Und der bereits zitierte Hans Richter berichtet über seine Erinnerungen an den „ersten öffentlichen Vortrag der ‚Ur-Sonate‘ bei Frau Kiepenheuer in Potsdam ungefähr 1925“ (S.144):

Eingeladen waren die ‚besseren‘ Leute, und […] eine Menge pensionierter Generäle und andere ‚Hochgestellte‘. Schwitters stand mit seinen zwei Metern aufrecht auf dem Podium und begann die Ur-Sonate mit Zischen, Brüllen und Krähen vor einem Publikum, das in allem Modernen völlig unerfahren war. Zuerst war es völlig konsterniert. Nach zwei Minuten aber verlor sich der Schock. Für eine weitere halbe Minute hielt der Respekt vor Frau Kiepenheuers wohlanständigem Haus noch irgendwelche Proteste in Bann. Aber diese Zurückhaltung akkumulierte nur die innere Spannung. Ich sah mit Entzücken, wie zwei Generäle vor mir die Lippen mit äußerster Gewalt zusammenpressten, um nicht zu lachen, wie ihre Gesichter über dem hohen Stehkragen erst rot, dann leicht blau wurden. Und dann geschah plötzlich das, wofür sie nicht mehr verantwortlich waren: – sie platzten vor Lachen, und das ganze Publikum, befreit von dem Druck, der sich in ihm angesammelt hatte, explodierte in einer Orgie des Gelächters. Die vornehmen alten Damen, die steifen Generäle, schrien, nach Luft schnappend, vor Lachen, schlugen sich auf die Schenkel, husteten.
Das alles störte Kurtchen keineswegs. […]. So schnell wie der Orkan entstanden war, verging er wieder. Schwitters sprach seine Ur-Sonate ungestört zu Ende. Das Resultat war fantastisch. Dieselben Generäle, dieselben reichen Damen, die vorher Tränen gelacht hatten, kamen nun zu Schwitters, wieder mit Tränen in den Augen, um ihm ihre Bewunderung auszudrücken, ihre Dankbarkeit, beinahe stotternd vor Begeisterung. Etwas war in ihnen geöffnet worden, etwas, das sie niemals erwartet hatten: – eine große Freude.

[Hans Richter: DADA Kunst und Antikunst. Mit einem Nachwort von Werner Haftmann. Köln: DuMont Schauberg 1964, 4. Auflage 1978, S.144-145]

Es mag wie eine nachträgliche Verklärung anmuten, der Literatur- und Medienwissenschaftler Reinhard Döhl (1934-2004) – selbst Autor der ‚Konkreten Poesie‘ – berichtet aber das folgende:

Der kanadische Theaterwissenschaftler und Vortragskünstler A. J. Peter Froehlich, der nach dem 2. Weltkrieg selbst Erfahrungen mit dem Vortrag des Schwitterschen Textes sammeln konnte, hat den Bericht Richters über die Reaktionen des Publikums als schlüssig analysiert und dabei 6 typische Reaktionsschritte bzw. -phasen unterschieden:

1. Verwirrung

2. Selbstkontrolle

3. Wachsende Spannung

4. Kontroll-Verlust

5. Stille

6. Emotioneller Respons.

[Reinhard Döhl: Kurt Schwitters’ ‚Ursonate‘. Text als Partitur (3) [WDR 1993]; Copyright (c) by Reinhard Döhl (http://www.reinhard-doehl.de)].

Sie können Ihre eigenen Reaktionen damit vergleichen, aber der Hörsaal (im wahrsten Sinne des Wortes) wäre geeigneter für solche Wirkungsexperimente. Da Sie aber im Kontext einer Avantgarde-Vorlesung vorgewarnt sind, werden sich zumindest ‚Verwirrung‘ und ‚Kontroll-Verlust‘ in Grenzen halten.

Die Einleitung und den ersten Teil der Partitur (in einer spanischen Ausgabe) zitiere ich im Folgenden:

Am Ende des Finales im vierten und letzte Satz (s.u.) wird das Alphabet rückwärts durchlaufen – zweimal bis zum B („beee“), ohne A, dann einmal vollständig bis zum Anfang A („Aaaaa“), und dann noch einmal bis zum „beeee“ als offene Frage (Nebentexte: „höchst gefühlvoll, emotional“).
Inversion (musikalisch: Noten rückwärts gespielt, im Krebsgang) und Ellipse (das A fehlt) signalisieren den variierenden Umgang mit einem vom Alphabet beschränkten Spielmaterial – Buchstaben statt Noten (Nebentext letzte Zeile: „afligido“ = ‚traurig, besorgt, furchtsam, betrübt‘).