Professor Dr. Claus-Michael Ort
Vorlesung: Literatur der Avantgarden (Wintersemester 2020/21)

‚Absurdes Theater‘ Populärkultur ‚Konkrete Poesie‘

Wolfgang Hildesheimer, Herbert Achternbusch, Karl Valentin, Ernst Jandl, Eugen Gomringer

Neben surrealistischen Filmen und Texten sind mindestens zwei weitere Beispiele aus der deutschsprachigen Literatur (einschließlich Theater und Film) der Nachkriegszeit zu nennen, die Verfahren der Avantgarden und insbesondere Surrealismus-analoge Verfahren aufgreifen – zwar ohne den tiefenpsychologischen Anspruch des Surrealismus, aber zumindest im Bereich der semantischen Kohärenzerwartung und ihrer Enttäuschung vergleichbar:

Zum einen das ‚Absurde Theater‘, entstanden im Anschluss an den Existentialismus von Albert Camus (geb. 1913, gest. 1960) und Jean-Paul Sartre (geb. 1905, gest. 1980), der sich bereits vor 1945 philosophisch konstituiert. Vor allem über Albert Camus‘ Le Mythe de Sisyphe. Essai sur L’absurde – zwischen 1936 und 1941, entstanden, erschienen 1942, rezipiert erst nach dem Zweiten Weltkrieg, dt. 1947, vollständig erst 1950 – wird der Existentialismus für das sogenannte ‚absurde Theater‘ bedeutsam, also für – um nur die bekanntesten Autoren zu nennen – den Iren Samuel Beckett, den rumänischen Franzosen Eugène Ionesco, für den frühen Günter Grass und vor allem und nachhaltig für Wolfgang Hildesheimer;
und zum anderen für das singuläre Gesamtkunstwerk von Herbert Achternbusch (geb. 1938, gest. 2022), Maler und Bildhauer, Autor von Romanen, Theaterstücken, Spielfilmen, Bildergeschichten und Kinderbüchern.

Herbert Achternbusch

Leider muss ich es an dieser Stelle bei einem kurzen Hinweis belassen – und kann das Werk von Achternbusch ansonsten nur Ihrer (nicht nur wissenschaftlichen) Aufmerksamkeit empfehlen. Achternbusch dreht zwischen 1974 und 2002 29 Spielfilme und gehört seit den 1970er Jahren zu den produktivsten und provokativsten Theater-Schriftstellern und Filmemachern der Gegenwart, dessen vermeintlich blasphemischer Film Das Gespenst (1982) einen Skandal auslöst und große Bekanntheit erlangt. Seit 1984 produziert Achternbusch außerdem verstärkt Collagen, Aquarelle und Gouachen, die immer wieder in seinen Filmen auftauchen und sich zu Bildergeschichten gruppieren. Die je werkinternen multimedialen Interferenzen tendieren stark zu einem gattungsübergreifenden ‚Gesamtkunstwerk’, das mit einer radikalen Reduktion der Ausdrucksmittel experimentiert. Es bedient sich sowohl narrativer als auch bildlicher, absurder und grotesker, z.T. auch absichtlich ‚primitiver’ poetischer Verfahren und reflektiert Probleme des Identitäts- und Sprachverlustes, des Schreibens, des Literaturbetriebs und der Zeitgeschichte ebenso kritisch wie Prozesse der individuellen und kulturellen Selbstentfremdung. Hassliebe zum katholischen Bayern und rücksichtsloser Grobianismus in Gesellschafts- und Medienkritik verbünden sich mit zarter Poesie – später auch mit Zen-buddhistischer Meditation – und dienen einer monströsen autobiographischen Selbstfiktionalisierung und Selbst-Mythisierung. Zum Einstieg empfehle ich das Folgende, v.a. aber Loimeier 2013 und 2018:

Jörg Drews (Hg.): Herbert Achternbusch. Frankfurt/: Suhrkamp 1982;

Wolfgang Jacobsen et al.: Herbert Achternbusch. München: Hanser 1984;

Manfred Loimeier: Die Kunst des Fliegens. Annäherung an das künstlerische Gesamtwerk von Herbert Achternbusch. München: edition text + kritik, Boorberg 2013;

Manfred Loimeier (Hrsg.), Sommernachtsträume. Essays zu Büchern, Filmen und Theaterstücken von
Herbert Achternbusch. Weitra: Verlag Bibliothek der Provinz 2018, darin:

Claus-Michael Ort: „Dieses Kreuz ist eine Frage.“ Das Skandalon des Kreuzes in Herbert
Achternbuschs ‚Das Gespenst‘ (1982) [2009], S.239-273;

Hans-Edwin Friedrich: ‚Aber der Toten wegen flüchte ich mich in die unzerreißbare Kette des
Biers‘. Die Reflexion der Judenvernichtung in Herbert Achternbuschs Werk der achtziger Jahre [2012]. S.173-192.

Das ,absurde Theater’

Zurück zum ‚absurden Theater‘: Wolfgang Hildesheimer (geb.1916, gest. 1991) charakterisiert das Programm des ‚Absurden Theaters‘ im Anschluss an Albert Camus wie folgt:

So wird das Theater des Absurden quasi zur Stätte eines symbolischen Zeremoniells, bei dem der Zuschauer die Rolle des Menschen übernimmt, der fragt, und das Stück die Welt darstellt, die vernunftwidrig schweigt, das heißt in diesem Falle: absurde Ersatzantworten gibt, die nichts anderes zu besagen haben als die schmerzliche Tatsache, dass es keine wirkliche verbindliche Antwort gibt.

[Wolfgang Hildesheimer: Über das absurde Theater. Eine Rede [Erlanger Rede, 1960; Erstdruck 1963], in: Wolfgang Hildesheimer: Wer war Mozart? Becketts ‚Spiel‘. Über das absurde Theater. Frankfurt/M.: Suhrkamp 41973, S.77-100, hier S.86]

In seinen Frankfurter Vorlesungen (1967) präzisiert Hildesheimer das ‚Absurde‘ wie folgt (‚absurdus‘: lat. ‚misstönend, falsch, ungeschickt‘):

Ich zitiere die bekannte Definition des Begriffs von Camus: „Das Absurde entsteht aus der Gegenüberstellung des Menschen, der fragt, und der Welt, die vernunftwidrig schweigt.“
Ich selbst habe ehrlich gesagt niemals recht verstanden, warum das Schweigen der Welt vernunftwidrig sein sollte, oder um wessen Vernunft es sich handele, um die des Menschen oder um die der Welt. Ich denke, dass hier wohl die Welt der Vernunftwidrigkeit angeklagt ist. Da mir aber gerade die Vernunftwidrigkeit selbst als das Absurde erscheint, würde ich den Satz so abwandeln: „Das Absurde bedeutet die Vernunftwidrigkeit der Welt, indem sie dem Menschen die Antwort auf seine Frage verweigert.“

[Wolfgang Hildesheimer: Interpretationen. James Joyce, Georg Büchner, Zwei Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973, S.53-110, hier S.66]

Das mag zwar auch für manches von Schwitters, für manch Dadaistisches, am wenigsten allerdings für den alles andere als resignativen, sondern vielmehr emanzipatorisch (‚revolutionär‘) selbst ‚antwortenden‘ Surrealismus zutreffen – aber sie würden sich alle nicht mit dieser Position des ‚Absurden‘ zufrieden geben wollen: zu wenig Provokationspotential und Kontextbrüche – und solche fast nur auf der semantischen Kohärenzebene.
Erinnern Sie sich bitte: Auf allen linguistischen Textebenen sind Erwartungsprovokationen, Kohärenzbrüche möglich.

Das ‚Absurde Theater‘ und die Literatur des Absurden greifen aber so gut wie gar nicht auf das sprachliche Material durch, experimentieren also weder phonologisch, noch morphologisch, selten syntaktisch, sie verfahren weder aleatorisch noch collagieren sie objets trouvés: Wie auch am Beispiel von Hildesheimers brillanter Roman- und Kurzprosa, anhand seiner Theaterstücke und Hörspiele zu zeigen wäre, thematisiert es in alles andere als inkohärenter Sprache, oft in satirischer Zuspitzung aber immer in nicht-absurder Rede – oft auch poetologisch reflektiert – das Schweigen einer sinnlosen, zusehends sinnentleerten, manchmal auch bereits untergehenden Welt. Diese Welt, in der keine gelingende Figurenkommunikation mehr möglich ist, in der die Sprache ihre fixierten, verlässlichen Bedeutungen, ihre Funktion, Wirklichkeit zu bezeichnen, verloren hat, Wirklichkeits- und Sprachverlust also miteinander verknüpft sind und Sprache meist nur mehr selbstreferentiell auf sich selbst verweist, – diese Welt also wird in einer poetischen Sprache dargestellt, die keineswegs hermetisch, dunkel oder ‚absurd‘ ist.

Diese Position entspricht übrigens der Ästhetisierung der Sprachkrise und Sprachskepsis, wie sie um 1900 im Anschluss an Friedrich Nietzsche, Fritz Mauthner und andere diagnostiziert worden ist und wie sie in Hugo von Hofmannsthals bekannter Erzählung Der Brief (1902), besser bekannt als der sogenannte Chandos-Brief, literarisch und paradox reflektiert worden ist – paradox deshalb, weil dieser fiktive Lord Chandos seinen Sprachverlust und sein Verstummen wortreich und wortgewaltig poetisch beschwört – in einem Brief an den Naturforscher und Philosophen Francis Bacon. Ich zitiere aus Friedrich Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873):

Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind […]. […]. […] [Der Mensch] vergisst […] die originalen Anschauungsmetaphern als Metaphern und nimmt sie als die Dinge selbst. […]. […] der adäquate Ausdruck eines Objekts im Subjekt […] [ist] ein widerspruchsvolles Unding: denn zwischen zwei absolut verschiedenen Sphären wie zwischen Subjekt und Objekt giebt es keine Causalität, keine Richtigkeit, keinen Ausdruck, sondern höchstens ein ästhetisches Verhalten […] eine andeutende Uebertragung […]. […]. Das Wort Erscheinung enthält viele Verführungen, […]: denn es ist nicht wahr, dass das Wesen der Dinge in der empirischen Welt erscheint.

[Friedrich Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne [1873], in: F.N., […]. Nachgelassene Schriften 1870-1873. Kritische Studienausgabe 1. Hrsg. von Giorgio Colli / Mazzino Montinari. München/Berlin: dtv/de Gruyter ²1988, S.873-890 (dtv 2221), hier S.880-881, 883, 884.]

Wie sehr der literaturwissenschaftliche Poststrukturalismus, die Verfahren der Dekonstruktion (Jacques Derrida u.a.) Nietzsche verdanken, mag – als Fußnote – das folgende Zitat von Paul de Man (geb. 1919, gest. 1983), einem der Hauptvertreter der literaturwissenschaftlichen Dekonstruktion, illustrieren:

Die Deutung des Zeichens ist […] nicht eine Bedeutung [Signifikat], sondern ein anderes Zeichen [Signifikant]; es ist eine Lektüre und keine Dekodierung, und diese Lektüre muss ihrerseits mit einem weiteren Zeichen gedeutet werden und so ad infinitum.

[Paul de Man: Allegorien des Lesens [1979]. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988 (es 1357), S.38].

Es gibt, sagt Hildesheimer im Anschluss an Albert Camus, keinen ‚Urtext’, keinen hinter den Zeichen präsenten Sinn, kein Sinnzentrum (‚Logozentrismus‘), von dem aus die Welt sinnhaft und zusammenhängend gedeutet werden könnte, und aus dem das Subjekt eine kohärente Weltdeutung gewinnen könnte.

Auch wenn sich die Avantgarden anderer Ausdrucksmittel auf Signifikanten-Ebene bedienen, liegt darin eine ihrer zentralen, impliziten Botschaften und – in einer philosophischen Parallelaktion nach dem Zweiten Weltkrieg – auch der (u.a. von Nietzsche ausgehenden) poststrukturalistischen Sprachphilosophie und ihrer literaturwissenschaftlichen Anwendung, der Dekonstruktion.
Die verführerische Illusion des perfekten Signifikanten der sein Objekt re-präsentiert und es deshalb umso mehr verfehlt, weil er eben keine Pfeife ist:

Wenn Sie versuchen, das berühmte Gemälde (nicht nur das hier verlinkte ‚Bild‘ in diesem Gemälde) von René Magritte, dem prominentesten Maler des Surrealismus neben Max Ernst und Salvador Dalí, zu ‚deuten, d. h. zunächst zu klären und zu beschreiben, worin eigentlich sein Signifikat besteht und auf der Basis welcher (denotativen und konnotativen) Signifikanten es seine Bedeutung generiert, wird sich schnell zeigen, was mit ‚ad infinitum‘ in diesem Fall gemeint ist.

[Siehe auch: Michel Foucault: Dies ist keine Pfeife. Mit zwei Briefen und vier Zeichnungen von René Magritte [1973]. Mit einem Nachwort von Walter Seitter. Frankfurt/M. u.a.: Ullstein 1983]

Sprachlich korrekte Mimesis, kohärente Darstellung von Kommunikationsunterbrechungen und Sinnlücken, anstatt sie zu vollziehen – so könnte man auch die Verfahrensweisen des ‚Absurden Theaters‘ zusammenfassen, so provokant manches Hörspiel oder Theaterstück von Günter Eich oder auch Hildesheimers Satiren Lieblose Legenden (1952) in den Wirtschaftswunder-, NS-Zeit-Verdrängungs-, und Wiederaufbau-Jahren nach 1950 dem noch wenig tragfähigen deutschen Sinngebungsgerüst auch erschienen sein mochten. Inwieweit Komik und Satire das Provokationspotential avantgardistischer Mittel (Signifikanten-Ebene) abzumildern in der Lage sind oder im Gegenteil sogar nicht-avantgardistische, vergleichsweise ‚biedere‘ ästhetische Mittel überhaupt erst zum Medium von Skandal und inhaltlichem Ärgernis machen, hängt in jedem Fall vom gesellschaftlichen Erwartungshorizont ab – in Buñuels Film Un Chien andalou war z.B. der als ‚Kreuz‘ an der Wand hängende Tennisschläger Gegenstand von Kritik, zumal er in einer Einstellung mit einer Mütze behängt ist und der männliche Protagonisten in Kruzifixus-Pose vor ihm steht. Und Buñuels zweiter Film L’Age d’Or (Das goldene Zeitalter, 1930) ist, wie bereits erwähnt, vom Pariser Polizeipräfekten wegen seiner Verunglimpfung christlicher Symbole verboten worden.

Jedenfalls fallen die inhaltlichen ‚ideologischen‘ Skandale aus oder treten überhaupt nur dann auf, wenn die Botschaft deutlich vermittelt und nicht durch experimentelle phonologische, morphologische oder syntaktische ‚Spielereien‘, durch den selbstbezüglichen Durchgriff auf das Sprachmaterial selbst abgemildert oder verschleiert wird. Wie es bereits Dalí postuliert: Ein gegenständlicher, auf der Ebene seiner Signifikanten (nicht der Bedeutungen, der Signifikate) problemlos lesbarer Film, vermag mehr zu provozieren, zu verstören (außer in Avantgardekreisen selber) als die inhaltsleer abstrakten Farbquadrate Mondrians oder die Zeichenspiele einiger Dadaisten.

Das ‚absurde Theater‘ erfüllt aber auch noch in anderer, nicht nur material- und sprachästhetischer Hinsicht nicht die Kriterien für Avantgarde-Kunst, so provozierend oder komisch seine Werke im Einzelfall auch gewirkt haben mögen.
So fehlt – über Hildesheimers Erlanger Rede hinaus – eine weitergehende literaturpolitische oder (pseudo-)wissenschaftliche – psychologische, gesellschaftliche – Programmatik ebenso wie das poetologische Operieren mit der paradoxen Gleichsetzung von ‚Kunst‘ und ‚Leben‘, und es findet alles andere statt als eine „Dauerreflexion im Kunstsystem darüber, was Kunst“ sei (Georg Jäger) – ganz abgesehen, dass es auch keine institutionalisierten Gruppenformationen gibt.

Vielmehr werden die fremdreferentiellen, vermeintlich welthaltigen Sinnangebote von Religion, Wissenschaft, Politik und Kunst als Täuschung, als verschleierte Sinnverweigerungen, als Illusion von Fremdreferenz, die bloße leere Selbstbezüglichkeit entlarvt und die angeblichen Wahrheiten im Sinne Nietzsches als sprachliche Konstruktionen ohne Wahrheits- oder gar Aussagewert vorgeführt – darüber wird reflektiert, aber nicht über Kunst selbst.

Karl Valentin

Ein kurzen Hinweis auf eine andere Variante eines nicht-avantgardistischen Avantgarde-Bezuges aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sei Ihnen nicht vorenthalten: In diesem Fall geht der Autor jedoch von populärer Komik und ihren bürgerlichen ‚Volkssänger‘-Formaten um 1900 aus, verhält sich also denkbar konträr zur Avantgarde, repräsentiert aber gleichwohl eine Art volkstümlicher sprachlogischer Nonsens-Variante, die nie ‚Avantgarde‘ war oder sein wollte und auch keine politischen oder tiefenpsychologischen Absichten und Erkenntnisinteressen verfolgt. Die Texte – oft Bühnen- oder Rundfunksketche, auch Kurzfilme (sehr bekannt: Der Firmling [Text 1922, Kurzfilm 1934], online verfügbar) – kommen jedoch den Dada-Varianten seit den 1920er Jahren durchaus nahe, brechen also sprachliche und semantische Kohärenzerwartungen ebenso wie sie vereinzelt auch zu einer potenzierten Selbstreferentialität tendieren, die die Moderne nach dem Zeiten Weltkrieg durchaus zu schätzen weiß; vereinzelt bedient sich der Autor auch der Avantgarden als Objekte der Parodie (z.B. im Futuristischen Couplet).

Gemeint ist der Komiker und ‚Volkssänger’ Karl Valentin (d.i. Valentin Ludwig Fey, geb. 1882, gest. 1948), der zugleich ein Stummfilm-Pionier und Objektkünstler war – und zusammen mit seiner langjährigen Bühnenpartnerin Liesl Karlstadt (d.i. Elisabeth Wellano, geb. 1892, gest. 1960) zumindest in Teilen seines Werkes als eine Art volkstümlicher Kehrseite zu Kurt Schwitters gelten kann.
Warum ist diese Form der Selbstreflexion / Selbstreferentialität aber nicht Avantgarde-konform, sondern ‚volkstümlich‘? Ist diese Art der Parodie also nicht Dadaismus, sondern seine Ironisierung? Diese, auch komiktheoretische Frage kann hier nicht vertieft werden.

Längerfristig am Thema Interessierte seien noch einmal auf die bereits im siebten Themenabschnitt erwähnte Dissertation von Jill Thielsen (Nun geht der Unsinn an“. Zur semantischen Funktion und feldtheoretischen Dimension kommunikativer Rahmen avantgardistischer und humoristischer Texte. 2020) verwiesen, die 2022 publiziert wurde und Karl Valentin in das literarische Feld der Moderne einordnet.
Und falls Sie einmal nach München kommen, empfehle ich den Besuch des Valentin-Karlstadt-Musäums im Isartorturm, das Sie über den populärkulturellen Hintergrund – Medien-, Theater- und Filmgeschichte! – informiert. Herbert Achternbusch beruft sich übrigens mehrfach explizit auf Karl Valentin.

Hier sind ausgewählte Quellen- und Literaturhinweise zum ‚absurden Theater‘, zu Hildesheimer und Valentin zusammengestellt.

Ernst Jandl

Ein weiterer Einzelgänger und Solitär eigener Qualität, der sich sprach-dadaistischer und lautlicher Experimente bedient, ist der Österreicher Ernst Jandl (geb. 1925, gest. 2000), der im Folgenden etwas ausgiebiger vorgestellt werden soll.

Das Potential an Kontexterwartungsbrüchen und Bedeutungsreduktion in Jandls Werken beschränkt sich nicht mehr nur auf dargestellte Kommunikationsprobleme und auf die semantische Ebene 4.

Seine Lautgedichte – „Sprechgedichte“, wie er sie selbst nennt – erweisen sich als lustvolle De-semantisierungen der Sprache, deren inhaltliche Entleerung bis zu ihrem lautlichen Geräusch-Substrat zurück (‚Ursonate‘) er inszeniert, schreibt und vorträgt – und auf diese Weise Religionen, Ideologien und ihre hohlen Leerformeln, ihre Heilsversprechen als bloße Signifikanten, Sprachzeichen denunziert und am Ende vollständig entleert, ihnen den Sinn austreibt – durchaus entsprechend der zitierten Sprachauffassung Nietzsches und des Poststrukturalismus (Derrida, de Man): Sprache ist von vornherein willkürlich, hat keine Realitätsbindung (keine ontologische Qualität), ist ‚Lüge‘. Und insofern ‚Wahrheiten‘ auf sprachliche Zeichen reduziert werden, sind auch ‚Wahrheiten‘ ‚Lüge‘, aber im, wie Nietzsche sagt, „außermoralischen“, weil nur zeichen-theoretischen „Sinn“. Hören Sie bei Gelegenheit Him Anflang war das Wort, was den Beginn des Johannes-Evangeliums ad absurdum führt.

schtzngrmm beruht auf dem einzigen Wort‚ Schützengraben, das nach Entfernung aller Vokale zu schtzngrmm transformiert wird. Die Konsonanten bilden neue Silben, die an Maschinengewehrsalven oder Granateneinschläge erinnern und ein lautmalerisches Bild des Stellungskrieges und des Todes eines Soldaten zeichnen: „t-tt“ (= t-o-tt).

Das dritte Beispiel für ein „Sprechgedicht“, ein Gedicht also, das (Zitat Jandl) „erst durch sein Sprechen und Hören vollständig wird“, betont auf besondere Weise die performativ lautliche, szenisch-musikalische Seite der Sprache: 183 Fahnen für Rottweil (1974). Ich orientiere mich an der verdienstvollen Magister-Arbeit von Isabella Maria Tury: Der Zusammenhang von Edition und Interpretation am Beispiel ausgewählter Gedichtkonvolute aus dem Nachlass Ernst Jandls. Wien 2010 [online abrufbar], S.51-64, und zitiere im Folgenden sinngemäß aus Kapitel 6.2.

In Rottweil (Baden-Württemberg) eröffnet Ernst Jandl also 1974 die Kunstaktion ‚Künstler machen Fahnen für Rottweil’ des 1970 gegründeten ‚Forums Kunst Rottweil’ mit diesem und aus diesem Anlass geschriebenen Gedicht. Eingeladen waren internationale Künstler und Künstlerinnen, die Fahnen entwerfen sollten und diese auf dem Rottweiler Hauptplatz präsentierten.

Das Gedicht besteht aus zwei Teilen: dem eigentlichen Gedicht, das 183 Fahnen „als Symbole für eine Symbollosigkeit“ (vgl. Konvolut 183 fahnen für rottweil, II, Blatt 35) aufzählt und eine anschließende anmerkung, in der der Entstehungszeitraum und die Umstände des ersten öffentlichen Vortrags beschrieben werden.

Das Konvolut 183 fahnen für rottweil umfasst 108 Blätter und lässt verschiedene Arbeitsweisen im Schreibprozess erkennen. Es dokumentiert Jandls Durchsicht des eigenen Werks in Bezug auf Fahnen, seine persönliche und theoretische Auseinandersetzung mit dem Thema und der Form von Fahnen, das Suchen nach Assoziationen mit Hilfe der englischen Sprache, Untersuchung der lautlichen Qualität ‚zerlegbarer‘ Wörter, deren Morpheme und Phoneme neu kombiniert werden können. Zitat Ernst Jandl:

Als ich meine Gedichte durchsuchte, um darin Fahnen zu finden, kamen mir plötzlich eine ganze Reihe davon überhaupt wie Fahnen vor. Wenn das nicht bloß deshalb geschah, weil mir das Thema ‚Fahnen’ im Kopf herumging, dann mochte ich hier, von einer anderen Seite aus, nämlich der der Poesie, die Entdeckung gemacht haben, dass es an Fahnen etwas gab, das, wenn schon nicht Kunst, so doch wie Kunst war. (Konvolut 183 fahnen für rottweil, III, 21)

Texte als Fahnen, Fahnen als Kunst und natürlich zunächst einmal als Zeichen im politischen Kontext – der Terminus ‚Druckfahne‘ bezeichnet bis heute Korrekturabzüge des Verlages für die Autor/inn/en.

Jandl hat oft und gerne sein poetologisches ‚Programm‘ erläutert. Das Konzept und seine Reflexion über Sprache gehört mit zum Kunstwerk, das (Zitat Jandl) eine „Praxis des Klarmachens und sich Bewusstmachens ist“ und damit „alles an Klarheit und an Bewusstheit Mögliche in sich selbst enthält“. Hier sind die, wie bei Schwitters, Buchstaben und Laute das konkrete Material, das seiner alltäglichen Bedeutung beraubt und verfremdet wird: „Das Material ist dasselbe, aber die Gewöhnung daran muss aufhören, (…) wo Poesie beginnen soll“ (Jandl PW 11, 153).

Genauso wie die Sprache ihrer Symbole entledigt wird, soll nun mit den Fahnen verfahren werden. Fahnen werden nicht durch ihr Material, ihr Aussehen bzw. ihre Farben politisch, sondern durch ihren Gebrauchskontext. Die Fahnen ihrer Symbolhaftigkeit zu berauben, ist für Jandl somit genauso Poesie, wie die Sprache ihrer Verweisfunktionen zu entledigen. Fahnen sind formal alle gleich. Diese Gleichförmigkeit wird im Gedicht fortgeführt, das aus „183 Mal eine fahne….“ Besteht. Aber diese ‚Fahnen‘ tun für eine Fahne Unerwartetes: Sie sind aus himmel, sie reparieren kaputte fahnen und sie werden verrückt usw.

Das Material, das Jandl genau katalogisiert, immer wieder durchsieht und neu arrangiert, enthält auch biographische Andeutungen an Jandls Jugend unter der Hakenkreuzfahne (eine fahne die zu jung ist um das alles zu begreifen). Die (paradigmatische) Kombinatorik des semantischen und lexikalischen ‚Tausch‘- und Substitutions- also Spielmaterials‘ erweist sich dabei als potentiell unabschließbar und Wiederholungen verfremden das Wortmaterial. Die Suche nach der passenden Kombination der fahnen wird ergänzt durch lautliche Kriterien, d.h. dass Laute in verschiedenen morphologischen (wortinternen) Kontexten wiederholt werden. Ein Blatt enthält z.B. fahnen, bei denen der Vokal i das zusammenhängende Element bildet (eine fischfahne / eine tischfahne / eine mischfahne / eine milchfahne).

Jandl geht aber noch einen Schritt weiter, um die lautliche Qualität als Strukturierungselement einzusetzen. Er beschreibt nämlich ein Konvolut-Blatt ausschließlich mit Fahnen-Lautstudien (III, Blatt 48), z.B. eine fahne aus einem einzigen langgezogenen (vokal) aaaaaaaaa / eine fahne die das gleiche will iiiiiiii / (…) / eine fahne die sich selber hisst: sssssssssss usw.
Die letzten Fahne auf diesem Blatt: eine fahne die sich wie ernst jandl aufführt lässt einen ironischer Selbstbezug auf jene Lautgedichte erkennen, für die der Autor damals bereits bekannt war – als einer der auch ‚Jandl‘ performativ aufführt, so wie Sie es in den Beispielen hören können.
Fahnen werden am Ende zu (Zitat Jandl) „Symbole[n] für eine Symbollosigkeit“, also für die im Gedicht sukzessive realisierte Bedeutungstilgung, die jedoch (sekundär-semantisch, konnotativ) eine zweite Bedeutungsebene hervorbringt.

Schwitters’ Prinzipien ,,konsequenter Dichtung”

Für die sogenannten Spät- oder Neo-Avantgarden nach dem Zweiten Weltkrieg gelten also, ich hatte es schon angedeutet, die Prinzipien, die bereits Kurt Schwitters als Prinzipien „konsequenter Dichtung“ formuliert hat – im Spannungsfeld der Buchstaben zwischen Visualität / Typografie / Bildkunst einerseits und ihrer auditiven Kehrseite (Laute, Geräusche, Musik):

Bevor wir uns der v.a. typographisch-visuellen ‚konkreten Poesie‘ zuwenden, die im Dadaismus und bei Jandl ja bereits ein wenig (auch lautliche) Gestalt gewonnen hat, noch eine Anmerkung zur Forschungsliteratur: Ich werde mich auch in der nächsten Themenwoche neben dem bereits mehrfach zitierten, profunden Buch von Holger Schulze über Das aleatorische Spiel v.a. auf ältere, aber nach wie vor konkurrenzlose Arbeiten beziehen, die Analysestandards etabliert haben, die bis heute maßgeblich sind: Sie stammen aus einer Forschergruppe an der Ludwig-Maximilians-Universität München um Georg Jäger zum „Problempotential der Nachkriegsavantgarden. Grenzgänge in Literatur, Kunst und Medien“:

Michael Backes: Experimentelle Semiotik in Literaturavantgarden. Über die Wiener Gruppe mit Bezug auf die Konkrete Poesie. München: Fink 2001.

Oliver Jahraus: Die Aktion des Wiener Aktionismus. Subversion der Kultur und Dispositionierung des Bewußtseins, München: Fink 2001.

Thomas Dreher: Performance Art nach 1945. Aktionstheater und Intermedia. München: Fink 2001.

Nach wie vor zu empfehlen sind außerdem:

Thomas Kopfermann (Hrsg.): Theoretische Positionen zur Konkreten Poesie. Texte und Bibliographie. Tübingen: Niemeyer 1974.

Thomas Kopfermann: Konkrete Poesie – Fundamentalpoetik und Textpraxis einer Neo-Avantgarde. Frankfurt/M.: Lang 1981.

,Konkrete Poesie’

Das typographische Gegenstück zur lautlichen Seite der Sprache, wie sie die ‚Sprechgedichte‘ Jandls betonen, also die visuell-bildliche Seite der Sprache als Schrift, ist zu Beginn der 1950er Jahre, kurz vor Jandls literarischem Debüt, in der sogenannten ‚konkreten Poesie‘ experimentell ausgelotet worden – auch in diesem Fall mit Bezug auf die inzwischen ‚traditionsbildenden‘ Pioniere der Vorkriegsavantgarde. Ein Jahr nach dem Schweden Öyvind Fahlström (geb. 1928, gest. 1976), der 1953 ein erstes Manifest der konkreten Poesie veröffentlicht und von der Geräuschmusik, der Musique concrète von Pierre Schaeffer (geb. 1910, gest. 1995) ausgeht, tritt im deutschsprachigen Raum der Schweizer Grafiker und Designer Eugen Gomringer (geb. 20.1.1925) als eigentlicher, weil erfolgreicher Gründervater einer vor allem visuell ‚konkreten‘ (aber semantisch abstrakten, bedeutungsreduzierten) ‚Poesie‘ hervor, der vor kurzem seinen 96. Geburtstag gefeiert hat.

In seinem Manifest vom vers zur konstellation. zweck und form einer neuen Dichtung (1954) betont Gomringer die Materialität der Sprachzeichen, die sich zu Konstellationen aus Buchstaben oder Wortfolgen anordnen, so dass Ordnung und spielerisches Weitervariieren, ‚Experimentieren‘ durch den Autor oder die Rezipient/inn/en möglich und alternative Ordnungen sichtbar werden.
Leserichtungen, Umkehrungen und ein luftiges Syntagma, eine Syntax aus Buchstaben, bildet in ihrem lockeren Zusammenhang die Bedeutung des Wortes ab. Zugleich greifen geometrische Konkretion und Reduktion (Punkt, Linie, Fläche) auf die von Dalí gescholtene abstrakte Kunst seit den 1920er Jahren zurück.

Schon Theo van Doesburg (d.i. Christian Emil Marie Küpper, geb. 1883, gest. 1931), der mit Piet Mondrian u.a. 1917 die bereits erwähnte Künstlerbewegung De Stijl gründet und ‚konkrete‘ als abstrakte Kunst begreift, überträgt in der Kundgebung II des ‚Stijl‘ 1920 die bildkünstlerischen Verfahren der Gruppe auf literarische Werke und gelangt zu typografischen Wortkunstwerken – gleichzeitig zu Dada (Schwitters und Raoul Hausmann). Realismus, Abstraktion und Konkretion werden nur mehr graduell unterschieden und sind ‚stilisierende‘, reduzierende und geometrisierende Verfahren (‚Geist-Form‘).
Der Maler Wassily Kandinsky (geb. 1866; gest. 1944) bestimmt 1938 den Begriff „‚konkret‘ als Umschlagen der äußersten Abstraktion (als Form-Reduktion) in eine neue Verdinglichung“ (in der Zeitschrift XXe Siècle 1 [1938]). Schon 1930 hatte van Doesburg und 1936 der Schweizer Bildkünstler, Architekt und Designer Max Bill (geb. 1908, gest. 1994) den Begriff eingeführt und theoretisch begründet, so Max Bill in seinem Manifest Konkrete Kunst im Katalog zur Ausstellung „Zeitprobleme in der Schweizer Malerei und Plastik“ im Kunsthaus Zürich: Zitat Bill, in konsequenter Kleinschreibung, wie bei allen Vertretern der ‚konkreten‘ Kunst:

konkrete kunst nennen wir jene kunstwerke, die aufgrund ihrer ureigenen mittel und gesetzmäßigkeiten – ohne äußerliche anlehnung an naturerscheinungen oder deren transformierung, also nicht durch abstraktion – entstanden sind.

Damit kehrt Bill die Definitionsrichtung schon 1936 um, wenn er das ‚Konkrete‘ nicht mehr als Ergebnis von Abstraktion versteht, sondern einen ‚konkretistischen‘ Anklang an die objets trouvés der Dadadisten hervorruft: technische Geräusche oder Buchstaben und Wörter sind in der Tat keine Abstraktionen und schon gar nicht von der Natur, sondern kulturell gegebenes, vorgefundenes – konkretes – Rohmaterial.
Gomringers visuelle ‚Wortbild‘-Poesie beruft sich außerdem auf den französischen Symbolisten Stéphane Mallarmé, auf Arno Holz, Apollinaire, Kandinsky und Mondrian und definiert das ‚neue Gedicht‘, das Gedicht der ‚konkreten Poesie‘, in seinem Manifest vom vers zur konstellation. zweck und form einer neuen Dichtung (1954 zuerst in der Neuen Zürcher Zeitung publiziert) wie folgt:

das neue gedicht ist deshalb als ganzes und in den teilen einfach und überschaubar. es wird zum seh- und gebrauchsgegenstand: denkgegenstand – denkspiel. es beschäftigt durch seine kürze und knappheit. es ist memorierbar und als bild einprägsam. es dient dem heutigen menschen durch seinen objektiven spiel-charakter, […]. […]. durch die vorbildlichkeit seiner spielregeln kann das neue gedicht die alltagssprache beeinflussen.

Es gibt kein „Gedicht über etwas“, sondern nur noch die Realität des sprachlichen Produkts, der Buchstaben und Wort-Konstellation als einer „Poesie der Fläche“, die sich nur mehr selber ‚bedeutet‘ – erinnern Sie sich an Hugo Ball, der nachträglich über die Tongedichte von Dada schreibt: „mit diesen Tongedichten wollten wir verzichten auf eine Sprache, die verwüstet und unmöglich geworden ist […].“

Die konkret realisierte ‚Konstellation‘ verbindet Ordnung als An-Ordnung auf der Fläche mit dem kombinatorischen und spielerischen Moment unzähliger Kombinations- und Variationsmöglichkeiten, impliziert also andere Konstellationen aus Wörtern, Buchstaben, Satzzeichen, die aus syntaktischen, morphologischen und insofern auch semantischen Zusammenhängen gerissen und jeweils neu ‚konstelliert‘, konfiguriert werden.

die konstellation ist die einfachste gestaltungsmöglichkeit der auf dem wort beruhenden dichtung. sie umfasst eine gruppe von worten – wie sie eine gruppe von sternen umfasst und zum sternbild wird. […].
die konstellation ist eine ordnung und zugleich ein spielraum mit festen größen. sie erlaubt das spiel. […].[…].
die konstellation wird vom dichter gesetzt. er bestimmt den spielraum, das kräftefeld und deutet seine möglichkeiten an. der leser, der neue leser, nimmt den spielsinn auf und mit sich: […]. […]. […] die konstellation ist das letztmögliche absolute gedicht.

Unschwer zu erkennen, dass der Rezeptionsästhetik der „konstellation“ als dem „letztmöglichen absoluten gedicht“ sowohl ein automatistischer – mechanisches Variieren, Reihenbildung, Serialisierungen – als auch ein aleatorischer Zug innewohnt, wenn der geforderte ‚neue leser‘ sich auf das Weiterspielen einlässt und dabei auch spontanen Impulsen folgt. Wenn wir unser zeichentheoretisches Schema nach Roland Barthes also für diese Variante der Selbstbezüglichkeit noch einmal modifizieren wollen, dann sähe dies wie folgt aus: S.ant 1 und S.at 1 sind selbst in S.at 2 enthalten, das Artefakt bedeutet (S.at 2) seine primären, bedeutungslosen Zeichen (Wörter, Buchstaben).

Ein anderer Protagonist der ‚konkreten Poesie‘, Franz Mon (d.i. Franz Löffelholz, geb.1926, gest. 2022), propagiert 1967 nicht nur eine ‚Poesie der Fläche‘, die sich selbstbezüglich auf ihre eigenen Mittel bezieht (auf sie ‚referiert‘), sondern nimmt dabei auch Positionen ein, die zeitgleich die französische Sprachphilosophie und v.a. Jacques Derrida (geb. 1930, gest. 2004) in kritischer Wendung gegen Ferdinand de Saussure (geb. 1857, gest. 1913) vertritt. Er wendet sich also gegen die Dominanz und Überwertung der gesprochenen mündlichen Sprache und propagiert die Aufwertung von Schrift und Schriftlichkeit gegen Sinnzentriertheit (die laut Nietzsche nur in ‚Lüge‘ und Selbstbetrug münden kann) und gegen die Illusion einer ‚Stimme‘, die uns diesen Sinn vermittelt, also gegen Logozentrismus als Phonozentrismus. Er betont stattdessen die unabschließbare Selbstbezüglichkeit der Schrift und des Textes, jenseits derer kein Sinn zu finden ist (siehe Jacques Derrida: De la Grammatologie, 1968: „Il n‘y a rien hors du texte“). Es existiert – als ‚Bedeutung‘ – kein Außen des Textes, es gibt jenseits des Textes nichts außerhalb des kulturellen, verschriftlichten ‚(Gesamt-)Textes‘ unserer Selbstdefinitionen.

Übrigens sehen Sie hier (externer Link) ein Schrift-Bild mit dem Titel ‚abstrakt‘, das das Verhältnis der konkreten Poesie zur Abstraktion reflektiert: „Abstrakt“ ist nur mehr ein konkret existentes Wort, dessen Typographie und Bildqualität zum Spielmaterial für collagenhaftes Zerschneiden und Re- Kombinieren werden – und das sich insofern selbst zugleich als ‚abstrakt‘ thematisiert – als von seinem kunsttheoretischen Kontext ‚abstrahiert‘. Franz Mon schreibt in seinem Essay zur poesie der fläche 1967 über ‚Flächengedichte‘ und ‚Buchstabenkonstellationen‘:

geschriebenes dient uns am besten, je weniger seine optische dimension ins auge tritt. von seiner anordnung auf der fläche wird allenfalls harmonische unbemerkbarkeit verlangt: die fläche selbst aber spielt bei der syntax des textes keine rolle. ohne schaden zu nehmen, kann der text verlautbart, aus dem optischen ins akustische medium gebracht werden. und ebenso schlägt sich das nacheinander des gesprochenen im nacheinander der zeilenverläufe nieder, ohne dass das nebeneinander der fixierten schriftzeichen etwas hinzugäbe. wie die fläche dem text äußerlich ist, ist ihm die schrift sekundär. dass sie einmal bildhafter natur war und ihre bildcharaktere vielleicht über die lautsprache hinausgehende bedeutungen vermittelten, ist vergessen. unsere schrift ist zur bloßen funktion des lautes, also eines zeitlich dimensionierten geworden. dennoch besteht die potenz einer räumlich statt zeitlich artikulierten schrift-sprache. sie dringt dann durch, wenn die konventionelle und gesellschaftlich sanktionierte sprache an ihre grenze gerät […].
das gedicht tritt aus dem voraussetzungslosen hervor; es ist sein eigener grund oder es ist nicht gedicht, und die fläche ist seine negation, an der sich die positivität seiner setzung zu beweisen vermag. das gedicht besteht nicht ohne die isolation der leeren fläche, dieses aus allem zusammenhang geschnittenen spielraums […].

Franz Mon: Zur Poesie der Fläche [1963], in: Franz Mon: Sprache lebenslänglich. Gesammelte Essays. Hrsg. von Michael Lentz. Frankfurt/M.: Fischer 2016, S.221-224, hier S.221-222;

in den buchstaben wird die sprache zum zweiten mal erfunden und sie beweisen den syntaktischen charakter von sprache   ein einzelner buchstabe von bestimmter größe an einer bestimmten stelle auf einer fläche von bestimmter größe kann ein text sein.

[Franz Mon: buchstabenkonstellationen, in: Franz Mon: ainmal nur das alphabet gebrauchen. Stuttgart: edition hansjörg mayer 1967, ohne Paginierung.]

Sehen wir uns als ‚neue leser‘ einige Beispiele dieser Flächengedichte oder ‚konstellationen‘ an – als, so Gomringer, einprägsam knappe „Seh-, Gebrauchs- und Denkgegenstände“:

Eugen Gomringer:  schweigen 1953

Michael Backes verweist auf Thomas Kopfermann (s. o.: Konkrete Poesie – Fundamentalpoetik und Textpraxis einer Neo-Avantgarde, 1981), der die „paradoxale Autoreflexivität“ von Gomringers schweigen in fünf Thesen wie folgt analysiert:

1) „Schweigen wird gesagt und gezeigt.“
2) Ein Anschein von Paradoxie entsteht, wenn „‚schweigen‘ als Wort, als Rede(-element) für die Nichtexistenz der rede dient, also formal Element dessen ist, was es inhaltlich aufhebt“.
3) Diese „Paradoxie“ lässt „Sprache unspezifiziert und ex negativo zum Gehalt des Textes“ werden.
4) Dadurch, „dass die semantische Struktur von ‚schweigen‘ textimmanent voll entfaltet wird und Aussagen lediglich in Hinsicht auf die prinzipielle Sprachlichkeit möglich sind“, entfällt jedweder textranszendenter Sinn.
5) Das Gedicht besitzt die „Universalität einer Regel.“

[Backes 2001, s.o., S.232, Kopfermann S.204f]

Die wort-lose, wort-freie Leerstelle innen wird so zum textinternen Referenzobjekt, auf das sich das rahmende geschriebene ‚Schweigen‘ bezieht (interne Fremdreferenz?) und weist zugleich darauf hin, dass Absenz nicht ohne Präsenz, beides nur differentiell denkbar ist, dass vollzogenes Schweigen nur relativ und kontrastiv zum Nicht-Schweigen möglich ist, wobei letzteres hier allerdings paradoxerweise durch das Wort ‚schweigen‘ selbst bezeichnet und verwirklicht wird. Michael Backes weiter:

Die Konfrontation von gesprochenem und geschwiegenem Schweigen führt zu einer Gegenüberstellung von Selbstbezug und Paradoxie hier, transitivem Bezug und wörtlicher Einlösung dort. […]. Die tautologische Wiederholung des Wortes provoziert [den] Effekt […] [dass] das fortlaufende Sagen von schweigen […] sein tatsächliches Eintreten verhindert, es verdrängt als Bezeichnung hier und jetzt sein eigenes Referenzobjekt bzw. verhält sich als sein eigenes Referenzobjekt kontradiktorisch zu seinem Signifikat. Das Signifikat ‚schweigen‘ wird dabei durch das wiederholte Bezeichnen […] durch schweigen als ausgesprochenem Signifikanten mit diesem semantisch auf widersinnige Weise verkoppelt. […]. ‚Ich spreche das Wort schweigen aus, also schweige ich nicht‘; ‚ich schweige erst, wenn ich nicht mehr sage, dass ich schweige‘. […]. […].
Das gesprochene schweigen steht als Referenzobjekt ‚reden‘ im Widerspruch zu seinem Signifikat ‚schweigen‘, während das Referenzobjekt ‚schweigen‘ als solches nur in seiner Bezeichnung durch ein vorher gesagtes, nun geschwiegenes ‚schweigen‘ als Referenzobjekt ohne geäußerten Signifikanten existiert.

[Backes 2001, S.233-234]

Das geht noch ein wenig so weiter bei Backes – wer solche metaleptisch-selbstreferentiellen Paradoxien präzis analysieren und beschreiben will, produziert leicht einen metasprachlichen Text, der sich dem annähert, was er als Objektsprache thematisiert – wird also selbst konkrete Wissenschaftspoesie, was ich aber nicht abwertend meine, in diesem Fall fast im Gegenteil. Es führt kein Weg an genauer Analyse vorbei, und seien deren Ergebnisse auch noch so schwierig darzustellen – und am Ende wird dadurch auch die Wahrnehmung des Werkes sensibler, angemessener, wovon wiederum nicht nur die Wissenschaft profitiert.
Als semiotisches Spiel- und Anschauungsmaterial noch einige weitere Beispiele typographisch visueller Poesie (Textbilder):

Döhl (geb. 1934, gest. 2004) spielt also die Gomringer-Konstellation weiter! Und Gomringer reflektiert Aleatorik in einem sicher nicht aleatorisch produzierten Text:

Rainer Döhl weist 1971 selbst auf die konnotative Bedeutungsebene seines apfels hin:

Mit Zweierlei hatte ich nicht gerechnet, nicht damit, dass der 1965 als Weihnachtskarte von Klaus Burkhardt gedruckte ‚Apfel‘ schon bald an den unterschiedlichsten Orten bis nach China, auch in Übersetzung, nachgedruckt und zu einer Ikone einer vor allem visuell verstandenen konkreten Poesie werden würde; erst recht aber nicht damit, dass man in ihm ausschließlich einen Gag mutmaßen könnte [= look the intruder!], soweit man den wurm im Apfel überhaupt erkannte. Dass keiner der Ablehner und Fürsprecher auf die Idee kam, die Paradiesgeschichte z.B. oder den Trojanischen Krieg herbeizuassoziieren, verblüffte mich. Als ehemaligem Schüler eines humanistischen Gymnasiums und aus der Lektüre waren mir natürlich der Apfel des Paris, oder die von Herakles geklauten hesperidischen Äpfel und mancherlei Anderes, auch Märchenhaftes (Schneewittchen), Sprichwörtliches und Umgangssprachliches um den Apfel durchaus vertraut, die oft folgenden Katastrophen (Trojanischer Krieg, Vertreibung aus dem Paradies etc.] geläufig. […] Das Bild, den Text dachten wir uns damals als ‚Leerstellen‘, an und in denen sich Künstler/Autor und Leser treffen, an/in denen sich die genannten Bedeutungsfelder dann erschließen sollten. [https://www.reinhard-doehl.de/doehlapfel_rez.htm]

Rühms punkt- und achsensymmetrische dreifache ‚Annaeherungen‘ an ‚anna b.‘ schließlich, also an Schwitters‘ anna blume, sind als ‚Eh[e]rung‘ annas (‚anna-eherung‘) lesbar und reflektieren zugleich den selbstwidersprüchlichen Traditionsbezug der Neo-Avantgarden.
Rühm legt die in annaeherung enthaltene Buchstabenfolge a/n/n/a frei, ohne deshalb Schwitters zu kopieren: links über „eherung“ / „erung“ und mittels der Inversion ‚gnureheanna‘ (rückwärts gelesen) –

Gerhard Rühm: annaherung

– in der Mitte beide Leserichtungen in den Buchstabenfolgen sukzessive reduzierend und rechts in einer anderen, engelsgleichen Symmetrisierung der Spiegelbilder. Alle drei Textbilder laufen auf ihre (auch intertextuelle) Basis als Ziel zu, nämlich auf die Buchstabenfolge „anna b.“ – „an    na b.“ – „a     n n     a b.“ Und diese Abfolge spielt nicht nur mit den Präpositionen ‚an‘ und ‚ab‘, sondern setzt auch das ‚b‘ in ‚Szene‘, welches auf die Symmetrie des Palindroms ‚anna‘ folgt, Asymmetrie erzeugt und (die) ‚blume‘ vertritt.

Erinnern Sie sich an Schwitters‘ Anna Blume, worin es heißt:

Anna, a-n-n-a, ich träufle deinen
Namen. Dein Name tropft wie weiches Rindertalg,
Weißt du es Anna, weißt du es schon?
Man kann dich auch von hinten lesen, und du, du
Herrlichste von allen, du bist von hinten wie von vorne:
‚a – n – n – a‘.

Nicht nur Mons rotor, Döhls apfel oder Bayers Palindrom- und Anagramm-Text gras, dessen Signifikanten-Konstellation das inhaltliche Zielwort ‚gas‘ freilegt (vom gras zum sarg und über arg und sag zum gas), sondern auch schon Gomringers schweigen und Rühms annaeherung zeigen, dass die Flächen- oder Bildgedichte der konkreten Poesie oft alles andere als Mimesis-frei sind. Sie bedeuten also nicht nur selbstreferentiell ihr eigenes Signifikanten-Material, sondern konnotieren Außersprachliches bildhaft – den Rotor, schmetterlingsähnliche Formen in der annaeherung, den Apfel, die weiße Leerstelle in schweigen, die das Schweigen oder das ‚schwarze‘ (Druckerschwärze?) ‚Geheimnis‘ visualisiert. Auch in der ‚konstellation‘ wind kann etwas diffus-windiges gesehen werden. Es schleichen sich also durchaus gewollt nachahmende Abbildungsqualitäten ein – die Desemantisierung durch Dekontextualisierung des ‚konkreten‘ Wort- und Buchstabenmaterials legt neue bedeutungsstabilisierende Bildbedeutungen frei, ähnlich dem phonologischen Verfahren Jandls, der Bedeutungen sukzessive reduziert, dafür aber z.T. lautmalerisch und typographisch – ‚optophonetisch‘ – vermittelt („schtzngrmm – t – t – t“) – wie schon stellenweise in Hugo Balls Lautgedichten, aber anders als z.B. in Hausmanns ‚optophonetisch‘ genutztem „fmsbwtözäu“ und Schwitters‘ „fmsbewetäzäu“ (einschließlich der ‚Ursonate‘), das weder aus Denotationen hervorgeht noch auf kulturell abrufbaren Konnotationen beruht.
Indem Mons rotor und Döhls apfel zumindest die äußere Form dessen abbilden, was das jeweilige Wort denotiert, werden die spezifischen Bedeutungen des Textbildes nicht nur konnotativ, sondern bereits denotativ erzeugt.

Sind solche textbildlichen ‚Nachahmungen‘ auf der Spielfläche von Buchseiten Vexierspiele mit Fremd- also Welt-Referenz und Selbst- also Zeichenreferenz? Führen sie uns mit ihrer ‚Mimesis‘ zwischen Bild- und Wortbedeutung nicht erst recht die unhintergehbare Sprach- und Zeichenabhängigkeit jeglichen Weltbezuges vor Augen?

Ich will hier nicht weiter sprachphilosophisch spekulieren, sondern stattdessen noch einen Ausblick auf die von Gomringer geforderte gesellschaftliche Funktion der (seiner) ‚konkreten Poesie‘ werfen, die zwar nicht provokativ, aber utopisch anmutet und sich trotz futuristischer (aus heutiger Sicht naiver) Anklänge von den kämpferischen Programmen der Vorkriegsavantgarden stark unterscheidet – und aus heutiger Sicht für manche bereits eine negative Utopie umfassender ‚Digitalisierung‘ vorauszuahnen scheint. Ich zitiere nochmals aus Gomringers vom vers zur konstellation. zweck und form einer neuen dichtung (1954):

unsere zeit spricht, wie jede zeit, ihre eigene sprache. sie spricht vor allem, auch wenn sie schreibt und viel schreibt. der heutige mensch will rasch verstehen und rasch verstanden werden. und viele menschen – die zahl der menschen wird sich beträchtlich vermehren – wollen zudem rasch von vielen anderen menschen verstanden werden. das mittel ist die direkte sprache und die schrift, das schreiben und das lesen sind übel, die viel aufwand erfordern. Mit andern worten: für schnelle kommunikation ist das ferngespräch geeigneter als der brief, der funk geeigneter als die presse.
unsere sprachen befinden sich auf dem weg der formalen vereinfachung. es bilden sich reduzierte, knappe formen. Oft geht der inhalt eines satzes in einen einwort-begriff über, oft werden längere ausführungen in form kleiner buchstabengruppen dargestellt. es zeigt sich auch die tendenz, viele sprachen durch einige wenige, allgemeingültige zu ersetzen.

Erinnern wir uns an die Forderungen der Futuristen und an Marinettis Technisches Manifest der futuristischen Literatur, 1912:

Man muss die Syntax dadurch zerstören, dass man die Substantive aufs Geradewohl anordnet, so wie sie entstehen.
Man muss das Verb im Infinitiv gebrauchen, […].
Man muss das Adjektiv abschaffen. […].
Man muss das Adverb abschaffen, diese alte Schnalle, […].

Und noch einmal Gomringer:

zweck der neuen dichtung ist, der dichtung wieder eine organische funktion in der gesellschaft zu geben und damit den platz des dichters zu seinem nutzen und zum nutzen der gesellschaft neu zu bestimmen. […]. […] dabei [ist] an die formale vereinfachung unserer sprachen und an den zeichencharakter unserer schrift zu denken […].
[…] dass es in zukunft überhaupt nur noch eine art wirklicher gebrauchsliteratur geben wird. der beitrag der dichtung wird sein die konzentration, die sparsamkeit und das schweigen: […].

‚Konkrete‘ Gedichte also als „kern der zukünftigen universalen gemeinschaftssprache“ – um vermeintlich ‚kunstautonomen‘ Sprachspielereien zukünftig doch wieder eine gesellschaftliche relevante Funktion zu sichern, auch wenn der Beitrag droht, in ‚Schweigen‘ zu münden?

Die sogenannte Stuttgarter Gruppe um Max Bense (geb. 1910, gest. 1990, seit 1950 Professor für Wissenschaftstheorie und Philosophie an der TH Stuttgart), Abraham Moles, Rainer Döhl u.a. – ein Verbund von Theoretikern und Praktikern, die wie zu Zeiten der Kunsthochschule ‚Bauhaus‘ auch Gebrauchskunst, Alltagsgegenstände und ihr Design entwerfen – formuliert so etwas wie eine begleitende, mathematisch fundierte und experimentelle, kybernetische und semiotische Ästhetiktheorie zur ‚konkreten Poesie‘ und verfolgt insbesondere die Idee einer gemeinsamen minimalistischen und kombinatorischen Universalsprache. Sie versucht diese aus spielerischer aleatorischer Kreativität und aus sprachlichen Lernspielen zu entwickeln (Schulze S.182, S.186), arbeitet also an dem alten Dada-, Schwitters-, Arp- und Breton-Problem, ob und wie aus der Entropie, der aleatorischen Unordnung, eine geordnete Organisation von Zeichen, also ein kohärentes ‚Werk‘ hervorzutreiben ist – hinzuweisen ist auf Max Benses Die Unwahrscheinlichkeit des Ästhetischen. Und die semiotische Konzeption der Kunst (1979) und Experimentelle Schreibweisen (1964).

Die ‚konkrete Poesie‘ mit ihrer minimalistischen Reduktion der Mittel, ihrer mathematisch begründeten Ästhetik und ihrem modernistischen Gesellschafts- und Sprachentwurf – also das Gegenteil surrealistischer tiefenpsychologischer Selbstanalyse – fügt sich zweifellos gut in das kühle Design und den sozialen Oberflächen-Habitus der Kalter-Krieg- und Wirtschaftswunderzeit der Nachkriegs-BRD ein – Selbstanalyse und Aufarbeitung von Schuld waren nach dem Ende der NS-Diktatur und des Zweiten Weltkrieges noch nicht angesagt (um es – zugegeben – etwas kurzschlüssig und plakativ zuzuspitzen). Manche Vertreter der konkreten Poesie haben sich denn auch spätestens in den 1960er Jahren entweder von ihr abgewandt oder sich jedenfalls auch anderer Mittel, anderer Themen (als nur der Sprache) bedient und andere Ziele verfolgt. Zu erinnern ist an die hier sträflich vernachlässigten Helmut Heißenbüttel (geb. 1921, gest. 1996) und Di[e]ter Roth (geb. 1930, gest. 1998).

Bevor in der nächsten und letzten ‚Vorlesung‘ die ‚Wiener Gruppe‘, deren Mit-Akteure Gerhard Rühm und Konrad Bayer eben schon Auftritte hatten, und im Ausblick die ‚Fluxus‘-Bewegung Thema sein werden, trage ich noch einige wenige, ausgewählte Literaturhinweise zu Jandl, und zur ‚konkreten Poesie‘ nach:

Heissenbüttel, Helmut: d’Alemberts Ende. Projekt Nr.1 [1970]. Frankfurt/M.: Ullstein 1981.

Gomringer, Eugen: konstellationen constellations constelaciones. Bern: […] 1953.

Gomringer, Eugen: manifeste und darstellungen der konkreten poesie 1954–1966. St. Gallen: […] 1966.

Jandl, Ernst: lechts und rinks. gedichte, statements, peppermints [1995]. München: dtv ²1998 (Tb. 12449).

Mon, Franz: ainmal nur das alphabet gebrauchen. Stuttgart: edition hansjörg mayer 1967.

Mon, Franz: Herzzero. Neuwied, Berlin: […] 1968.

Mon, Franz: Zur Poesie der Fläche [1963], in: Franz Mon: Sprache lebenslänglich. Gesammelte Essays. Hrsg. von Michael Lentz. Frankfurt/M.: Fischer 2016, S.221-224.
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Backes, Michael: Experimentelle Semiotik in Literaturavantgarden. Über die Wiener Gruppe mit Bezug auf die Konkrete Poesie. München: Fink 2001.

Eder, Thomas / Neuner, Florian (Hrsg.): Dieter Roth. Zum literarischen Werk des Künstlerdichters. München: edition text + kritik, Boorberg 2021 (= neoAvantgarden, hrsg. von Hans-Edwin Friedrich und Sven Hanuschek).

Friedrich, Hans-Edwin / Hanuschek, Sven (Hrsg.): Reden über die Schwierigkeiten der Rede. Das Werk Helmut Heißenbüttels. München: edition text + kritik, Boorberg 2011 (= neoAvantgarden, hrsg. von Hans-Edwin Friedrich und Sven Hanuschek).

Kopfermann, Thomas (Hrsg.): Theoretische Positionen zur Konkreten Poesie. Texte und Bibliographie. Tübingen: Niemeyer 1974.

Kopfermann, Thomas: Konkrete Poesie – Fundamentalpoetik und Textpraxis einer Neo-Avantgarde. Frankfurt/M.: Lang 1981.

Kühn, Renate: Der poetische Imperativ. Interpretationen experimenteller Lyrik. Bielefeld: Aisthesis 1997 [zu Ernst Jandl, Paul Wühr, Friederike Mayröcker, Oskar Pastior u.a.].

Lentz, Michael: Laut-Poesie/-Musik nach 1945. Eine kritisch-dokumentarische Bestandsaufnahme.[1998]. 2 Bände. Wien: edition selene 2000 [materialreiches Standardwerk und Pionierarbeit]

Lentz, Michael: „Wir haben Sprache, und sie hat uns“. Zur Fundamentalpoetik der Essays von Franz Mon, in: Franz Mon: Sprache lebenslänglich. Gesammelte Essays. Hrsg. von Michael Lentz. Frankfurt/M.: Fischer 2016, S.632649.

Schenk, Klaus: Medienpoesie. Moderne Lyrik zwischen Stimme und Schrift. Stuttgart: Metzler 2000.

Und v.a. für den nächsten Themenkomplex wie gesagt:

Jahraus, Oliver: Die Aktion des Wiener Aktionismus. Subversion der Kultur und Dispositionierung des Bewußtseins, München: Fink 2001.

Dreher, Thomas: Performance Art nach 1945. Aktionstheater und Intermedia. München: Fink 2001.