Professor Dr. Claus-Michael Ort
Vorlesung: Literatur der Avantgarden (Wintersemester 2020/21)

Dadaismus II: Zürich und Berlin

Hugo Ball, Tristan Tzara, Simultangedichte, optophonetische Gedichte, Aleatorik

Die Weltkriegserfahrung der Untauglichen, Traumatisierten und Kriegsdienstverweigerer unterscheidet die Dadaisten vom Vorkriegs-Futurismus: Statt der erhofften Zerstörung der alten Welt mit politischen und kriegerischen Mitteln nun die Zerstörung ‚futuristisch‘ desaströser, patriarchaler und aggressiv imperialistischer ‚Sinn‘-Postulate, die auch in die Katastrophe des Ersten Weltkrieges geführt haben. Thematisiert, abgebildet und zugleich praktiziert wird Sinnzerstörung als Bedeutungsreduktion und Kohärenzverlust.

Zitat aus dem Tagebuch von Hugo Ball, 2. 6. 1916 – das „Direkte und Primitive“ als das ‚Natürliche‘:

Was wir Dada nennen, ist ein Narrenspiel aus dem Nichts, in das alle höheren Fragen verwickelt sind; […]. Ein Spiel mit den schäbigen Überbleibseln; eine Hinrichtung der posierten Moralität und Fülle. Der Dadaist liebt das Außergewöhnliche, ja das Absurde. Er weiß. Dass sich im Widerspruche das Leben behauptet […]. […]. […]. Das Direkte und Primitive erscheint ihm inmitten enormer Unnatur als das Unglaubliche selbst.
Da der Bankrott der Ideen das Menschenbild bis in die innersten Schichten zerblättert hat, treten in pathologischer Weise die Triebe und Hintergründe hervor. Da keinerlei Kunst, Politik oder Bekenntnis diesem Dammbruch gewachsen scheinen, bleibt nur die Blague [also der Witz, Jux, Ulk] und die blutige Pose.

Laut- und ,Simultangedichte’

Die inhaltsreduzierten Lautgedichte, deren szenische Aufführung visuelle und akustische (auditive) Kanäle zum simultanen Angriff auf die Sinne nutzt, koexistieren mit mehrstimmigen Laut- und Wortgedichten (‚Simultangedichte‘). Beide Varianten radikalisieren letztlich nur auf der Ebene ihrer Signifikanten, was die Weltuntergangslyrik des Expressionismus und einzelner Dadaisten noch semantisch mehr oder weniger kohärent thematisiert, inhaltlich auszudrücken versucht – und was nun im Lautgedicht gleichsam semiotisch gereinigt, soll heißen: von dominantem Inhalten befreit, naturnah, ‚paradiesisch‘ (Hans Richter) auf das Basismaterial ‚Sprache‘, also auf Laute – ‚Urlaute‘ – und Buchstaben reduziert wird.

Vorstufe Expressionismus

Vorstufen sind Weltuntergangstexte wie etwa das bekannte Initialgedicht des Expressionismus Weltende von Jakob van Hoddis (d.i. Hans Davidsohn, 1887-1942) aus dem Jahre 1911, das als lyrische Gründungsurkunde des Expressionismus gilt:

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei,
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.

Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.

Um 1910 grassiert die apokalyptische Angst vor einem Zusammenstoß mit dem Halleyschen Kometen, und die Endzeitstimmung, die sich auch die Futuristen zunutze machen, kommt hinzu: Hier nun also die Inkohärenz einer sich auflösenden, grotesken Welt – Dachdecker gehen entzwei wie Dachziegel –, die Sintflut steigt, was aber nur als Sensationsmeldung zu ‚lesen‘ ist („liest man“), Schnupfen und Weltuntergang als ironisch kontrastierte Gefahren.

Das Ende der Welt (Richard Huelsenbeck)

Oder das Gedicht Das Ende der Welt (1918/19) des Gründungs-Dadaisten Richard Huelsenbeck:

Die Vertreter des damals populären pseudo-religiösen Freidenker-Bundes der ‚Monisten‘ (1906 vom darwinistischen Zoologen und Philosophen Ernst Haeckel gegründet) versammeln sich also auf einem Dampfer, der den Namen des berühmten preußischen Hofkomponisten und Begründer der Grand Opéra, Giacomo Meyerbeer (1791-1864), trägt und diesen zugleich alltagsweltlich zum Transportmittel der religiös überhöhten Naturwissenschaft entzaubert.
Und weiter Huelsenbeck:

„Vater Homer“ oder Lew Tolstois Roman Krieg und Frieden (1867) – die Entscheidung fällt angesichts der Allgegenwärtigkeit des Todes („Sargdeckel“) nicht für die abgewirtschaftete patriarchale Hochkultur („Vater“), sondern für einen Cocktail („Cherry-Brandy flip“). Und noch einmal werden die “Zoologieprofessoren“ genannt, noch einmal auf Goethes Gedicht An den Mond von 1777 angespielt – aber aus ‚Tal‘ wird ‚Schloß‘, aus Natur Symbole feudaler Herrschaft: „Füllest wieder Busch und Tal / Still mit Nebelglanz, / Lösest endlich auch einmal / Meine Seele ganz“. Statt ‚(Er)Lösung‘ der Seele, „blödsinnig werden“. Der Krieg zerstört auch die Sinnangebote der ‚klassischen‘ Hochkultur.

Das erste Simultangedicht

Aber es wird Zeit für das erste ‚Simultangedicht‘ nicht nur dieser Vorlesung, sondern auch der Literaturgeschichte. Erst die Vervielfachung der Medienkanäle, der Stimmen und Zeichen (Signifikanten) destruiert eingängigen ‚Sinn‘, also kohärente Bedeutungen (Signifikate) – zumindest auf den ersten Blick, der den Stimmen der Partitur gilt, und beim ersten Hören einer späteren ‚Aufführung‘ (im Internet leicht auffindbar):

L’amiral cherche une maison à louer von Tristan Tzara, Richard Huelsenbeck, der die deutschsprachige Stimme vorgetragen hat, und Marcel Janco (März 1916: „Der Admiral sucht ein zu mietendes Haus“) besteht zwar noch aus inhaltlich verständlichen Stimmen, wie die Partitur zeigt, deren simultane Rezitation ergibt jedoch das bruitistische, also lärmende und bedeutungstilgende Moment:

[Erstdruck in: Richard Huelsenbeck/Marcel Janko [sic]/Tristan Tzara: L’amiral cherche une maison à louer, in: Hugo Ball (Hg.): Cabaret Voltaire. Eine Sammlung künstlerischer und literarischer Beiträge. Zürich 1916, S. 6-7; direkt einsehbar hier: The International Dada Archive;
siehe auch: Till Dembeck: Eine Kulturpolitik des Affekts? Umgang mit Mehrsprachigkeit im Zürcher Dada – mit einem Seitenblick auf Ferdinand de Saussure, in: Marion Acker/Anne Fleig/Matthias Lüthjohann (Hg.): Affektivität und Mehrsprachigkeit. Dynamiken der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Tübingen 2019, S. 49-72].

Versatzstücke aus dem Bedeutungs- und Metaphernfundus der ‚Hochliteratur‘ (auch moderner, ‚symbolistischer‘) erscheinen gespensterhaft desemantisiert und verfremdet; aus ihnen kann kaum mehr vordergründiger oder gar narrativer ‚Sinn‘ gewonnen werden, obwohl es offenkundig schwerfällt, auf ihn vollständig zu verzichten:

‚Zerfall‘, ‚Zerschellen‘ einerseits, ‚Suchen‘ (chercher) und ‚Finden‘ andererseits – allerdings von Wasser im Kloset (also im Abtritt wertlos gewordener ‚Abfälle‘ der Kultur?); das abendliche ‚Stelldichein‘ des Admirals mündet im Brüllen des ‚Alten‘, im Grölen des ‚alten Oberpriesters‘, im ‚Bellen‘ der ‚Seekuh‘ – und im japanischen Bordell (Yoschiwara, Stelldichein) sind sexuell motivierte Laute zu hören (der Brand dröhnt, Peitschen knallen um die Lenden, im Schafsack wird gegrölt). Das Seßhaftwerden des ein Haus suchenden Admirals endet in exzessiven, natürlich-triebhaften Lautäußerungen (Brüllen, Grölen, Bellen der Seekuh), und auch die beiden anderen, englischen und französischen Stimmen handeln von Liebe und von technischen wie natürlichen, jedenfalls entfesselten Energien, die sich gegen die begleitenden Geräusche aber kaum durchzusetzen vermögen. Hugo Ball schreibt in Die Flucht aus der Zeit (1927; Auszüge aus seinem Tagebuch und anderes – eine ergiebige Quelle zum Dadaismus [siehe zugleich auch Hans Richter, S.28-29; Nachweis siehe vierter Themenabschnitt]):

30.III. [1916]
Alle Stilarten der letzten zwanzig Jahre gaben sich gestern ein Stelldichein. Huelsenbeck, Tzara und Janco traten mit einem ‚Poème simultan‘ auf. Das ist ein kontrapunktisches Rezitativ, in dem drei oder mehrere Stimmen gleichzeitig sprechen, singen, pfeifen oder dergleichen, so zwar, dass ihre Begegnungen den elegischen, lustigen oder bizarren Gehalt der Sache ausmachen. […]. Die Geräusche (ein minutenlang gezogenes r r r r, oder Polterstöße oder Sirenengeheul und dergleichen) haben eine der Menschenstimme an Energie überlegene Existenz.
Das ‚Poème simultan‘ handelt vom Wert der Stimme. Das menschliche Organ vertritt die Seele, die Individualität in ihrer Irrfahrt zwischen dämonischen Begleitern. Die Geräusche stellen den Hintergrund dar; das Unartikulierte, Fatale, Bestimmende. Das Gedicht will die Verschlungenheit des Menschen in den mechanistischen Prozeß verdeutlichen. In typischer Verkürzung zeigt es den Widerstreit der vox humana mit einer sie bedrohenden, verstrickenden und zerstörenden Welt […].

Wie in einem Konzert (wörtlich ‚Wettstreit‘) die Solostimme des Instruments mit dem Kollektiv konkurriert, ihm unterliegt, mit ihm kommuniziert, so liegen laut Ball also die menschlichen Stimmen – ‚Seelen‘ – im Kampf mit ‚dämonischen Begleitern‘, machtvoll chaotischen (teuflischen) aber ‚bestimmenden‘ Mächten einer ‚zerstörenden Welt‘ – das auf der primär lexikalischen, morphologischen und semantischen Ebene also eher bedeutungsreduzierte, und in der simultanen Summe der Stimmen letztlich fast bedeutungslose Poem gewinnt auf diese Weise eine Bedeutung, die alles andere als neu, verstörend oder provozierend ist – appelliert es doch an die conditio humana, an den tragischen Kampf zwischen Gut und Böse, den heroischen, aussichtlosen Kampf des Menschen gegen die Klänge des Chaos, der Sinnlosigkeit – der Seele gegen die Materie, den es mit seinen sprachlichen und akustischen Mitteln nahezu eins zu eins, also hoch mimetisch abbildet, nachahmt – der im Ersten Weltkrieg verlorene Kampf um ‚Sinn‘, der Sieg des Sinnverlustes, ausgedrückt mit den sprachlichen Mitteln eben dieses Bedeutungsverlustes selbst.

gadij beri bimba (Hugo Ball)

Doch solche kontextuelle Bedeutungsfixierungen durch die Akteure selbst sind noch nicht das letzte Wort der Züricher Dadaisten:
Dada legt, so scheint es, durchaus den vor und um 1900 vorgezeichneten Weg von Wagners Beckmesser (semantischer Nonsens) zu Morgensterns weitergehend bedeutungsreduzierten, reinen Lautgedichten wie Das große Lalula zur Gänze zurück, geht also noch weiter in der Bedeutungstilgung als das zitierte Simultan-Poem, wie nun das zweite Beispiel zeigt – ebenfalls einer der bekanntesten Texte des Dadaismus, dessen Nicht-Bedeutung sich nicht der Simultanität mehrerer bedeutungsreduzierter Stimmen, sondern sich nur der Qualität der einzigen, der Solo-Stimme selbst, verdankt: Gemeint ist das Lautgedicht gadij beri bimba (1916 entstanden, publiziert 1917).

Hugo Ball trägt das Gedicht erstmals im Juni 1916 im Cabaret Voltaire vor und inszeniert es zusammen mit anderen lautmalerisch-musikalisierten Texten wie die Karawane (Zug der Elefanten) am 14. Juli 1916 in einem Wirtshaus unter veränderten performativen Bedingungen, nämlich in einem sakral-liturgischen Sprechgesang-Duktus zu den Cluster-Schlägen eines Klaviers, gekleidet als „magischer Bischof“ in einem steifen ‚kubistischen‘ Pappanzug mit einer zylindrischen Mitra als Kopfbedeckung und klauenhaften Handschuhen, fast bewegungsunfähig. Im Juni 1917 nach der Schließung des Cabaret Voltaire scheint es auch in den Räumen der neu gegründeten Galerie Dada, so erinnert sich Hans Richter, mit skandalisierender Wirkung auf das Publikum aufgeführt worden zu sein:

Nochmals sei das Tagebuch Balls vom 23. Juni 1916 zitiert:

Ich habe eine neue Gattung von Versen erfunden, ‚Verse ohne Worte‘ oder Lautgedichte […]. Die ersten dieser Verse habe ich heute abend vorgelesen. Ich hatte mir dazu ein Kostüm konstruiert. Meine Beine standen in einem Säulenrund aus blauglänzendem Karton, der mir schlank bis zur Hüfte reichte, so daß ich bis dahin wie ein Obelisk aussah. Darüber trug ich einen riesigen Mantelkragen, der innen mit Scharlach uns außen mit Gold beklebt, am Halse derart zusammengehalten war, daß ich ihn durch ein Heben und Senken der Ellenbogen flügelartig bewegen konnte. Dazu einen zylinderartigen, hohen, weiß und blau gestreiften Schamanenhut.

gadji beri bimba glandridi laula lonni cadori
gadjama gramma berida bimbala glandri galassassa laulitalomini
gadji beri bin blassa glassala laula lonni cadorsu sassala bim
gadjama tuffm i zimzalla binban gligla wowolimai bin beri ban
o katalominai rhinozerossola hopsamen laulitalomini hoooo
gadjama rhinozerossola hopsamen
bluku terullala blaulala loooo

zimzim urullala zimzim urullala zimzim zanzibar zimzalla zam
elifantolim brussala bulomen brussala bulomen tromtata
velo da bang band affalo purzamai affalo purzamai lengado tor
gadjama bimbalo glandridi glassala zingtata pimpalo ögrögöööö
viola laxato viola zimbrabim viola uli paluji malooo
tuffm im zimbrabim negramai bumbalo negramai bumbalo tuffm i zim
gadjama bimbala oo beri gadjama gaga di gadjama affalo pinx
gaga di bumbalo bumbalo gadjamen
gaga di bling blong
gaga blung

Achten wir auf ‚wörtliche‘ Wiederholungen, also phonologische und morphologische Rekurrenzen und konnotierte oder auch lexikalische Bedeutungsinseln, semantische Reste:

„rhinozeros“, „russal“, „elifant“, „zanzibar“, „tromtata“, „affalo“, „negra“ – erinnern Sie sich bitte an das im vierten Themenabschnitt zur Funktion von Exotismus und Primitivismus Gesagte.

Karawane (Hugo Ball)

Ebenso bekannt, fast kanonisch ist Balls Karawane (1916, 1917 publiziert), deren Titelgebung allerdings den Bedeutungsrahmen benennt, also eine Elefantenkarawane heraufbeschwört. Und einmal mehr werden die Tonalität afrikanischer Sprachen, kindersprachliche Nachahmungen oder lautmalerische Beschwörungsformeln konnotiert:

Bei aller scheinbaren Lächerlichkeit des Vortrages nahm Ball das Konzept des Sprach- beziehungsweise Wortverzichts überaus ernst. Er notierte in sein Tagebuch, dass er „langsam und feierlich“ mit Gadji beri bimba im Cabaret Voltaire begonnen habe und bereits beim nächsten Gedicht mit der Rezitation unzufrieden war, weil er bemerkte, dass seine Stimme beim Vortrag die „uralte Kadenz der priesterlichen Lamentation“ annahm „jenen Stil des Messgesangs wie er durch die katholischen Kirchen des Morgen- und Abendlandes wehklagt.“ Ob sich damit bereits Distanzierung von Dada und seine Besinnung auf die „abgerissenen Verbindung zu seiner kirchlich geprägten Jugend“ abzeichnet, mag dahingestellt bleiben.
Die „wortwörtliche“ Lautmalerei in der Simultaneität von Ton- und zunächst typographischer Bildkunst wird übrigens von den Dadaisten Viking Eggeling und Hans Richter weiterentwickelt, die 1918 ein – ‚optophonetisches‘ –„Analogieverhältnis zwischen Musik und Malerei“ formulieren.
Das „jolifanto“ konnotiert ‚Elefant‘, ebenso das im Wort enthaltene „Olifant“, was ein aus Elfenbein gefertigtes Signalhorn bezeichnet und niederländisch ‚Elefant‘ denotiert. Bekannt aus dem Rolandslied ist der Olifant  – das Signalhorn Rolands, des Markgrafen der Bretagne, der 778 nach Chr. in den Pyrenäen, von den Basken umringt, mit seinem Horn das Heer Karls des Großen zu Hilfe rufen wollte.
Auch hier lautmalerische Wortfelder des Afrikanischen, der Wildnis, des Exotischen – „russula“, „jolifanto“ –, wenngleich durch den Titel und durch den Verszeilenumbruch gleichsam domestiziert, in ihrer Bedeutungs- und Raumfreiheit eingegrenzt, genauso wie die Elefanten in der ‚Karawane‘ unfrei in Dienst genommen werden – worin eine versteckte Selbstbezüglichkeit des Textes zu erkennen ist.

Mit diesen Tongedichten wollten wir verzichten auf eine Sprache, die verwüstet und unmöglich geworden ist durch den Journalismus. Wir müssen uns in die tiefste Alchemie des Wortes zurückziehen und selbst die Alchemie des Wortes verlassen, um so der Dichtung ihre heiligste Domäne zu bewahren … [Hugo Ball, Die Flucht aus der Zeit, 1927]

Ball griff mit seiner Lautpoesie die Gesamtkunstwerk-Idee auf, wie sie u.a. die Futuristen (etwa Carlo Carrà: „Totalkunst“) propagiert hatten, die visuelle, auditive und haptische Eindrücke simultan verbinden will.

Hugo Ball dazu an 18.6.1916:

Mit der Preisgabe des Satzes dem Worte zuliebe begann resolut der Kreis um Marinetti mit den ‚Parole in libertà‘. Sie nahmen das Wort aus dem gedankenlos und automatisch ihm zuerteilten Satzrahmen (dem Weltbilde) heraus, nährten die ausgezehrte Großstadtvokabel mit Licht und Luft, gaben […] [ihr] […] ihre ursprünglich unbekümmerte Freiheit wieder. Wir anderen gingen noch einen Schritt weiter. Wir suchten der isolierten Vokabel die Fülle einer Beschwörung, die Glut eines Gestirns zu verleihen. Und seltsam: die magisch erfüllte Vokabel beschwor und gebar einen neuen Satz, der von keinerlei konventionellem Sinn bedingt und gebunden war. An hundert Gedanken zugleich anstreifend, ohne sie namhaft zu machen, ließ dieser Satz das urtümlich spielende, aber versunkene, irrationale Wesen des Hörers erklingen; weckte und bestärkte er die untersten Schichten der Erinnerung. Unsere Versuche streiften Gebiete der Philosophie und des Lebens, von denen sich unsere ach so vernünftige, altkluge Umgebung kaum etwas träumen ließ.

Die Anklänge an das totalisierende Kunstkonzept der Frühromantik (‚progressive Universalpoesie‘: alles ist potentiell Kunst oder zumindest ihr Spielmaterial) lassen zugleich bereits einen tiefenpsychologisch geprägten ‚Surrealismus‘ ahnen, der sich dem ‚Unbewussten‘, den ‚untersten Schichten der Erinnerung‘ zuwenden wird.

Zeichentheorie (de Saussure, Barthes)

Eine zeichentheoretische Zwischenbemerkung liegt spätestens an dieser Stelle nahe, auch um Ihnen ein minimales Beobachtungsinstrument an die Hand zu geben, mit dem Sie sowohl die Prozesse der Bedeutungstilgung und Bedeutungsaufladung als auch die implizite Selbstreferentialität vieler Artefakte der Avantgarden analysieren können. Hilfreich ist nämlich im Anschluss an Ferdinand de Saussures Unterscheidung von Signifikant und Signifikat die Unterscheidung von Denotation und Konnotation, die Sie aus der Linguistik vielleicht bereits kennen. Ich empfehle Ihnen sowieso die gelegentliche Lektüre von Roland Barthes: Elemente der Semiologie (1964; dt. 1979. Frankfurt/M.: Syndikat), Mythen des Alltags. (1957; dt. 1964).

‚Konnotationen‘ sind Teil der Textbedeutung, unterliegen also einer restriktiveren Kopplung an Textbedeutungen (lexikalische Denotationen) als subjektive Assoziationen:

Signifikant 1 („gadji beri bimba“) und ein in diesem Falle lexikalisch nicht existentes Signifikat 1 bilden also zusammen wiederum einen Signifikanten 2, der ein Signifikat 2 ‚konnotiert‘, in diesem Fall also die kontextuelle Deutung durch Hugo Ball selbst. Damit nähern sich aber Signifikat 2 und Signifikat 1 einander an, denn Signifikat 2 ‚bedeutet‘ dann also die Sprachlichkeit, die Sprachqualität der Lautgedichte selbst, so dass Signifikat 1 selbstbezüglich seine Signifikanten-Gestalt, als die graphemischen und phonemischen Eigenschaften von „gadji beri bimba“ usf., ‚bedeutet‘.

Auf der primären Ebene der Bezeichnung (S.ant 1 / S.at 1) wird die Unterscheidung von Zeichen und Bezeichnetem, von Inhalt und Form gegenstandslos – im wahrsten Sinn des Wortes: ‚ohne Gegenstand‘, die Zeichen bedeuten sich in ihrer Materialität nur mehr selbst – zumindest weitgehend und auf den ersten Blick. Meist wird es um ‚Mischungsverhältnisse‘ von Fremd- und Selbstreferenz, von Information (Signifikate) und ‚leerer‘ Zeichenästhetik (Signifikanten) gehen, das war auch im Lautgedicht gadji beri bimba mit seinen exotisch ‚primitivistischen‘ Konnotationen so.
Fremdreferentielle Konnotationen sind sogar der häufigere ‚Normalfall‘, den wir aus der Alltagskommunikation ebenso kennen wie aus der Interpretation primärsemantisch bedeutungstragender Kunst und Literatur. Auch leere primäre Signifikate, die das jeweilige Sprachsystem nicht kennt, die in ihm nichts ‚denotieren‘, können – wie a-semantische Musik auch – aus dem je zeitgenössischen kulturellen (poetologischen, mythologischen, literarischen usf.) Wissenskontext mit konnotativer Bedeutung aufgeladen werden, für die es aber mehr als nur der Assoziation eines (über Bildungs- oder Fachwissen verfügenden) Lesenden, Hörenden, sondern eines zusätzlichen, je zeitgenössischen Quellendokumentes bedarf, das diese Bedeutungszuweisung intertextuell ‚konnotiert‘.
Und wenn solche ‚deutenden‘ Dokumente, wie z.B. die zahlreich produzierten, kommentierenden ‚Manifeste‘ der Avantgarden auf der Ebene der Konnotationen (Signifikanten 2 / Signifikate 2) festlegen, dass die primäre, dunkle oder provozierend ‚leere‘ Bedeutungsebene in erster Linie sich selbst, ihre sprachliche, lautliche Materialität selbst ‚bedeute‘, dann ist ‚Selbstreferentialität‘ die sekundäre ‚Bedeutung‘, die wiederum – ad infinitum – mit tertiären usf. Konnotationen angereichert werden kann – wie im Dadaismus und bei Ball zu beobachten: primitivistische, vitalistische (‚Leben‘, ‚Natur‘) Konnotationen des ‚Urtümlichen‘, tieferer unbewusster Traum-Bereiche kollektiver oder individueller Erinnerungen usf.

Selbstreferenz und Selbstimmunisierung

Der Anteil fremdreferentieller, lebensreformerischer, politisch und gesellschaftlich weitreichender Bedeutungszuweisungen ist, wie wir gesehen haben, im Futurismus ungleich höher, auch im Surrealismus wird dies der Fall sein. Konnotative Bedeutungsaufladungen vermögen, so ist festzuhalten, hermetische, ‚unsinnige‘ (‚Nonsens‘) oder jedenfalls bedeutungsreduzierte Primär-Zeichen sekundär einzubetten, politisch (Futurismus), psychoanalytisch (Surrealismus) oder poetologisch zu rekontextualisieren und ihr Provokationspotential abzuschwächen, zu ‚domestizieren‘ – und zwar fremdreferentiell und/oder – wie im Dadaismus – eher durch einen selbstreferentiellen Rekurs auf sich selbst – auf Provokation um der Provokation willen, die nur mehr etwas über sich selber und das Provozierte aussagt.
Besonders deutlich wird diese Tendenz des Dadaismus zum logischen Kurzschluss, also zur Anwendung auf sich selbst und zu einer zirkulär geschlossenen, autarken Selbst-Referenz (Bezug auf sich selbst) übrigens im ersten, von Richard Huelsenbeck in deutscher Sprache verfassten Manifest der Berliner Dada-Sektion von 1918, das die Züricher Truppe, also Tzara, Huelsenbeck, Janco, aber auch der Maler George Grosz und der Berliner Dada-Protagonist Raoul Hausmann sowie der Expressionist Franz Jung unterschrieben haben. Es schließt mit den folgenden, allerdings fremdreferentiell informativen, verständlichen Sätzen – dieser unvermeidliche Selbstwiderspruch der Manifeste war auch schon bei den Futuristen zu beobachten:

Gegen die ästhetisch-ethische Einstellung! Gegen die blutleere Abstraktion des Expressionismus! Gegen die weltverbessernden Theorien literarischer Hohlköpfe! Für den Dadaismus in Wort und Bild, für das dadaistische Geschehen in der Welt! Gegen dies Manifest sein, heißt Dadaist sein!

Eine solche Selbstimmunisierung und logische Totalisierung des Dadaismus lässt keine Gegenposition mehr zu – und betrifft in diesem Falle glücklicherweise keine politischen Postulate, sondern ‚nur‘ Dada selbst: Dada ist nicht parodierbar, da Sie in dem Moment, wo Sie Dada veralbern oder ihm widersprechen, selbst schon Dadaist sind (aus der Sicht der Dadaisten zumindest). Es gibt also keine Position außerhalb Dada mehr.
Dieses Dadaistische Manifest wurde bei der ersten Berliner Soirée des „Club-Dada“ am 12. April 1918 von Richard Huelsenbeck verlesen und als Flugblatt verteilt. Es enthält die wichtigsten Ziele und Absichten der Berliner und Zürcher Anhänger der Kunstbewegung Dada. Es gilt „als der eigentliche Akzent für Dada in Berlin.“ (Hermann Korte: Die Dadaisten. Reinbek: Rowohlt 2003, S.62). Das Manifest war ursprünglich Der Dadaismus im Leben und in der Kunst betitelt. Die Anhänger beziehen gegen den Expressionismus und seine Bilderwelt Stellung und fordern eine permanente Auseinandersetzung mit der „brutalen Realität“ und dem „simultanen Gewirr von Geräuschen, Farben und geistigen Rhythmen“.

Aleatorik

Neben den Lautgedichten und der bruitistischen Simultan-Dichtung, die beide von Anfang an nicht nur rezitiert, notiert und publiziert, sondern auch szenisch aufgeführt, also mit theatralischen und bildkünstlerischen – ikonischen – Zeichensystemen (Hugo Balls Kostüm) synästhetisch gekoppelt worden sind, neben den Modalitäten der performativen Realisierung der Texte einerseits und der Struktur ihres Zeichenmaterials andererseits (Laute mit Restbedeutungen, Geräusche), ist schließlich noch eine dritte ästhetische Strategie zu nennen, deren moderne Variante auf den Dadaismus zurückgeht. Sie betrifft allerdings weniger die Werkgestalt oder deren performative Inszenierung als die Verfahrensweisen der Werkgenese, also den Produktionsprozess selbst.
Gemeint ist die nach dem Zweiten Weltkrieg v.a. in der Avantgarde-Musik später so genannte Aleatorik – von alea lat. „Würfel, Risiko, Zufall“ – deren moderne Neu-‚Erfindung‘ in der bildenden Kunst und als Vertextungsverfahren auf den Züricher Dadaismus, auf Hans Arp und Tristan Tzara, zurückgeht – nach anders kontextualisierten Vorläufern in der esoterischen ars combinatoria (Buchstaben- und Zahlenspielerei) des Mittelalters und der Frühen Neuzeit.
Als Kompositionsprinzip versucht Aleatorik den Zufall freizusetzen und zu nutzen, dessen (‚sinnfreie‘?) Resultate dann nachträglich künstlerisch gestaltet, sinnhaft weiterverarbeitet werden oder auch z.B. tiefenpsychologisch gedeutet werden. Hans Richter sieht in diesen beiden Alternativen die Grundspannung des Dadaismus, mit der seine Akteure unterschiedlich umgehen: Richter bringt es auf die Formel:

„meditative Kunst versus spontane, naturanaloge Anti-Kunst (k=n)“
oder
Bewußtsein gegen Unbewußtes / Wollen gegen Nicht-Wollen
oder
Ordnung gegen Unordnung
Himmel gegen Hölle,

wie es Hans Arp formuliert hat, der zwischen ‚Himmel‘ und ‚Hölle‘, Gestaltung und Spontaneität ein „Gleichgewicht“ anstreben wollte (Richter a.a.O. S.61).
An dieser Alternative sollten sich die künstlerischen Geister spätestens Anfang der 1920er Jahre scheiden, sollten sich die Wege der weniger radikalen (wie Arp und Richter) von denjenigen der radikaleren Avantgarde-Vertreter (wie Tzara) aber auch von den Wegen der Surrealisten trennen – wie noch zu zeigen sein wird.
Aleatorisch entstandene Artefakte verdanken sich entweder dem äußeren Zufall (wechselnde Zustände von Mobiles!) oder unwillkürlichen und diskontinuierlichen, spontanen Assoziationen – letzteres z.B. in der ‚automatischen‘ Niederschrift, der écriture automatique der Surrealisten, dazu aber ebenfalls später mehr).
Bodo Heimann fasst es in seinem Artikel ‚Aleatorik‘ im Historischen Wörterbuch der Rhetorik (Bd.1, 1992) wie folgt zusammen:

Sprachliches Ausgangsmaterial aleatorischer Dichtung können Buchstaben, Wörter, ganze Sätze, sprachliche Fertigteile wie Zeitungsausschnitte, Redensarten oder Redepartikel sein. Methodisch können äußere mechanische Praktiken oder innere psychische Mechanismen dominieren. (S.319)

Und Hans Richter ‚erzählt‘ den Gründungsmythos der bildkünstlerischen Aleatorik als eine Entdeckung des Malers und Dichters Hans Arp (a.a.O. S.52):

Arp hatte lange in seinem Atelier am [Züricher] Zeltweg an einer Zeichnung gearbeitet. Unbefriedigt zerriß er schließlich das Blatt und ließ die Fetzen auf den Boden flattern. Als sein Blick nach einiger Zeit zufällig wieder auf diese am Boden liegenden Fetzen fiel, überraschte ihn ihre Anordnung. Sie besaß einen Ausdruck, den er die ganze Zeit vorher vergebens gesucht hatte. Wie sinnvoll sie dort lagen, wie ausdrucksvoll! Was ihm mit aller Anstrengung vorher nicht gelungen war, hatte der ‚Zu-Fall‘, die Bewegung der Hand und die Bewegung der flatternden Fetzen, bewirkt, nämlich Ausdruck. Er nahm diese Herausforderung des Zufalls als ‚Fügung‘ an und klebte sorgfältig die Fetzen in der vom ‚Zu-Fall‘ bestimmten Ordnung auf. […]. Hatte das Unbewußte im Künstler oder eine Kraft außerhalb seiner gesprochen? War da ein mysteriöser ‚Mitarbeiter‘ am Werk, eine Kraft, der man vertrauen konnte, war sie Teil von einem selbst oder eine Ko-Inzidenz außerhalb jeder Kontrolle? Die Schlußfolgerung, die Dada daraus zog, war, den Zufall als ein neues Stimulans des künstlerischen Schaffens anzuerkennen. Dieses Erlebnis war so erschütternd, dass man es sehr wohl als das eigentliche Zentral-Erlebnis von Dada bezeichnen kann, welches Dada von allen vorhergehenden Kunstrichtungen unterscheidet.

Hans (Jean) Arp selbst schließlich schreibt in Unsern täglichen Traum. Erinnerungen, Dichtungen und Betrachtungen aus den Jahren 1914-1954 (Zürich 1955):

Ich entwickelte die Klebearbeit weiter, indem ich die Anordnung willenlos, automatisch ausführte. Ich nannte dies „nach dem Gesetz des Zufalls“ arbeiten. Das „Gesetz des Zufalls“, welches alle Gesetze in sich begreift und uns unfaßlich ist wie der Urgrund, aus dem alles Leben steigt, kann nur unter völliger Hingabe an das Unbewußte erlebt werden. Ich behauptete, wer dieses Gesetz befolge, erschaffe reines Leben.

Und zur aleatorischen Entstehung seiner Züricher Gedichte und Texte in Die Wolkenpumpe aus dem Jahre 1917 (Erstpublikation 1920) schreibt Arp in seinem Gedicht-Auswahl-Band Wortträume und schwarze Sterne (1953, S. 6f.):

Wörter, Schlagworte, Sätze, die ich aus Tageszeitungen und besonders aus ihren Inseraten wählte, bildeten 1917 die Fundamente meiner Gedichte. Öfters bestimmte ich auch mit geschlossenen Augen Wörter und Sätze in Zeitungen, indem ich sie mit Bleistift anstrich. Ich nannte die Gedichte ,Arpaden‘. Es war die schöne ,Dadazeit‘, in der wir das Ziselieren der Arbeit, die verwirrten Blicke der geistigen Ringkämpfer, die Titanen aus festem Herzen hassten und belachten […]. Viele Gedichte aus der ,Wolkenpumpe‘ sind automatischen Gedichten verwandt. Sie sind wie die surrealistischen, automatischen Gedichte unmittelbar niedergeschrieben, ohne Überlegung oder Überarbeitung, Dialektbildung, altertümelnde Klänge, Jahrmarktslatein, verwirrende Onomatopoesien und Wortspasmen sind in diesen Gedichten besonders auffallend […].

Der reale Anteil an bewusster Gestaltung und ‚Zufall‘ wird sich allerdings sowohl für die Collagen als auch für die poetischen Texte der Züricher Zeit nur mehr schwer bestimmen lassen. Die textkritische Forschung geht inzwischen davon aus, dass bei Arp die Überbetonung des ‚Zufalls‘ mit zunehmendem zeitlichen Abstand zur Entstehung der Werke stärker wird, wendet er sich doch spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg zusehends mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Mystik (u.a. dem Theosophen Jakob Böhme, gest. 1625) zu. Er nähert sich kunstreligiösen Positionen, die den ‚Zufall‘ zum mirakulösen, quasi alchemistischen Modus der Kunstproduktion erheben und auf diese Weise das eigene Schaffen, die Werkgenese mystifizieren [vgl. dazu Rudolf Suter: Hans Arp: Weltbild und Kunstauffassung im Spätwerk. Berlin: P. Lang 2007 und Rudolf Suter: Hans Arp. Das Lob der Unvernunft. Eine Biografie. Zürich: Scheidegger & Spiess 2016].

Bereits der Titel ‚Wolkenpumpe‘ thematisiert implizit die Überführung von Entropie (‚Zufall‘, vermeintliche ‚Unordnung) in Neg-Entropie: Pumpen arbeiten physikalisch gegen die Entropie, Wolken sind besonders flüchtig, von wechselnder (bedeutungsloser?) Gestalt, nicht zu fixieren oder zu ‚pumpen‘.
Dass die hier zitierten Textauszüge eine paradigmatisch zu ordnende Semantik aufweisen, die mit Wolken, Tiergestalten (Vögel, Fische), Elementen (Luft, Feuer, Wasser), religiösen und mythischen (Engel, Licht, Drachen) und medialen bzw. semiotischen Komponenten (predigen, Brief, Windrosen) spielt, offenbart sich schon bei flüchtiger Lektüre.

,Anleitung’ für ein dadaistisches Gedicht von Tristan Tzara

Bei Tristan Tzara besteht allerdings der Verdacht einer Mystifikation aleatorischer Werkgenese (nachträgliche konnotative Bedeutungszuweisung ex post) nicht: In seinem Dada- Manifest über die schwache Liebe und die bittere Liebe (Paris 1920) gibt er vielmehr unter Punkt 8. „Um ein dadaistisches Gedicht zu machen“ eine alltagstaugliche ‚Anleitung‘:

Nehmt eine Zeitung.
Nehmt Scheren.
Wählt in dieser Zeitung einen Artikel von der Länge aus, die Ihr Eurem Gedicht zu geben
beabsichtigt.
Schneidet den Artikel aus.
Schneidet dann sorgfältig jedes Wort dieses Artikels aus und gebt sie in eine Tüte.

Schüttelt leicht. Nehmt dann einen Schnipsel nach dem anderen heraus. Schreibt gewissenhaft ab in der Reihenfolge, in der sie aus der Tüte gekommen sind.
Das Gedicht wird Euch ähneln.

Und damit seid Ihr ein unendlich origineller Schriftsteller mit einer charmanten, wenn auch von den Leuten unverstandenen Sensibilität.*

* Beispiel
wenn die Hunde die luft in einem diamanten durchqueren wie die ideen und der fortsatz der hirnhaut zeigt die stunde des weckers programm (der titel ist von mir)

preis sie sind gestern passend dann bilder / schätzen den traum epoche der augen / pompös dass rezitieren das evangelium gattung verdunkelt sich / gruppe die apotheose sich vorstellen sagt er fatalität macht der farben / schnitt wölbung verdutzt die wirklichkeit ein zauber / zuschauer alle zur anstrengung der es nicht mehr 10 bis 12 / während umherschweifen kreisschwenkung hinabsteigt druck / zurückgeben von verrückten im gänsemarsch fleischsorten auf einem monströs erdrückend bühne / feiern aber ihr 160 anhänger in nicht an den gesetzt in meinem perlmuttern / […] / […] / geschäfte die es nicht gibt verlieh / weise worte kommen diese leute

Die Aussage „Das Gedicht wird Euch ähneln“ impliziert allerdings bereits unabhängig von Tzaras Absichten eine rätselhafte (tiefenpsychologische?) Motiviertheit des ‚Zufalls‘, dessen Endprodukt denjenigen („Euch“) ähneln solle, die ihn zum Zwecke aleatorischer Textproduktion provoziert haben. Sagte das ‚Gedicht‘ also demnach tatsächlich irgendetwas über seine Urheber/innen aus, dann ist der ‚Zufall‘ seiner Genese bereits kein ‚reiner‘ mehr, sondern ein ex post bedeutsamer, also latent eingeschränkter ‚Zufall‘. Nicht nur die Psychoanalyse Sigmund Freuds ab 1900 misstraut zumindest in therapeutischen Kontexten solchen bedeutungslosen ‚Zufällen‘ und ähnelt darin altertümlichen, magischen Praktiken wie ‚Bleigießen‘, wo aus ‚zufällig‘ entstandenen Formen, die zwar physikalisch determiniert aber bedeutungslos sind, Charaktereigenschaften oder die Zukunft herausgelesen werden sollen – nach Art neg-entropischer bedeutungszuschreibender ‚Sinn‘-Pumpen (Arps „Wolkenpumpe“). Auch auf ‚Zufall‘ und Losverfahren beruhende Spiele (‚Glücksspiele‘: ‚Fortuna‘ als Schicksal / Glück) bedienen sich ‚zufalls‘-minimierender ex-post-Deutungen.
Meist werden angesichts aleatorischer ‚Werke‘ übrigens auch Produktion und Rezeption verwechselt oder vertauscht:
Mag erstere ‚zufällig‘ sein (und andere Deutungen münden in der Tat in Okkultismus oder einer Tiefenpsychologie des ‚Unbewussten‘!), so ist die Rezeption, also die sinnliche Wahrnehmung und nachträglich Deutung zufällig entstandener oder gefundener Objekte als zeichenhaft, alles andere als ‚zufällig‘, beliebig oder bedeutungslos – und sagt etwas über den Deutenden, weniger über den Produktionsprozess aus. Und sind die Künstlerinnen und Künstler der Avantgarden beides in einer Person, dann ‚deuten‘ sie ihre aleatorischen ‚Werke‘ selbst allerdings oft so, als sei auch deren Genese bereits tiefenpsychologisch oder schicksalhaft oder religiös, also jedenfalls im wörtlichen Sinn okkult motiviert.
Denn wenn laut Tzara jeder „ein unendlich origineller Schriftsteller“ sein kann – Schlegels Athenäum-Fragment 116 zur ‚progressiven Universalpoesie‘ lässt grüßen: auch ein Seufzer kann Kunst sein (‚K=N‘) –, dann widerspricht diese radikale ‚Aufhebung‘ von Kunst einer Werk- und Produktions-Poetik (‚Originalität‘; potentiell kommerzialisierbarer ästhetischer ‚Eigen‘-Wert), die paradoxerweise auch noch für die Avantgarden des 20. Jahrhunderts gilt, mögen sie auch vereinzelt das Gegenteil behaupten.
Machen wir die Probe aufs Tzara-Exempel und sehen wir uns das von Tzara gegebene Text-„Beispiel“ aus dem obigen Zitat etwas näher an:

wenn die Hunde die luft in einem diamanten durchqueren wie die ideen und der fortsatz der hirnhaut zeigt die stunde des weckers programm (der titel ist von mir) [also bewusst von Tzara formuliert, nicht zufallsgeneriert, CMO]

preis sie sind gestern passend dann bilder / schätzen den traum epoche der augen / pompös dass rezitieren das evangelium gattung verdunkelt sich / gruppe die apotheose sich vorstellen sagt er fatalität macht der farben / schnitt wölbung verdutzt die wirklichkeit ein zauber / zuschauer alle zur anstrengung der es nicht mehr 10 bis 12 / während umherschweifen kreisschwenkung hinabsteigt druck / zurückgeben von verrückten im gänsemarsch fleischsorten auf einem monströs erdrückend bühne / feiern aber ihr 160 anhänger in nicht an den gesetzt in meinem perlmuttern / […] / […] / geschäfte die es nicht gibt verlieh / weise worte kommen diese leute

Die Auswahl des Zeitungsartikels oder der Artikel, die zerschnitten werden, ermöglicht eine Vorentscheidung über das zu kombinierende Sprachmaterial, das hier immerhin „Bilder“, „Traum“, „Evangelium“, „Apotheose“, „Wirklichkeit“, „Zauber“, „Zuschauer“, „Bühne“, „Anhänger“, „weise Worte“ bereithält und unabhängig vom zufallsbestimmten Syntagma – also unabhängig vom jeweils realisierten Text – durchaus kohärente semantische Paradigmen konstituiert (Kunst / Bilder / Worte / Traum, aber auch Religion).
Thema und Wortwahl des je vom Künstlersubjekt ausgewählten, zerschnittenen Zeitungsartikels und die von vornherein ‚ins Spiel‘ gebrachte Anzahl von Wörtern begrenzen den semantischen Spielraum des Endprodukts.

Erste Internationale Dada-Messe 1920

Zum Berliner Dada-Ableger ist nachzutragen, dass bereits zwei Jahren nach dem oben zitierten Dadaistischen Manifest Huelsenbecks die Erste Internationale Dada-Messe dessen Ende einläutet. Es handelt sich um eine von Dadaisten organisierte Ausstellung, die vom 30. Juni bis zum 25. August 1920 in Berlin stattfindet und von einer Galerie veranstaltet wird. Mit ihren Ausstellungsobjekten formuliert die Messe eine Absage an die bürgerliche Kultur und dokumentiert das Spektrum an künstlerischer Kreativität, welche die Dada-Revolte freigesetzt hat und deren Inspiration weit in die Künste des 20. Jahrhunderts hineinreichen sollte. Neben Pop Art, der Konzeptkunst und Objektkunst sind v.a. die von Dada ausgehenden, spontanen aleatorischen Arbeitstechniken des Surrealismus zu nennen.

(Zum Berliner Dadaismus und zu seinen Protagonisten und exemplarischen Texten sei auf die nächste Vorlesung verwiesen.)

Resümee: Dadaismus – Futurismus

Uwe Lindemann weist in seinem Aufsatz Kriegsschauplatz Öffentlichkeit. Die Sturmtrupps, Partisanen und Terroristen der künstlerischen Avantgarde zu Recht darauf hin, dass die Kriegs- und Kampfsemantik im Dadaismus sehr viel weniger penetrant ausgeprägt sei als im Futurismus. Als Leitbegriff des Dadaismus identifiziert er den ‚Karneval‘ mit seinen ‚Partisanen‘, als den des Futurismus den ‚Krieg‘ mit seinen ‚Stoßtrupps‘ sowie als Zentralthema des Surrealismus den ‚Terrorismus‘ der ‚absoluten Revolte‘ durch ‚Traum‘ und ‚Liebe‘ (amour fou). Wie angedeutet, vermag sich der Dadaismus am besten dann gegen seine Ablehnung zu immunisieren, wenn er selbst ‚karnevalistisch‘ flexibel agiert und jede noch so schrille Gegnerschaft zu vereinnahmen bereit ist. Gegen Dada zu sein, wird zum paradoxen Dada-Programmpunkt selbst erhoben und damit zugleich entschärft.

[Uwe Lindemann: Kriegsschauplatz Öffentlichkeit. Die Sturmtrupps, Partisanen und Terroristen der künstlerischen Avantgarde, in: Heinz-Ludwig Arnold (Hg.), Aufbruch ins 20. Jahrhundert. Über Avantgarden. München: edition text + kritik, boorberg. 2001, S.17-36 (= Text + Kritik. Zf. für Literatur. Sonderband IX/01)]

Die 1919 in der Zeitschrift Dada Nr.2. gestellte programmatische Frage „was ist Dada?“ entfaltet also durchaus ihre subversive Kraft – Dada ist alles (K=N), zur Kunst kann potentiell alles werden, was existiert – zum ‚Opfer‘ des Dadaismus kann jedes Material, können Geräusche, vorgefundene Objekte des Alltags (objets trouvés, ready mades) ebenso werden, wie erfundenes, konstruiertes – ein nicht nur bei den Dadaisten extrem erweiterter Werkbegriff kennt keine prinzipielle Unterscheidung von Inhalt und Form mehr.
Das Inventar der Innovationen, der neuen künstlerischen Strategien ist damit bereits umrissen und ändert sich in den folgenden Avantgarden kaum mehr wesentlich: Sie bedienen sich immer wieder derselben grundlegenden Verfahrensweisen. Das Berliner Dadaistische Manifest von 1918 dekretiert programmatisch den

scharf markiert[n] Scheideweg, der den Dadaismus von allen bisherigen Kunstrichtungen und vor allem von dem FUTURISMUS trennt, den kürzlich Schwachköpfe als eine neue Auflage impressionistischer Realisierung aufgefasst haben. Der Dadaismus steht zum ersten Mal dem Leben nicht mehr ästhetisch gegenüber, indem er alle Schlagworte von Ethik, Kultur und Innerlichkeit, die nur Mäntel für schwache Muskeln sind, in seine Bestandteile zerfetzt.

Das BRUITISTISCHE Gedicht
schildert eine Trambahn, wie sie ist, die Essenz der Trambahn mit dem Gähnen des Rentiers Schulze und dem Schrei der Bremsen.

Das SIMULTANISTISCHE Gedicht
lehrt den Sinn des Durcheinanderjagens aller Dinge, während Herr Schulze liest, fährt der Balkanzug über die Brücke bei Nisch, ein Schwein jammert im Keller des Schlächters Nuttke.

Das STATISCHE Gedicht
macht die Worte zu Individuen, [… ].

[in: Riha (Hg.): Dada Berlin. Texte, Manifeste, Aktionen. 1977, S.23-24]

Die nach wie vor ‚futuristische‘ Befreiung der Worte, die selbstwidersprüchliche Rhetorik der brutalen, pseudo-nihilistischen Zerstörung, die gleichwohl eine essentialistische Total-Mimesis von simultaner ‚Welt‘ anstrebt, steht dem ‚Leben‘ natürlich erst Recht ‚ästhetisch‘ gegenüber, nur nicht mehr mit der ‚schönen‘ Ästhetik des Realismus, des Impressionismus oder des ‚hässlichen‘ Expressionismus. Angestrebt wird offenkundig eine sehr viel weiter reichende, simultanistisch und aleatorisch allumfassende Ästhetisierung des ‚Lebens‘ als Kunst, der ‚Kunst‘ als Leben.