Dadaismus III: Systematik

Professor Dr. Claus-Michael Ort
Vorlesung: Literatur der Avantgarden (Wintersemester 2020/21)

Hausmann / Höch / Schwitters /  Readymade (Duchamp)

Verfahrensweisen der Dadaisten

Werfen wir noch einmal einen systematisierenden Blick auf die beim letzten Mal angesprochenen, von den Dadaisten selbst favorisierten Verfahrensweisen, die der Futurismus und der Züricher Dadaismus und gleichzeitig auch die New Yorker Avantgarde (Marcel Duchamp) bereitstellen und die sich bis heute als produktiv erweisen:

  • Nonsens‘ (syntaktische und semantische ,Befreiung der Wörter‘)
  • Lautgedichte (Bruitismus als phonologische ‚Befreiung‘ aus dem Kontext, dem Erwartungshorizont unseres Sprachsystems: Hugo Ball)
  • simultanistische, also synästhetische mehrstimmige Texte (Tzara, Huelsenbeck, Janco), deren Komponenten sich im performativen Zusammenwirken selbst de-semantisieren.

Alle drei Fälle führen zu Provokation und Überraschung, also zu kontextabhängigen Erwartungs- und Kommunikationsunterbrechungen auf der Seite der Rezeption. In einem Teil der Fälle kommen auf der Seite der Produktion aleatorische Verfahren der Werkgenese zur Anwendung, die den ‚Zufall‘ kreativ zu nutzen versuchen und in der Mehrheit der Fälle eine Balance aus bewusster, intentionaler und nicht intendierter, unbewusster Produktion anstreben und dabei Bedeutungsverlust mit der Produktion neuer Bedeutungen verbinden. Ich werde mich im Folgenden übrigens immer wieder locker auf die profunde Studie von Holger Schulze zur „nichtintentionalen Werkgenese im 20. Jahrhundert“ beziehen, deren Lektüre ich Ihnen nur empfehlen kann. [Holger Schulze: Das aleatorische Spiel. Erkundung und Anwendung der nichtintentionalen Werkgenese im 20. Jahrhundert. München: W. Fink 1999]

Wie bereits ausgeführt, beruhen die werkgenetisch intentional oder aleatorisch – zufällig – hervorgebrachten Strukturtypen, die in Huelsenbecks Berliner ‚Dadaistischem Manifest‘ von 1918, aus dem ich zuletzt zitiert hatte, als ‚bruitistisch‘, ‚simultanistisch‘ und ‚statisch‘ bezeichnet werden (‚statisch‘: man könnte auch isolierend, ‚die Zeichen aus ihrem Kontext lösend‘ sagen), auf einem gemeinsamen Prinzip, das sich auf allen Ebenen beobachten lässt: De-Semantisierung als De-Kontextualisierung, Neu-Semantisierung durch eine werkinterne, manchmal auch externe Neu-Kontextualisierung.

Provozierende Kommunikationsunterbrechungen als je kontextabhängig enttäuschte sprachliche oder soziale Erwartungen bringen einen Sinn- und Bedeutungsverlust hervor, der jedoch in Sinnzuwachs und Bedeutungsgewinn zweiten Grades umschlägt. Die Inkohärenzen, die Unterbrechungen von Zusammenhang und die Stiftung neuer Zusammenhänge – De-Kontextualisierung und Neu-Kontextualisierung – produzieren einen primären Bedeutungsverlust der Werke – deren De-Semantisierung – und befördern zugleich ihren sekundären Sinnzuwachs – ihre Neu-Semantisierung. Diese kann durch eigens geschaffene poetologische oder werkpolitische ‚Kontexte‘ (‚Manifeste‘) garantiert werden, in denen die ‚Werke‘ interpretiert werden, aber auch allein werkintern erfolgen.

Die Kontexte, innerhalb derer bekannte Sinnzusammenhänge, erwartbare Kohärenzen zerstört und neue gestiftet werden, sind auf allen medialen Ebenen angesiedelt – von der sprachlichen Mikroebene bis zur sozialen Makroebene: Einzelbeispiele haben wir bereits kennengelernt.

1) Auf der phonologischen und graphemischen Ebene (phonologisch/graphemisch):
Das weitgehend bedeutungsfreie, reine Lautgedicht an der Grenze zur Musik und / oder bildenden Kunst (‚optophonetisch‘: Plakatgedichte; Typografie: der Buchstabe) bricht sprachsystembezogene Erwartungen – und zwar durch ein vollständig eigenes, künstlich geschaffenes, je textspezifisches Laut- und Buchstabenarrangement, das – außer auf die Buchstabenzeichen für Konsonanten und Vokale – nicht mehr auf kulturell-sprachlich vorgegebene Versatzstücke (bedeutungsunterscheidende Phoneme als gleichsam sprachliche ‚Readymades‘) zurückgreift, sondern Natur- und ‚Ur‘-Laute künstlich vertextet – wir kommen in der nächsten Themenwoche noch auf Kurt Schwitters‘ Ursonate, 1922/1932) zurück.

Kroklokwafzi? Semememi! Seiokrontro – prafriplo (Christian Morgenstern)

Kp’ erioum / fmsbwtözäu (Raoul Hausmann)

Kurt Schwitters weist in seinem Aufsatz Konsequente Dichtung von 1924 übrigens auch auf die minimalistische Variante hin: Sie sehen auch hierfür ein Beispiel, Schwitters‘ i-Gedicht (1922), dessen sprachlich konventionelle Variante („Lies: …“) der typografischen Gestalt des Buchstaben folgt und damit dessen Produktion in einer Art Schreib-Anweisung beschreibt. Schwitters formuliert in Konsequente Dichtung (1924) ferner:

Nicht das Wort ist ursprünglich Material der Dichtung, sondern der Buchstabe.
Wort ist:

1. Komposition von Buchstaben
2. Klang
3. Bezeichnung (Bedeutung)
4. Träger von Ideenassoziationen

Kunst ist undeutbar, unendlich; Material muß bei konsequenter Gestaltung eindeutig sein. [….] Die konsequente Dichtung ist aus Buchstaben gebaut. Buchstaben haben keinen Begriff. Buchstaben haben an sich keinen Klang, sie geben nur Möglichkeiten zum Klanglichen, die gewertet werden durch den Vortragenden. Das konsequente Gedicht wertet Buchstaben und Buchstabengruppen gegen einander.

2) morphologisch-lexikalisch:
Phoneme werden dabei derart in den lautlichen Kontext einpasst, dass konnotative Bedeutungsinseln heraufbeschworen werden, die sich wiedererkennbaren Morphemen, z.T. Lexemen verdanken, deren Reichweite aber durch bedeutungsfreie Lautfolgen begrenzt, deren Kohärenz – Zusammenhang – immer wieder unterbrochen wird:

elifantolim brussala bulomen brussala bulomen tromtata (Hugo Ball)

3) syntaktisch:
Abweichungen von korrekter Syntax, Zerstörung eines kohärenten Satzbaus:
“pompös dass rezitieren das evangelium gattung verdunkelt sich / gruppe die apotheose sich vorstellen sagt er fatalität macht der farben / schnitt wölbung verdutzt” (Tristan Tzara 1920/21). Das Zitat aus dem aleatorischen ‚Beispiel’ zu Um ein dadaistisches Gedicht zu machen (aus dem Manifest über die schwache Liebe und die bittere Liebe, Paris 1920) kennen wir schon vom vorherigen Themenabschnitt).

4) semantisch:
Zerstörung, Unterbrechung semantischer Kohärenz:

lachende tiere schäumen aus eisernen kannen die wolkenwalzen drängen die tiere aus ihren kernen und steinen nackt stehen hufe auf steinalten steinen mäuschenstill bei zweigen und gräten geweihe spießen schneekugeln auf stühlen
(Hans Arp: Die Wolkenpumpe, 1916)

Auf den Telegraphenstangen sitzen die Kühe und spielen Schach (Richard Huelsenbeck)

5) Statische oder dynamische Simultaneität in Bild, Text und Performanz:
Collage / Montage / Assemblage / Abfolge (Performanz) aus sprachlichen und nicht-sprachlichen (ikonischen usf.) Zeichen oder Objekten (objets trouvés) oder Aktionen: potenzierte Kontext- und Kohärenzunterbrechungen – als Partitur oder Bild oder auch im performativen mehrstimmigen Nacheinander.

Beispiele:

Johannes Theodor Baargeld (1892-1927): Typische Vertikalklitterung als Darstellung des Dada, Collage 1920 [Bankierssohn, kooperiert mit dem Surrealisten Max Ernst in Köln]. Siehe auch: Man Ray (1890-1976): Object to be destroyed (externer Link), 1923 [amerikanischer Fotograph, Filmautor, Maler, Objektkünstler, der neben Duchamp die amerikanische Avantgarde parallel zur europäischen wesentlich prägt]

„Dada will die Benutzung des neuen Materials in der Malerei“, konstatiert Huelsenbeck im Dadaistischen Manifest (Berlin 1918).

Es folgen einige weitere Beispiele, die Sie zugleich an bekannte Vertreter des deutschen Dadaismus erinnern sollen, von denen Kurt Schwitters und Raoul Hausmann uns nachher noch beschäftigen werden – auch John Heartfield (Herzfelde) und George Grosz wären zu nennen.

(externer Link) Raoul Hausmann: Selbstporträt des Dadasophen, 1920, Photomontage, Collage

(externer Link) Raoul Hausmann: Mechanischer Kopf (L‘ esprit de notre temps), 1919

(externer Link) Raoul Hausmann: ABCD, 1923/24, Photomontage, Collage

ABCD: Fotographien, Eintrittskarten, Kalenderblätter, Typographisches – und Dada-Relikte selbst, die damit historisiert und demselben Prozess unterworfen werden, den Dada der traditionellen Kunst und Alltagsobjekten ‚zumutet‘ – Verfremdung, Relativierung, Neu-Semantisierung, Distanzierung von Dada und zugleich Werbung für Dada – und das ‚ABCD‘, die Schriftzeichen im Mund verweisen als stumme Ikonen zugleich auf ihre lautliche Bedeutung und mündliche Realisation.

In der Collage sehen Sie außerdem in der Mitte Teile eines Werbeflugblattes zur Merz-Matinee von Kurt Schwitters im Dezember 1923, für die Raoul Hausmann einen Vortrag über Die Gesetze der Laute als Seelenmargarine ankündigt – Lautgedicht gegen Collage, ersteres wird ganz wörtlich vom Bild verschluckt, verschwindet in ihm.

Die Collagen von Hausmann und Kurt Schwitters führen nicht nur vor Augen, wie stark Dada von einer Poetik der kommerziellen Reklame geprägt ist – erinnern Sie sich an die ‚Anzeige‘ von Hausmann: Was ist Dada? 1919 –, sondern auch, dass die Parodie kommerzieller Anzeigenrhetorik durch Plakatgedichte und in Collagen zugleich auch der Eigenwerbung dient. Aus der Nicht-Kunst des alltäglichen Lebens wird Kunst – und die Parodie von Reklame und Kommerz wird bei Hausmann und Schwitters immer auch zur Selbstpropaganda der Dadaisten.

Mit den Worten des Kunsthistorikers Uwe M. Schneede (Die Geschichte der Kunst im 20. Jahrhundert. München: Beck ²2010):  “Die applizierten Gegenstände am Kopf – Uhrwerk, Lineal, Stempelwalze, Metermass, Geldbörse – machen den hölzernen Perückenkopf zu einem Bildnis des als geistlos verachteten Bürgertums.”

Hannah Höch

Prägend für den Berliner Dadaismus wurden darüber hinaus die Werke der Malerin Hannah Höch (1889-1978), die als große Collage-Künstlerin in die Kunstgeschichte eingegangen ist und zu den Protagonisten des Berliner Dadaismus zählt.

Links zu den externen Collagen:

(externer Link) Hannah Höch: Schnitt mit dem Küchenmesser Dada durch die letzte Weimarer Bierbauch-Kulturepoche Deutschlands, Collage 1919

(externer Link) Hannah Höch: Poesie 1922, „Die Jungfrau pumpt feierlich Träume / Tandaradei / Nacht verstopft / dunkel ist das Weltgewissen / balzt trott“

Unschätzbare Quellenkenntnisse über den Berliner Dadaismus sind übrigens der Sammlerin Hannah Höch zu verdanken, die jede Hinterlassenschaft ihrer Freunde Kurt Schwitters, Raoul Hausmann und Hans Arp aufbewahrt hat. Ich zitiere Katrin Bettina Müller 2001 (tagesspiegel, 26.3.2001: Dadaismus: Kurtchen im Kabinett):

Schwitters war berüchtigt, selbst aus dem Dreck der Straße jeden Fetzen, der möglicherweise in eine Collage Eingang finden könnte, aufzulesen und in die gleiche Tasche zu stopfen, aus der er den anderen Bonbons anbot – so schildert ihn jedenfalls Raoul Hausmann in einer Episode seines 1926 auf Ibiza begonnenen biographischen Romans Hyle. Ein Traumsein in Spanien (1969/2007). Hannah Höch hob nicht nur Postkarten, Werbezettel, Programme und Einladungskarten auf, die ihr Schwitters schickte, sondern wachte auch über die Vorräte an Fundstücken, die er in ihrer Wohnung in den Hohlräumen der Dachschräge angelegt hatte.
In der Zeit der nationalsozialistischen Kunstsäuberung riskierte Hannah Höch viel, als sie die dadaistische Verzettelung in Kisten verpackt im Garten ihres kleinen Hauses vergrub. Zusammengefaltet überlebte so die Collage einer Freundschaft.

Kurt Schwitters

Kurt Schwitters aus Hannover (1887-1948) kann schließlich als einer der vielseitigsten, konsequentesten und bis heute folgenreichen Avantgarde-Künstlern gelten, der sich bald vom Berliner Dadaismus absetzt und mit ‚Merz‘-Kunst eine eigenständige Position in der europäischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts einnimmt – man könnte (und müsste) ihm zweifellos mehrere Themenwochen widmen, verdanken ihm doch nicht nur die Literatur, sondern auch Musik und bildende Kunst wesentliche Anstöße bis heute – insbesondere auch im Bereich der Collage und Assemblage, womit dreidimensionale Relief-Collagen mit plastischen Objekten auf einer Grundplatte bezeichnet werden.
Um 1912 haben bereits die Kubisten Georges Braque und Pablo Picasso erstmals papiers collés (von frz. coller, „kleben“, also Klebebilder) hergestellt und z.B. Druckbuchstaben – später auch Holz, Papier und Tapete – in Bilder eingeklebt (Braque), anstatt sie nur hinein zu malen. Bei Schwitters und Hausmann überwiegt der Aspekt einer de-kontextualisierenden, kulturellen Reste- und Abfallverwertung, aus der sich zugleich neue Sinnzusammenhänge ergeben.

(externer Link) Merzbild 31, Assemblage, 1920: Werkziffer 31 ins Bild integriert

Schwitters, der zwar mit den Züricher Dadaisten in engem Kontakt steht, von Richard Huelsenbeck wegen seines bürgerlichen Erscheinungsbildes jedoch abgelehnt und 1920 nicht zur Ersten Internationalen Dada-Messe in Berlin im Jahre 1920 zugelassen wird, nabelt sich daraufhin von Teilen des Berliner Dadaismus ab, der 1920, also nach nur zwei Jahren, mit der erwähnten Kunstmesse sowieso schon vor seiner Auflösung steht. Schwitters sucht sich nun (Zitat Schwitters) einen „absolut individuellen Hut, der nur auf einen einzigen Kopf paßte“ – und den findet er unter dem Label ‚MERZ‘.

Auch hier existiert ein aleatorisch mystifizierender Gründungs- oder besser: ‚Findungs‘-Mythos, der aber an der Semantik von ‚Merz‘ nichts ändert: Der Zufall wollte es demnach, dass Schwitters im Jahre 1919 bei der Herstellung einer Collage die dabei verwendete Anzeige mit dem Wort „Kommerz“ – nach anderer Deutung handelte es sich um das Wort. „Commerzbank“ – so zerschnitt, dass nur die Silbe ‚Merz‘ übrig blieb, was Reime wie „Scherz“, „Nerz“ und „Herz“ zu bilden und das fragmentierte Wort ‚Commerz‘ aus der Sphäre des Wirtschaftslebens durch ‚Merz‘ immer noch zu konnotieren erlaubte, also seinen ‚abgeschnittenen‘, unterbrochenen lexikalischen und semantischen Wort-Kontext ‚Merz‘ in ‚Kommerz‘ sowohl zum Verschwinden bringt als auch – wie in einer Kippfigur – gerade dadurch erst in Erinnerung ruft. Schwitters selbst steuert darüber hinaus eine weitere Geburts- oder Findungslegende von MERZ bei, die sich auf das Wort ‚ausmerzen‘ bezieht: ein „Herr ComMERZienrat Katz“ habe das Wort sinnreich erfunden.

Unzweifelhaft weil tautologisch, aber ironisch von Schwitters zur strittigen Glaubensfrage hochstilisiert, ist die Aussage von Schwitters 1923: „Sie mögen es glauben oder nicht, das Wort MERZ ist nichts als die zweite Silbe von Commerz“. Die ‚Merz‘-Kunst als personengebundenes Markenzeichen des Hannoverschen Dada-Ablegers Schwitters erweist sich jedenfalls als sehr viel langlebigere künstlerische Trade Mark, als alle Dada-Manifeste und Dada-Gruppenbildungen zusammen. Nochmals Katrin Bettina Müller 2001 (tagesspiegel, 26.3.2001: Dadaismus: Kurtchen im Kabinett):

Der Tag, an dem Schwitters eine Anzeige der Commerzbank zerschnitt, um seine Kunst fortan unter das Merz-Zeichen zu stellen, gilt als eine Geburtsstunde von Collage und Dada. Tatsächlich begann mit der anarchisch-poetischen Neuinterpretation des Werbematerials die erste intellektuelle Auseinandersetzung mit der Besetzung des öffentlichen Raums durch den Kommerz. Die Dadaisten mischten die Geräusche des Verkaufs ebenso wie die der politischen Propaganda als ein stets anwesendes Gemurmel in ihre Werke. So sehr ihre Inszenierungen einerseits den ästhetischen Kanon verwarfen und sich auf einer radikalen Subjektivität begründeten, so sensibel reagierten sie doch andererseits auf die Mentalität der Zeit. Man sieht durch Merzaktionen und Dada-Abende oft wie durch einen Zerrspiegel das attackierte Publikum.

(externer Link) Kurt Schwitters: MZ 410 irgendsowas, Collage 1922

(externer Link) Merz-Bild 1A (Der Irrenarzt), 1919

Schwitters erweist sich jedoch auch als Pionier dreidimensionaler Objekt-Montagen, die sich bei ihm zu begehbaren Raumskulpturen auswachsen:

Das Raumkunstwerk MERZ-Bau entstand aus einer Merz-Säule mit Nischen für Fundstücke (objets trouvés) und entwickelte sich in Schwitters‘ Wohnung in der Waldhausenstrasse 5A (Hannover) aufgrund der anwachsenden Zahl der objets trouvés in den Jahren 1920 bis 1936 zu einer Installation mit Grotten und Memento-Höhlen (Arp-Höhle, zwei Hannah-Höch-Höhlen, Mondrian-Höhle usf.), die von seinem Atelier aus in benachbarte Räume, in die Wohnung zwei Stockwerke darüber, auf die Veranda sowie in den darunterliegenden Kellerraum wuchert – bis zur Emigration von Schwitters nach Norwegen im Jahr 1936.

1932 wurden vom Atelierraum drei Weitwinkelaufnahmen gemacht, von den andern Räumen existieren keine Fotos. Ernst Schwitters berichtet, sein Vater habe sich in den ersten Kriegsjahren sein Fotoarchiv, darunter zahlreiche Fotos des MERZ-Baus, durch einen Kurier in einem Nachtflug nach Norwegen schicken lassen, das Flugzeug sei jedoch abgeschossen worden, und 1943 schlägt eine Bombe in der Waldhausenstrasse 7A ein und zerstört den MERZ-Bau.

Kurt Schwitters 1946:

ich war thrilled, das ist hochbegeistert, dass es möglich ist, dass unter den Trümmern noch ein Teil des Merzbaus verschüttet sein könnte.

…Wenn die Leute aufräumen, sollen sie unbedingt mit den beiden Räumen (!?!) warten, bis ich komme.
Und es lohnt sich wirklich, da es mein Lebenswerk war ….

Und um nochmals den Sohn zu Wort kommen zu lassen (Norwegen 1970):

So verschwand fast das gesamte plastische Werk von Kurt Schwitters. Es machte wohl die Hälfte seines Lebenswerkes aus, und er hat ihm mehr Zeit, Arbeit und Mühe gewidmet, als seinem gesamten übrigen Werk. – Geblieben sind nur die kleinen, wunderbaren Farb- und Formwunder seiner Merzzeichnungen, die eindrucksvollen, grösseren Merzbilder, seine humorvoll-philosophische Merzdichtung. Und eine Mythe – vom Merzbau.

Im Exil in Norwegen und England hat Schwitters erneut mit Merz-Bauten begonnen, die jedoch ebenfalls nicht vollständig erhalten geblieben sind. Eine Rekonstruktion stellt das Sprengel Museum Hannover aus; insbesondere Künstler der Pop Art der 1960er Jahre schätzen Schwitters Collagetechnik – auch in ihren dreidimensional räumlichen Erscheinungsformen. Soweit also die fünfte, multimediale Ebene der Kontextunterbrechung und Rekombination von bedeutungstragenden oder bedeutungslosen Komponenten in Collage, Montage und Assemblage. – Die fünf semiotischen Strategien seien noch einmal zusammengefasst:

1) phonologisch:
Das weitgehend bedeutungsfreie, reine Lautgedicht an der Grenze zur Musik und/oder bildenden Kunst (‚optophonetisch‘: Plakatgedichte, Typografie).

2) morphologisch-lexikalisch:
konnotative Bedeutungsinseln, die sich wiedererkennbaren Morphemen oder Lexemen verdanken; ihre Reichweite wird durch bedeutungsfreie Lautfolgen begrenzt, ihre semantische Kohärenz gebrochen.

3) syntaktisch:
Abweichungen von korrekter Syntax, Zerstörung eines kohärenten Satzbaus.

4) semantisch:
Zerstörung, Unterbrechung semantischer Kohärenz.

5) statische oder dynamische Simultaneität in Bild, Text und Performanz:
Montage / Collage / Assemblage / Abfolge (Performanz) aus sprachlichen und nicht-sprachlichen (ikonischen usf.) Zeichen oder Objekten (objets trouvés) oder Aktionen; werkintern potenzierte Kontext- und Kohärenzunterbrechungen.

All diese Varianten können einzeln oder im synästhetischen Verbund auftreten und können natürlich – abhängig vom sozialen Kontext ihrer Distribution und performance (Aufführung, Inszenierung) – Leser/innen, Betrachter/innen, Zuschauer/innen provozieren und zum Skandalon werden, also die sozial institutionalisierten Wahrnehmungsweisen ins Leere laufen lassen und vorgegebene Deutungssicherheiten sabotieren – in Literatur- und Kunstkritik, Theateraufführungen, Kunstgalerien/Vernissagen, Vorträgen. Sie können aber auch Reflexions- und Selbstbeobachtungsprozesse anstoßen. ‚Lesen‘ Sie diese Collagen, Objekt-Assemblagen und den Merz-Bau also wie mehrdimensionale, multimediale ‚Texte‘, in denen alltägliche Fundstücke, Fotographien, Karten, sprachliche Versatzstücke und anderes eine ‚geklitterte‘, eine montierte Syntax bilden, deren Bedeutung über die Semantik oder die Gebrauchsfunktion ihrer Teile hinausgeht.

Readymade, Marcel Duchamp

Es kommt jedoch noch eine sechste Variante hinzu, die endlich zur Sprache und zur Anschauung kommen muss, nämlich Readymades im Sinne der von Marcel Duchamp 1914 mit dem berühmten Flaschentrockner angestoßenen Objektkunst, die zugleich als Beginn der Konzeptkunst (concept art) gilt.

6) Das Readymade als semiotisch und sozial de-kontextualisiertes Einzelobjekt.
Stärker noch als im Falle der Aleatorik, deren Kunst-Produkte und performativen Realisierungen (als improvisierte Aktionen, szenische Aufführungen) strukturell und rezeptionsästhetisch konventionelle Erwartungshorizonte durchbrechen, wird im Fall des Readymade der Prozess der Werkgenese selbst zum Inhalt des ‚Werks‘. Nicht eine (vermeintlich) ‚zufällige‘ Selektion von ‚Text‘-Elementen (Wörtern, Formen, Aktionen) oder collagierten bzw. fragmentierten Fundstücken (objet trouvé) stiftet das ‚Werk‘, sondern ein de-kontextualisierender Auswahlakt, der einem vorgefertigten Nicht-Kunst-Objekt (Readymade) Kunstcharakter verleiht.

Damit erweitern wir zugleich die Skala von ‚Kunst‘ und ‚Nicht-Kunst‘: Diese reicht nunmehr vom künstlich simulierten, musikalischen ‚Ur‘-Naturlaut der Lautgedichte oder von Schwitters‘ Ursonate (Kunst als ‚Natur‘) bis zu ihrem Antipoden: Das massenhaft industriell vor-produzierte und im Alltag vorgefundene, materielle Einzelobjekt der Warenwelt – seine bedeutungsfreie Materialität als Gebrauchsgegenstand – wird zur ‚Kunst‘ (Nicht-Kunst als ‚Kunst‘).

Genau genommen handelt es sich bei den de-kontextualisierten, verfremdeten Gebrauchsobjekten des amerikanisch-französischen Malers und Bildhauers Marcel Duchamp (1887-1968) nicht um aleatorisch entstandenen ‚Werke‘ – da folge ich Holger Schulze (Das aleatorische Spiel. Erkundung und Anwendung der nichtintentionalen Werkgenese im 20. Jahrhundert, 1999) nicht.

Ihre industrielle Produktion ist nämlich ebenso wenig ‚zufällig‘ wie der bewusste Auswahl- und Signier-Akt des Künstlers, der sie intentional, also absichtlich aus ihrem Gebrauchskontext reißt und sie als funktionslos gewordene, ‚autonomisierte‘ Objekte in einen künstlerischen semiotischen oder pragmatischen Kontext integriert, in dem sie nur als Erwartungsbruch, als Provokation empfunden werden können.

Das Skandalon des ‚Urinoir‘ als ‚Fontäne‘ (1917) bedroht den traditionellen Kunstbegriff, scheint ihn zur Disposition zu stellen – und verdankt doch gerade ihm, und nur ihm allein, seinen negativen Kunstcharakter, der es überhaupt erst mit Bedeutung auflädt, ja fast überfrachtet, lastet doch die Reflexion über die Kriterien und die Grenzen des traditionellen Kunstbegriffs nun auf diesem primär bedeutungslosen Gebrauchsobjekt. In jedem Fall handelt es sich um einen Kontextbruch, sei es ein sozialer, ein ‚syntaktischer‘ oder ein semantischer – das Urinoir ‚bedeutet‘ (denotiert) nämlich nun nicht mehr seine Gebrauchsfunktion, sondern konnotiert etwas anderes, das sich als ‚zweckfrei‘ erweist, seine Funktion als Readymade übersteigt.

Auch diese Semantisierungen zu Kunstobjekten als Ergebnis von Auswahlakten können als konnotative Prozesse beschrieben werden – erinnern Sie sich an das semiotische Modell von Roland Barthes:

Das von Duchamp von der New Yorker Handlung für Sanitärbedarf J. L. Mott Iron Works 1917 erworbene Pissoirbecken wird von ihm pseudonym als „R.[ichard] Mutt“ signiert und unter dem Titel ‚Fountain‘ für die Jahresausstellung der Society of Independent Artists eingereicht. Die Zurückweisung durch die Jury, der er selbst angehört, ist als Kunstskandal und Medienereignis bereits Teil der pragmatischen Konnotationssphäre des heute verschollenen Kunstobjekts (Fotografie von Alfred Stieglitz, Mai 1917).

Exkurs: Pop Art

Ein halbes Jahrhundert später hat sich das Überraschungs- und Provokationspotential solcher de-kontextualisierender, ‚autonomisierender‘ Selektionsakte als Verfahren der künstlerischen Werkstiftung offenkundig stark erschöpft – zumindest im Bereich der ‚Moderne‘. So reproduziert (‚zitiert‘) die Pop Art nach dem Zweiten Weltkrieg industriell vorgefertigte Objekte und Zeichen der alltäglichen, populären Warenwelt (Logos, Markennamen, lange vor der spät-modernen Pop-Literatur) in Ölgemälden oder als Skulpturen. Damit werden zwar nicht mehr die Realobjekte de-kontextualisiert, aber deren denotierte Primär-Bedeutungen mit neuer konnotierter Sekundärbedeutung aufgeladen wird. Erinnert sei an Andy Warhols (1928-1987) (externer Link) Suppenkonservendosen und die (externer Link) Brillo-Box: Das berühmte Objekt Brillo Box (Soap Pads) [Brillo-Karton (Putzkissen)] (1964) besteht aus einer weiß grundierten Holzkiste, die mittels Siebdruckschablone mit dem blau-roten Firmen-logo „New! Brillo ®“ bedruckt ist. Die Original Brillo Box misst 43,5 x 43,5 x 35,6 cm. „Brillo Pads“ ist die Bezeichnung eines 1913 als „Brillo“ patentierten Putzschwamms aus Stahlwolle der Firma Brillo Manufacturing Company (Brooklyn).

Produktionspoetik

Festzuhalten ist, dass alle Einzel- oder Simultan-Realisierungen der ersten fünf hier vorgestellten, kontext-unterbrechenden semiotischen Strategien jeweils intentional oder aleatorisch erfolgen können. Meist – wie Holger Schulze (1999) betont – handelt es sich faktisch sowieso um eine Balance aus intentional steuernden und zufälligen (kontingenten) Gestaltungsvorgängen; literarisch und bildkünstlerisch streben insbesondere (wie schon erwähnt) Hans Arp, aber auch Kurt Schwitters eine solche Harmonie von Kunst und Nicht-Kunst ausdrücklich an.

Schulze erkennt diese beiden Aspekte übrigens schon im bereits erläuterten Titel (Stichwort: Neg-Entropie) von Hans Arps Gedichtband Die Wolkenpumpe, dessen erste Züricher Fassung von 1917 in 46 Jahren (also bis 1963) zu vier verschiedenen Fassungen mit einem jeweils unverändert bleibenden Kernabschnitt verarbeitet worden ist – und zwar intentional, versteht sich. Der Titel verbinde laut Schulze überdies den gezielten Vorgang des Ortswechsels durch ‚Pumpen‘ mit dem aleatorisch flüchtigen Objekt des Pumpens, nämlich den „Wolken“ als „ephemere, absichtslose Naturphänomene“.

Holger Schulze resümiert die Produktionspoetik der Avantgarden seit Dada wie folgt:

Nichts an einem Kunstwerk ist notwendig! Alles kann zum Material, jede Materialsammlung kann zum Artefakt gemacht werden. Eine Werkgenese verläuft weder notwendig noch vollkommen frei. Die Intention eines Werkes, sein spezifisches Profil der Kohärenzen und Kohäsionen konkretisiert sich nach und nach im hochkontingenten Prozess der Gestaltung. Konsistenz besteht nicht von vornherein, sondern wird konstruiert – und könnte auch ganz anders konstruiert werden.

Und Kurt Schwitters fordert schon 1919 für ‚Merzmalerei‘ und Merzbühne‘:

Das Wort Merz bedeutet wesentlich die Zusammenfassung aller erdenklichen Materialien für künstlerische Zwecke und technisch die prinzipiell gleiche Wertung der einzelnen Materialien. […]. Der Künstler schafft durch Wahl, Verteilung und Entformung.
Ich fordere die restlose Zusammenfassung aller künstlerischen Kräfte zur Erlangung des Gesamtkunstwerkes. […] Ich fordere die prinzipielle Gleichberechtigung aller Materialien. […]. Ich fordere die gewissenhafteste Vergewaltigung der Technik bis zur vollständigen Durchführung der verschmelzenden Verschmelzungen. (1919)

Merz ist Weltanschauung. Sein Wesen ist absolute Unbefangenheit, vollständige Unvoreingenommenheit. […]. In jedem Stadium vor der Vollendung ist das Werk für den Künstler nur Material für die nächste Stufe der Gestaltung. Nie ist ein bestimmtes Ziel erstrebt außer der Konsequenz des Gestaltens an sich. Das Material ist bestimmt, hat Gesetze, hat Vorschriften für den Künstler, das Ziel nicht. Die Konsequenz beaufsichtigt das Schaffen. Entscheidend bei Beurteilung der Qualität eines Werkes ist der Grad der erzielten Konsequenz im Schaffen. (Merz-Magazin 1924)

Während Dadaismus Gegensätze nur zeigt, gleicht Merz Gegensätze durch Wertung innerhalb des Kunstwerkes aus. Der reine Merz ist Kunst, der reine Dadaismus ist Nicht-kunst; beides mit Bewußtsein. (Banalitäten 1923)

Schwitters‘ erweiterter ‚Kunst‘-Begriff und seine Konzeption vom totalisierenden (‚Kunst‘ und ‚Nicht-Kunst‘ verschmelzenden) ‚Merz‘-Gesamtkunstwerk ähnelt erkennbar dem ‚dialektisch‘ gesteigerten späten Züricher und Berliner Dadaismus, der sich – erinnern Sie sich an den vorletzten Themenabschnitt – in frühromantisch paradoxer Potenzierung selbst zu negieren und zu immunisieren, Gegensätze karnevalistisch aufzuheben versucht (Tzara: Manifest Dada 1918, Huelsenbeck). An dieser logischen Verwandtschaft ändert auch Schwitters‘ abgrenzende Setzung, „der reine Merz“ sei ‚Kunst‘ und der „reine Dadaismus“ sei ‚Nicht-Kunst‘, nichts. Einerseits möchte Schwitters mit ‚Merz‘ Gegensätze aufheben, andererseits und paradoxerweise aber zugleich deren Oppositionsglieder ‚rein‘ halten. ‚Merz‘ versöhnt demnach zwar ‚Kunst‘ und ‚Nicht-Kunst‘, will dies aber auf der Seite einer unvermischten ‚Kunst‘ (‚Merz‘) tun – in und mittels einer ‚Kunst‘ also, die sich nicht im ‚reinen Dadaismus‘ einer leeren Logik paradoxer (Selbst-)Negation erschöpft. Und wenn, so Schwitters, „[mein] letztes Streben […] die Vereinigung von Kunst und Nicht-Kunst zum Merz-Gesamtweltbilde [ist]“ (Herkunft, Werden und Entfaltung, 1920/21), dann wird ‚Merz‘ selbst zu einer kaum weniger paradoxen und potentiell unabschließbaren‚ ‚progressiven Universalpoesie‘ wie Dada.

Dass dies eine Utopie bleiben muss, soll ‚Merz‘ weiterhin ‚Kunst‘ sein können, versteht sich von selbst – denn einmal mehr wäre eine Kunst, die ein Bild der gesamten Welt sein will und zugleich die Dinge eben dieser Welt als Bedeutungsträger nutzt, mit dieser Welt identisch – und das Ende der Kunst – der Merz-Bau als Welt, die Welt als Merz-Bau!

Wenn Richard Huelsenbeck (Schwitters: der politisierte „Hülsendadaismus“) Schwitters deshalb als herumlavierenden, zu wenig radikalen „Kaspar David Friedrich der dadaistischen Revolution“ kritisiert, trifft er mit dem Maler der Romantik zwar die richtige Bezugs-Epoche, verkennt jedoch die dialektische Radikalität von Schwitters Konzeption eines im Selbstwiderspruch unabschließbaren und selbstreflexiven Gesamtkunstwerks („mit Bewußtsein“).

‚Kunst‘ zwar radikal erweitern, ja negieren, sie aber doch zugleich noch ‚retten‘ zu wollen, scheint Schwitters‘ spezifische Form des (selbstwidersprüchlichen) Umgangs mit den Selbstwidersprüchen zu sein, denen die Avantgarden, wie wir gesehen haben, nicht entkommen. Noch einmal Schwitters 1923:

Während Dadaismus Gegensätze nur zeigt, gleicht Merz Gegensätze durch Wertung innerhalb des Kunstwerkes aus. Der reine Merz ist Kunst, der reine Dadaismus ist Nicht-kunst; beides mit Bewußtsein.

Ausgleich der Gegensätze also „innerhalb des Kunstwerkes“, und zwar „durch Wertung“ – ‚Aufwertung‘ – auch von ‚Nicht-Kunst‘ zu ‚Kunst‘! Das Dilemma der Avantgarden, auf ihre rahmenden Provokationsgaranten, also auf einen bürgerlich ‚konservativen‘ und zugleich kom-merz-iellen Kunst- und Literaturbetrieb angewiesen zu sein, bezeichnet ‚Merz‘-Kunst allerdings tatsächlich auf raffinierte Art und Weise innerhalb der Kunst selbst, bezeichnet ‚Merz‘ den ‚Kom-merz‘ doch ebenso unvollständig, wie es ihn auf der Ebene des Signifikanten aus-merzt, verstümmelt. ‚Merz‘ wird Komm-merz konnotativ nie verleugnen können und reflektiert gerade dadurch eine Paradoxie der Avantgarden bis heute – ‚Merz‘-Kunst als Reflexionssteigerung.

Hermann Korte (Die Dadaisten. Reinbek: Rowohlt 2003) (1. Aufl. 1994) charakterisiert diese implizite Poetik einer „ironischen Praxis in Permanenz“ zu recht wie folgt:

Kurt Schwitters [war] eben nicht der ‚Kaspar David Friedrich der dadaistischen Revolution‘ […], sondern derjenige unter den Dadaisten, der die wahrhaft moderne Seite der deutschen (Früh-)Romantik – das Bewusstsein von Ironie als werkkonstituierendem Prinzip – in seiner Merzkunst mit einer Konsequenz und Ausdauer fortsetzte, die über die zeitliche Grenzen des Dadaismus weit hinausführte und als Ironie-Impuls in die Geschichte der Kunst des gesamten 20. Jahrhunderts einging.

Beatrix Nobis ist dieser Traditionslinie der Avantgarde in ihrer Studie Kurt Schwitters und die romantische Ironie. Ein Beitrag zur Deutung des Merz-Kunstbegriffes 1993 exemplarisch nachgegangen – auch dieses Taschenbuch sei Ihnen empfohlen. [Beatrix Nobis: Kurt Schwitters und die romantische Ironie. Ein Beitrag zur Deutung des Merz-Kunstbegriffes. Weimar: VDG Weimar 1993]

Übrigens illustriert der von Lars Fiske getextete und gezeichnete Schwitters-Comic mit dem Titel Kurt Schwitters: Jetzt nenne ich mich selbst Merz. Herr Merz (Berlin: avant-Verlag 2013) einmal mehr diese progressiv totalisierende, durch Ironisierung nicht aufzuhebende, allenfalls fortzusetzende Tendenz von Dada und MERZ zum alternativlosen weil unabschließbaren Gesamtkunstwerk, das – zumindest aus der Sicht der Protagonisten – gerade dann, wenn es der Lächerlichkeit preisgegeben wird, seine Fortsetzung einfordert: Fiskes Comic ist Dada und Merz-Kunst, nur nicht so selbstreflexiv wie Schwitters und nicht so radikal wie Tzara und Huelsenbeck!